Zwischen Sekten und Verschwörungstheorien gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Und natürlich gibt es sehr diverse Formen von Sekten und unterschiedliche Formen von Verschwörungstheorien. Nicht jede Gemeinsamkeit oder jeder Unterschied findet sich deshalb zwischen jeder Sekte und jeder Verschwörungstheorie. Es lohnt sich trotzdem, diese Punkte genauer anzuschauen:
Elf Parallelen zwischen Verschwörungstheorien und Sekten
1. Sinngebung
Menschen suchen in vielen Bereichen nach Sinn und finden ihn zum Beispiel in Religionen, in der Philosophie, in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Natur. Auch Sekten und Verschwörungstheorien können beide der Sinnfindung dienen. Das kann auf einer allgemeineren, abstrakteren Ebene geschehen und bietet dann zum Beispiel Antworten auf die Frage: «Warum geschehen schlimme Dinge guten Menschen?» («Why do bad things happen to good people?», nach Dieter Groh 1992). Damit kommt die alte Theodizee-Frage ins Gespräch. Die Sinnsuche kann sich aber auch auf einzelne Ereignisse beziehen, zum Beispiel auf einen Amoklauf, der für sich genommen keinen Sinn enthält, chaotisch und undurchschaubar erscheint. Hier kann eine Sinnzuschreibung via Verschwörungstheorie scheinbar Überblick und Orientierung verschaffen.
2. Einteilung der Welt in Gut und Böse
Sowohl für Sekten als auch für Verschwörungstheorien ist die Einteilung in Gut und Böse grundlegend. Diese Spaltung hat religiöse Wurzeln in der Gnosis und im Manichäismus.
3. Sündenbock-Funktion
Eng verwandt mit der Gut-Böse-Spaltung ist die Bewirtschaftung von Sündenböcken. Sie dienen der Stabilisierung der eigenen Gruppe (gemeinsamer Feind) und als Ausrede für eigene Misserfolge. Beides haben sowohl Sekten als auch Verschwörungstheorien nötig.
4. Heilserwartung für die Zukunft
Sekten und Verschwörungstheorien gehen oft davon aus, dass die Gegenwart zwar schlecht oder zu mindestens nicht optimal ist, dass eine bessere Welt aber kommen kann und wird. Diese Veränderung wird aber nicht Schritt für Schritt kommen, sondern als grosser Umbruch sehnlichst erwartet. Solche Ereignisse werden dann verbunden mit Vorstellungen von der Wiederkunft Jesu, vom Jüngsten Gericht, von der Ankunft von Ausserirdischen zur Abholung der Gläubigen oder vom grossen „Sturm“, der nach den Hoffnungen der QAnon-Sekte die Gegner von Trump hinwegfegen wird. Wir haben es hier mit religiösen Endzeitvorstellungen zutun. Siehe dazu: Apokalypse-Erzählungen in Verschwörungstheorien
5. Prophezeiungen
Mit den Heilserwartungen verbunden sind Prophezeiungen drüber, wann und wie der ersehnte Umbruch eintreten werde. Weil die zugrundeliegenden Vorstellungen kaum eine reale Basis haben, werden solche Prophezeiungen mit grosser Wahrscheinlichkeit fehlschlagen. In der Regel fällt beim Fehlschlagen einer Prophezeiung ein kleinerer Teil der Anhängerinnen und Anhänger ab, während ein grösserer Teil sich an Ausreden klammert und sich oft noch stärker radikalisiert.
Siehe dazu: Prophezeiungen, fehlgeschlagene.
6. Betonung der Gruppenidentität
Sekten und Verschwörungstheorien kapseln sich gegen aussen oft ab. Kontakte zur Aussenwelt werden kritisch gesehen und manchmal sogar ganz untersagt. Denn aussen lauert das Böse bzw. in Form des Teufels oder eben weltlicher Verschwörer. Die Abschottung ist bei manchen Sekten extrem und bei manchen Verschwörungstheorien eher durchlässig. Kontakte zur Aussenwelt dienen oft nur der Missionierung beziehungsweise dem Aufwecken der „Schlafschafe“.
7. Höherwertigkeit der eigenen Gruppe
Sowohl in Sekten als auch in Verschwörungstheorien kommt es oft zum Gefühl der Auserwähltheit oder Einzigartigkeit. Dazu trägt das „Redpilling“ bei, das die Überzeugung festigt, zu den „Aufgewachten“ zu gehören. Nicht dazugehörige Menschen und Gruppen werden abgewertet. Dies dient auch der Immunisierung gegen Kritik von Aussenstehenden. Sie muss nicht ernst genommen werden, weil sie sowieso zu erwarten ist zum Beispiel von „Ungläubigen“ oder von Experten, die von den Verschwörern gekauft wurden.
8. Teil von etwas Grösserem sein wollen
Die starke Vereinzelung von Menschen in modernen Gesellschaften schafft einerseits wertvolle Freiräume, nimmt aber auch Halt und Orientierung, weil die Einbettung in ein grösseres Ganzes schwächer wird oder wegfällt. Während früher Religionen und Ideologien den Menschen ihren Platz gaben, basteln sich moderne Menschen ihr Sinngebäude selber. Das ist alles andere als einfach, vor allem in Krisenzeiten. Sekten und Verschwörungstheorien bieten hier ein Instant-Angebot, ein mit Sinn und Heilserwartungen aufgeladenes Projekt, ein grösseres Ganzes, in das man sich integrieren kann.
9. Statusunsicherheit
Sowohl bei Sektenmitgliedern als auch bei Verschwörungstheoretikern fällt auf, dass sie sich oft aus Menschen rekrutieren, die einer Statusunsicherheit unterliegen. Sie empfinden zum Beispiel ihr soziales Umfeld als gefährdet oder erwarten einen Verlust des Arbeitsplatzes oder Ähnliches. Diese Befürchtungen können auch rein subjektiv sein und müssen nichts mit der Realität zu tun haben. Es geht dabei eher um die gefühlte Situation. Das heisst natürlich nicht, dass alle Mitglieder von Sekten oder alle Verschwörungsgläubigen einer Statusunsicherheit unterliegen. Es ist in diesen Gruppen eher eine Tendenz in diese Richtung feststellbar.
10. Offenheit für spannende Geschichten
Viele Sektenmitglieder und viele Verschwörungsgläubige lassen sich stark von spannenden Geschichten beeindrucken. Ob die Geschichten faktisch wahr sind, ist dabei oft sekundär. Gefragt ist eher eine gefühlte Wahrheit (= Truthiness) und eine Wahrheit, die zum eigenen „Stamm“ passt ( = Tribalismus)
11. Gefahr für demokratische Gesellschaften
Obwohl es auch harmlosere Varianten gibt, sind manche Sekten und Verschwörungstheorien gefährlich für demokratische Gesellschaften. Die Gefahr kann akut sein, zum Beispiel wenn die Anhängerinnen und Anhänger sich in Parallelwelten abschotten und Bürgerkriegsideen oder andere Gewaltfantasien köcheln lassen. Solche Konstrukte können aber auch relativ harmlos daherkommen und langfristig zersetzen wirken, in dem sie eine Verschwörungsmentalität fördern und damit das Vertrauen in demokratische Prozesse und Institutionen untergraben. Siehe dazu:
Warum sind Verschwörungstheorien eine Gefahr für demokratische Gesellschaften?
Verschwörungstheorien als Katalysatoren von Gewalt
Das sind elf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Sekten und Verschwörungstheorien. Natürlich gibt es auch mehr oder weniger stark aufgeprägte Unterschiede. Sekten sind oft geschlossener und stärker auf eine Führungsperson ausgerichtet als Verschwörungstheorien. Auch hier gibt es aber gegenteilige Beispiele.
Ausserdem gibt es Organisationen, in denen Sekten mit Verschwörungstheorien so vollgeladen sind, dass die beiden Begriffe quasi verschmelzen. Das zeigt sich beispielsweise bei der OCG von Yvo Sasek.
Quelle und Anregung zu diesem Text war folgendes YouTube-Video aus dem Kanal „Verschwörung & Fakten“:
Neue RELIGION: Verschwörungstheorie? Parallelen zw. Sekten + Verschwörungstheorien – Manson Family: