In Verschwörungstheorien spielen «Sündenböcke» eine bedeutende Rolle. Schliesslich geht es ihnen um die Dämonisierung von Minderheiten, Gruppen oder Einzelpersonen, denen die Schuld an unerwünschten bis gefährlichen Ereignissen und Entwicklungen in die Schuhe geschoben wird..
Die Formulierung «Schuld in die Schuhe schieben» macht bereits klar, dass Sündenböcke in Wirklichkeit unschuldig sind. Sie haben nichts mit den Ereignissen und Entwicklungen zu tun, für die sie verantwortlich gemacht werden – oder jedenfalls nicht in der Art und Weise, die ihnen unterstellt wird. Sündenböcke sind Opfer.
Der Begriff «Sündenbock» stammt aus der Bibel (Das Buch Levitikus, Kapitel 16). Der Sündenbock spielte bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 nach Christus) in der Liturgie des Großen Versöhnungstages (Jom Kippur) eine besondere Rolle. Am Jom Kippur erfolgte durch den Hohepriester die Bekanntgabe der Sünden der israelitischen Nation. Diese Sünden wurden durch Handauflegung auf einen per Los bestimmten Ziegenbock übertragen, der dann beladen mit diesen Sünden in die Wüste geschickt wurde. Symbolisch wurden damit die Sünden mitverjagd, was der jährlichen Versöhnung zwischen Gott und Mensch diente. Menschen in der Versammlung konnten ihre individuellen Sünden bekennen.
Entgegen der alltagssprachlichen Benutzung des deutschen Begriffs „Sündenbock“, der aus der Lutherbibel stammt, wird in der Ursprungsgeschichte nicht wirklich Schuld für Unglück oder gar Sünde dem Ziegenbock zugeschoben. Im Judentum sind Sünden nicht übertragbar oder vererbbar (im Gegensatz zur christlichen „Erbsünde“). Die ursprüngliche Vorstellung forderte das öffentliche Geständnis der eigenen Sünden. Die Sühne beginnt mit dem Sündenbekenntnis vor Gott und geschieht mittels moralischer Umkehr (zu Gott).
Verschwörungstheorien brauchen Sündenböcke
Sündenböcke sind ein strukturelles Element von Verschwörungstheorien. Taten brauchen Täter – und die Verschwörer sind immer an allem schuld. Die Akteure der Verschwörung – die «Lügenpresse», die Wissenschaftler, die Politiker, die Juden – sind aus Sicht der Verschwörungstheoretiker die Verantwortlichen und damit zur Rechenschaft zu ziehen.
Verschwörungsgläubige gründen ihr Denken allerdings nicht in Fakten, Nachweisen und logischen Zusammenhängen. Dieses antifaktische Denken hat Folgen. Es macht unter anderem Unschuldige zu Opfern. Denn es ist für Verschwörungsgläubige nicht entscheidend, ob die beschuldigte Person – der Sündenbock – die Tat auf wirklich begangen hat.
So kommt es zu absurden Sündenbock-Geschichten: George Soros zum Beispiel soll weltweit die Migration steuern und zusammen mit Angela Merkel den Grossen Austausch planen. Bill Gates soll uns mittels Impfungen einen Chip implementieren und damit die Weltherrschaft anstreben. Diese und viele andere Verschwörungstheorien sind komplett faktenfrei. Hier sieht man, dass das Sündenbockdenken auch den Rechtsstaat unterminiert. In der Geschichte der Rechtssysteme war es ein grosser zivilisatorischer Fortschritt, als sich die Wahrheitsfindung mittels Fakten durchsetzte. Das verhindert, dass das Recht des Stärkeren sich durchsetzen kann und entscheidet. Sündenbockdenken dagegen hat in der Geschichte nicht selten in Pogromen geendet. Ausserdem ist es an vielen Stellen widersprüchlich. So werden beispielsweise Juden als allmächtig fantasiert, gleichzeitig aber verfolgt und vernichtet. Wie können Menschen ausgerottet werden, die allmächtig sind und die heimliche Weltherrschaft innehaben?
Verschwörungstheorien können gefährlich werden. Ihre verzerrte Beschreibung der Wirklichkeit kann zu Taten und Opfern führen. Die vermeintlichen Verschwörer werden im Blick des Verschwörungsgläubigen derart zum Feindbild stilisiert und mit dem wesenhaft Bösen identifiziert, dass sie ihre Menschlichkeit verlieren. Wenn das erreicht ist, ist fast alles erlaubt. Opfer von Genoziden zum Beispiel werden in der Regel vorher entmenschlicht.
Sündenbockdenken kann Pogromen den Weg bereiten
Die Entlastungsfunktion, welche die Verschwörungstheorien durchaus besitzen, geht letztlich auf Kosten anderer. Die Verschwörungstheorie konstruiert einen Sündenbock für persönliches oder gesellschaftliches Unglück.
Alle Missgeschicke und das eigene Scheitern werden auf die angeblichen Verschwörer projiziert, die dafür die Verantwortung tragen sollen.
Paranoiker grenzen eher sich selbst aus der Gesellschaft aus. Verschwörungstheoretiker dagegen sind gefährlich, weil sie eine Pogromstimmung auslösen können. Für die Sündenböcke wird das rasch lebensbedrohlich.
Beispiele dafür sind die Juden im Dritten Reich (und früher), die angeblichen Hexen im Europa der frühen Neuzeit, aber auch noch im heutigen Afrika und in anderen Weltregionen.
Die Sündenbock-Gefahr wird dadurch verstärkt, dass die allermeisten Verschwörungstheorien zur Pauschalisierung neigen. Sie unterstellen meist, dass alle Mitglieder der Verschwörung den gleichen Anteil an der bewussten Bosheit ihrer Anführer haben.
Verschwörungsdenken neigt darüber hinaus zum Totalitarismus: Es fördert das Bewusstsein einer Bedrohung, die nur durch einschneidende Massnahmen abgewehrt werden kann: Wenige Böse beeinflussen entscheidend den Lauf der Geschichte. Darum müssen diesen Sündenböcken zwangsläufig übermenschliche, quasi dämonische Kräfte zugeschrieben werden.
Dadurch fühlen sich manche Menschen legitimiert, zu jedem Mittel zu greifen. Und sie verstehen sich selber dabei nicht selten als Helden, die gegen eine Übermacht kämpfen. Das drückt sich dann so aus, dass sie vor einem Attentat umfangreiche Pamphlete veröffentlichen (Beispiele: Breivik und der Attentäter von Hanau) oder ihre Tat live ins Internet streamen (Anschlag in Halle).
Quellen:
Wahrheit und Verschwörung, von Jan Skudlarek, Reclam 2019 (Buchbesprechung)
Wikipedia zum Thema Sündenbock
Die inoffizielle Wahrheit -Warum sind Verschwörungstheorien attraktiv? Von Harald Lamprecht, MATERIALDIENST DER EZW 3/2016
Siehe auch: