Verschwörungstheorien können (1) zu massiver Gewalt führen und (2) demokratische Institutionen und Gesellschaften zersetzen. Sie nehmen (3) den Menschen Macht weg und sind (4) demokratiepolitisch unproduktiv. Darum schaden Verschwörungstheorien der Demokratie.
(1) Verschwörungstheorien bildeten den Boden, auf dem die beiden grössten Katastrophen des 20. Jahrhunderts entstanden sind
Der Nationalsozialismus und der Stalinismus waren beide durchdrungen von Verschwörungstheorien Das allein schon belegt die Gefahr, die von Verschwörungstheorien ausgehen kann. Verschwörungstheorien können zu Gewalt führen, müssen es aber nicht. Die potenzielle Gewaltbereitschaft von Verschwörungstheorien entspringt ihrem manichäischen, dualistischen Weltbild: Die scharfe Trennung der Welt in ein Schwarz/Weiss-Schema bzw. in die beiden Lager von Freund/Feind, Gut/Böse und Wir/Sie ist ein wiederkehrender Bestandteil in verschwörungsmythologischem Denken.
Die Opferrolle, in die sich Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien oft hineinfantasieren, bietet zudem eine vermeintliche Legitimation für Gewaltanwendung. In ihrer Sichtweise wehren sie sich nur und schlagen allenfalls zurück. Tendenziell sind Verschwörungstheorien, die sich gegen Eliten richten, also gegen «die da oben», eher weniger gefährlich als solche, die auf Minderheiten zielen.
Weiteres zu diesem Thema auf Wikipedia: Verschwörungsideologien und Gewalt.
(2) Verschwörungstheorien zersetzen das Vertrauen in demokratische und rechtsstaatliche Institutionen.
Sie verbreiten ein generalisiertes, toxisches Misstrauen. Demokratie und Rechtsstaat ertragen und brauchen Kritik und es gibt ein gesundes Misstrauen gegenüber staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren. Sie beziehen sich auf konkrete Punkte (wer hat was wann wo getan?). Toxisches Misstrauen aus einer verschwörungsideologischen Haltung ist umfassend und überzieht alle Institutionen wie ein Grauschleier. Dadurch kommt es zum Rückzug aus demokratischen Prozessen. Wer alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Vorgänge durch eine geheime Verschwörerclique gesteuert sieht, verliert das Interesse an demokratischer Partizipation. Wozu sich einbringen, wenn sowieso alles von ihnen aufgegleist ist.
Wer glaubt, dass alles durch geheime Mächte im Hintergrund gesteuert ist, wird in der Regel nur noch sehr wenig Motivation dafür aufbringen, sich konstruktiv im demokratischen politischen Prozess zu engagieren. Verschwörungstheorien haben deshalb oft einen entpolitisierenden Effekt. Wer sich in konspiratorischem Denken verstrickt lenkt den Blick häufig so stark auf irgendwelche phantasierten Hintergründe, dass konkretes, praktisches Engagement in der Gesellschaft sich verflüchtigt. Dem könnte man mit Hannah Arendt entgegensetzen: Standnehmen in der Welt statt Weltentfremdung.
Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard schreiben:
„Werden Verdacht und Misstrauen so total und finden mehr Gehör als nur in kleinen Nischen, untergräbt das nicht nur Wissenschaft, Aufklärung und effektives politisches Handeln sowie die Lösung von Problemen. Es untergräbt auch die Demokratie selbst.“
Quelle:
„Postfaktisch – Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien“
Eine Studie von Forschenden der University of Western Australia hat zudem gezeigt, Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien dazu neigen, etablierte wissenschaftliche Theorien abzulehnen. Das kann zu individuelle Risikoentscheidungen beeinflussen, zum Beispiel bezüglich des Rauchens oder Impfungen, aber auch politische Entscheidungen in der Demokratie, zum Beispiel bezüglich Klimaschutz.
Die Willensbildung in der Demokratie kann durch Intransparenz und Lobbying immer wieder gefährdet werden. Die adäquate Antwort auf solche Probleme ist aber nicht verschwörungstheoretisches Geraune über nebulöse Mächte. Anstelle solcher Holzwege ist sehr viel sinnvoller die Stärkung von investigativem Journalismus und von Organisationen wie Transparency International.
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Selbsternannte ‘alternative’ Medien sind kein Ersatz für investigativen Journalismus. Sie halten sich in der Regel nicht an journalistische Standards und decken keine realen Missstände auf, sondern verbreiten überwiegend Unterstellungen und Verschwörungstheorien.
In den letzten Jahren verbreitet sich im Internet zunehmend ein neuer Typus der Verschwörungstheorien. Er kommt ohne grosse theoretische Konstrukte aus. Bei diesen Lightversionen von Verschwörungstheorien werden nur krude Behauptungen und tendenziöse Fragen ins Netz gestellt. Die Politikwissenschafter Nancy Rosenblum und Russel Muirhead nennen dieses gefährlich Phänomen «new conspiracism».
Es dient der Delegitimierung demokratischer Institutionen. Angegriffen wird gezielt die Glaubwürdigkeit von Menschen und Institutionen mit gesellschaftlich tragenden Rollen – also die freie Presse, Universitäten oder Regierungseinrichtungen. tragenden Rollen.
Gefährlich an diesen Lightversionen ist die Anschlussfähigkeit an breite Bevölkerungsschichten. Es braucht doch einen recht grossen Sprung aus der Wirklichkeit, um bei Chemtrails und der „Flachen Erde“ zu landen. Soweit geht nur eine Minderheit. Krude Behauptungen und tendenziöse Fragen lassen sich zu jedem Ereignis quasi in Echtzeit produzieren. Sie unterminieren Vertrauen in grösserer Breite und ihre Brisanz wird oft nicht erkannt.
Zum Thema „New Conspiracism“ hat Felix Simon in der NZZ einen sehr informativen Artikel publiziert: Die neue Art der Verschwörungstheorie: Es zählt die krude Behauptung
(3) Verschwörungstheorien nehmen den Menschen Macht weg
Anstelle von Ideologien bestimmen heute Verschwörungstheorien immer stärker die Politik. Sie
- erzeugen die neuen postideologischen Identitäten,
- bringen Demonstranten auf die Straßen,
- verbinden Politiker mit ihrer Gefolgschaft,
- beeinflussen den Ausgang von Wahlen und Abstimmungen.
Im Rahmen einer Ideologie lässt sich jedoch das politische Führungspersonal einfacher zur Rechenschaft ziehen als im Nebel von Verschwörungsfantasien.
In einer von Verschwörungsdenken geprägten Welt können sich Politiker aus der Verantwortung stehlen, indem sie die Schuld an ihren falschen Entscheidungen irgendwelchen unsichtbaren, angeblich übermächtigen Feinden zuschieben, die sich gegen sie verschworen haben. Eine Politik, die mit Verschwörungstheorien hantiert, ist gefährlicher als eine ideologisch motivierte Politik. Ideologien bringen Fanatiker hervor, zugleich jedoch auch Dissidenten. Im Gegensatz dazu produzieren Verschwörungstheorien keine Dissidenten, sondern Zombies, die nicht willens – oder zu bequem – sind, ihre politische Führung infrage zu stellen.
Manche Staaten verschanzen sich immer stärker in ihren nationalen Identitäten, die durch die Globalisierung aufgeweicht wurden. Sie stellen sich dar als belagerte Festungen. Die von den Regierungen verbreiteten Verschwörungstheorien dienen dann als Mauern gegen Informationen von außen, die der amtlichen Darstellung der Realität gefährlich werden könnten. So wird heute für manchen politischen Führer das Monopol auf Verschwörungstheorien als effektivste der modernen Propagandawaffen ebenso wichtig wie das staatliche Gewaltmonopol.
Alle diese Aspekte zusammen führen dazu, dass den Bürgerinnen und Bürgern Einfluss und Macht abhandenkommen.
(Quelle: Der paranoide Bürger, von Ivan Krastev)
(4) Verschwörungstheorien sind unproduktiv für die Demokratie
Verführerisch an Verschwörungstheorien ist unter anderem, dass sie unsere Fantasie beschäftigen. Sie bieten auch schillernde Erklärungen für das, was geschehen ist und wer Schuld daran hat, aber ihnen fehlt jede Zukunftsvision, jedes Konzept für eine Welt, in der wir leben wollen.
Wer seine Identität auf Verschwörungstheorien aufbaut, erstickt zudem jede Selbstkritik. Denn für alles was schiefläuft, sind sie verantwortlich, die Verschwörer. Da braucht es keine Reflexion darüber, was man selber besser machen könnte.
Wenn politische Zugehörigkeit in kollektiv geglaubten Verschwörungsmythen gründet, geht es den Menschen nicht mehr darum, die Wahrheit herauszufinden, sondern Geheimnisse aufzudecken. Die Idee der Wahrheit kann unseren gesunden Menschenverstand herausfordern. Nach der Wahrheit können wir selber suchen, das Geheimnis muss uns offenbart werden. Und damit es zu einem fesselnden Geheimnis wird, sollte es möglichst schockierend und überraschend sein.
Steht das Aufdecken von Geheimnissen im Zentrum, fordern sowohl Politiker als auch Bürger mehr Transparenz und wollen Regeln durchsetzen, die den Regierungen die Geheimhaltung erschweren. Paradoxerweise gelten dadurch Informationen immer dann als besonders glaubwürdig, wenn sie auf „Enthüllungen“ beruhen oder nicht öffentlich zugänglich sind.
So werden Menschen im Zeitalter der Transparenz misstrauischer denn je. Inzwischen gilt schon fast als naiv, wer seinen Augen oder Erfahrungen vertraut. Doch wenn wir unserem persönlichen Erleben nicht mehr trauen und das Offensichtliche übersehen und ausblenden, verlieren wir nicht nur unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen, sondern gefährden auch unser Urteilsvermögen.
(Quelle: Der paranoide Bürger, von Ivan Krastev)
Bessere Voraussetzungen für Verschwörungstheorien denn je
Die Menschheit hat wohl schon immer mit Verschwörungstheorien gelebt und überlebt. Für eine grosse, erfolgreiche Verschwörungstheorie braucht es aber effiziente Verbreitungsmöglichkeiten und ausreichend Menschen, die solche Informationen aufnehmen können. Die Erfindung des Buchdrucks um 1450 schuf deshalb gute Voraussetzungen für die ersten grossen Verschwörungstheorien.
Durch die sogenannten Sozialen Medien hat sich das Problem für die Demokratie markant verschärft. Erstens weil die Verbreitung von Verschwörungsmythen wesentlich leichter und schneller geht. Zweitens weil die Algorithmen von Plattformen wie YouTube und Facebook allgemein extremistische, polarisierende Inhalte begünstigen.
Wie sich Verschwörungsideologien eindämmen lassen, ohne dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, stellt für Demokratien deshalb eine hoch aktuelle Herausforderung dar. In Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit und schnellen Wandels steigt zudem die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien, die seit jeher ein probates Mittel zur Komplexitätsreduktion sind. Der aufkommende Populismus verstärkt diese Tendenz noch, weil er sich gerne verschwörungstheoretischer Argumentationsmuster bedient.
Siehe auch: