Im Verlauf der Geschichte zeigte sich immer wieder die immense Gewaltbereitschaft, die mit Verschwörungstheorien verbunden sein kann. Viele Verschwörungstheorien trennen die Welt radikal dualistisch in Gut und Böse, konstruieren Feindbilder und markieren Sündenböcke. Diese Elemente bilden einen Boden, auf dem sich Gewalt leicht entfalten kann.
Darüber hinaus fördern Verschwörungstheorien Gewalt, weil diese oftmals als Notwehr oder Verteidigung inszeniert und scheinbar legitimiert wird. Verschwörungsgläubige schaffen sich zuerst Sündenböcke, von denen sie sich dann bedroht fühlen. Daraus leiten sie das Recht oder gar die Verpflichtung ab, sich mit Gewalt gegen diese angeblichen «bösen Verschwörer» zu verteidigen.
Wikipedia fasst dieses Phänomen so zusammen:
«Tatsächlich liegt Gewaltausübung in der logischen Konsequenz von Verschwörungsideologien: Wenn die Bedrohung durch die als übermächtig vorgestellten Verschwörer so groß ist und wenn es aufgrund der ideologischen Selbstabdichtung keinerlei Mittel gibt, diese Phantasievorstellung zu widerlegen, dann muss – in dieser Vorstellungswelt – buchstäblich jedes Mittel recht sein, sich ihrer zu erwehren. Die Dämonisierung der Gegner, die Verschwörungstheorien mit sich bringen, legitimiert Gewalt ebenso wie der in mehreren gewaltbereiten Gruppen verbreitete Eindruck, die Außenwelt habe sich verschworen, sie zu vernichten.»
Der Eindruck einer Dringlichkeit dieser Gewalt kann sich verstärken, wenn Verschwörungstheorien apokalyptische Vorstellungen wecken. Der (eingebildete) nahende Endkampf zwischen Gut und Böse erhöht in den Vorstellungen der Verschwörungstheoretiker den Handlungsdruck.
Die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigten im Jahr 2019 einen signifikanten Zusammenhang zwischen einer „Verschwörungsmentalität“ und Gewaltbereitschaft: 23,9 % der befragten Personen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind demnach gewaltbereit, weitere 11,4 % billigen Gewalt. Die britischen Sozialwissenschaftler Jamie Bartlett und Carl Miller belegen in einer Studie des Thinktanks Demos, dass Verschwörungstheorien in verschiedenen extremistischen Gruppen, ob nun links, rechts, religiös oder andere, die Rolle eines „radicalizing multiplier“ spielen.
Damit ist ein radikalisierender Multiplikator gemeint, der die Gruppenidentität durch strenge Abschottung nach außen steigert, jegliche Kritik delegitimiert und dazu beiträgt, die Schwelle zur Gewalttätigkeit zu überschreiten. Die beiden Forscher weisen jedoch auch darauf hin, dass der Glaube an Verschwörungstheorien keine notwendige Bedingung für extremistische Gewalt ist: So gibt es gewalttätige Gruppen, in denen Verschwörungstheorien keine Rolle spielen, und es gibt Gruppen, die sich um eine Verschwörungstheorie sammeln, ohne dabei gewalttätig zu sein, wie zum Beispiel die Verschwörungstheorien von der Mondlandungs-Lüge und der Flachen Erde.
Beispiele für Gewalt durch Verschwörungstheorien
Verschwörungstheorien gehören als unerlässlicher Bestandteil zum politischen Extremismus. Sie fördern die Radikalisierung dieser Strömungen. Extremistische Gewalt ist deshalb oft verbunden mit Verschwörungstheorien. Aus Vergangenheit und Gegenwart lassen sich deshalb unzählige Beispiel finden für Gewalt, die durch Verschwörungstheorien katalysiert wurde. Hier eine Auswahl davon:
☛ Die beiden grossen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, der Nationalsozialismus und der Stalinismus, waren beide durchtränkt von Verschwörungstheorien. Die nationalsozialistische Verschwörungstheorie von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung hat 6 Millionen Jüdinnen und Juden das Leben gekostet. Und Stalin hat wegen seinen Verschwörungstheorien Millionen von Menschen erschiessen lassen und in den Gulag gesteckt.
☛ Die Verschwörungstheorie vom «Grossen Austausch» reduziert die politisch und ökonomisch komplexen Migrationsbewegungen auf einen gesteuerten Plan, auf die geplante Ersetzung der europäischen Bevölkerung durch muslimische Einwanderer. Diese aberwitzige, komplett unrealistische Vorstellung liegt Attentaten mit zahlreichen Opfern zugrunde, zum Beispiel in Utøya, Christchurch und Halle. Die Verschwörungstheorie von „Grossen Austausch“ ist aber auch immer wieder Ausgangspunkt für gewalttätige Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten. Sie geistert ebenso in vielen Köpfen von Parteien mit rechtsextremem Drall herum, was sich zum Beispiel gut beobachten lässt bei AfD und FPÖ.
Pizzagate & QAnon
☛ Die Pizzagate-Verschwörungstheorie unterstellt, dass in der Pizzeria Comet Ping Pong in Washington ein Kinderpornoring tätig sei, bei dem auch die Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton mitwirke. Am 4. Dezember 2016 drang der mit einem Gewehr vom Typ AR-15 bewaffnete Edgar Maddison W. in die Pizzeria ein, um die angeblich dort festgehaltenen und missbrauchten Kinder im Keller zu befreien. Er gab zwei Schüsse auf ein Türschloss und einen Computer ab. Nachdem der Mann nichts gefunden und festgestellt hatte, dass es dort keinen Keller gibt, ließ er sich widerstandslos festnehmen.
Verletzt wurde bei der Attacke glücklicherweise niemand, doch zeigt die Episode, wie durch Verschwörungserzählungen Gewalt getriggert werden kann. Kindsmissbrauch ist ein schlimmes Verbrechen, das starke Emotionen auslöst und offensichtlich dazu führen kann, dass jemand zur Waffe greift, auch wenn die ganze Geschichte ein reines Phantasieprodukt ist. Das unterstellte schlimme Verbrechen kann eine Selbstermächtigung zur Gewalt bewirken. Gewalt wird dann quasi getarnt als Rettungsaktion.
Ausserdem eignet sich die Unterstellung abscheulicher Verbrechen sehr gut zur Diffamierung politischer GegnerInnen. Siehe dazu: Welche politischen Interessen stehen hinter Verschwörungstheorien?
Die Fortsetzung der Pizzagate-Verschwörungstheorie zeigt sich in der QAnon-Verschwörungsideologie. In diesen Kreisen werden Vorstellungen geteilt, dass liberale Eliten in Bunkern und Höhlen Kinder gefangen halten und foltern, um ihnen die angeblich als Verjüngungsmittel genutzte Substanz Adrenochrom abzuzapfen. Hier nachzulesen in einem Originalzitat des Verschwörungsideologen Attila Hildmann.
☛ Die Verschwörungstheorie der «Lügenpresse» führt regelmässig zu Gewalt und Drohungen gegen Journalistinnen und Journalisten. Von Donald Trump wird diese Verschwörungstheorie auf die Spitze getrieben, wenn Medien und Medienleute als «Volksverräter» bezeichnet werden. Dieser Begriff ruft geradezu nach harter Bestrafung. Und weil Verschwörungsgläubige für diese Beschuldigung keine Belege haben und zudem oft weder Polizei und noch Justiz trauen (weil die auch zum «Tiefen Staat» gehören), liegt der Schritt zu Selbstjustiz nicht fern.
Massive psychische Gewalt nach Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School
☛ Der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School am 14. Dezember 2012 in Newton war eines der schlimmsten und grausamsten Schulmassaker in der Geschichte der USA. Insgesamt 20 Erstklässler im Alter von sechs und sieben Jahren sowie sechs Lehrer hatte der Attentäter Adam Lanza kurz vor Weihnachten an der Grundschule im amerikanischen Connecticut kaltblütig erschossen. Danach brachte er sich selbst um. Zweifel am Ablauf der abscheulichen Tat gibt es nicht. Die Polizei, das FBI, die Staatsanwaltschaft haben den tragischen Fall bis ins kleinste Detail ermittelt und dokumentiert. Die Fakten liegen klar auf dem Tisch. Das Motiv des Täters ist nicht bekannt.
Bis zu diesem Punkt sind keine Verschwörungstheorien sichtbar – im Gegensatz zu den Attentaten von Utøya, Christchurch und Halle. Verschwörungsgläubige in den USA und in anderen Teilen der Welt (auch in der Schweiz) behaupten aber bis heute, das Sandy-Hook-Massaker sei nur „großes Theater“ gewesen, „ein bühnenreifer Auftritt bezahlter Schauspieler“ und eine Inszenierung der Regierung von US-Präsident Barack Obama, um striktere Gesetze umzusetzen und am Ende das Land zu entwaffnen. Bezahlte «Krisenschauspieler» seien bei solchen Massakern in Aktion. Das ist eine ausgewachsene Verschwörungstheorie. Verbreitet wurde sie vor allem durch eine Infame Kampagne des Hasspredigers und Verschwörungsideologen Alex Jones.
In der Folge kam es zu massiven und langanhaltenden Beleidigungen und Morddrohungen gegen Eltern, die bei dem Massaker ihr Kind verloren hatten. Sie wurden öffentlich als Lügner und «Krisenschauspieler» diffamiert. Dabei handelt es sich zwar nicht um körperliche, sehr wohl aber um psychische Gewalt. Betroffenen Eltern wurde nachspioniert, sie wurden gefilmt und zur Rede gestellt. Die trauernden Eltern sollten Belege dafür liefern, dass ihr Kind tatsächlich getötet worden waren. Gedenkstätten für die Opfer des Massakers wurden verschandelt oder gestohlen. Dieser Psychoterror hatte zur Folge, dass Eltern sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und in eine überwachte Siedlung umziehen mussten.
Fazit: Nicht alle Verschwörungstheorien führen zu Gewalt. Aber ein erheblicher Teil der Verschwörungstheorien hat ein grosses Gewaltpotenzial.
Marie Peltier, Expertin für Verschwörungstheorien, bringt es auf den Punkt:
«Die Verschwörungstheorien sind ein bisschen wie der Motor des gewalttätigen politischen Klimas. Sie sind die Rhetorik, die der Gewalt ihre Ausübung erlaubt.»
(Quelle: NZZ am Sonntag, online 12. 6. 2021)
Quellen:
Artikel zu «Verschwörungstheorien und Gewalt» auf Wikipedia.
Leitfaden Verschwörungstheorien