In Verschwörungstheorien findet man viele Merkmale der religiösen Gnosis-Bewegungen aus der Zeit des frühen Christentums wieder. Wer diese Merkmale kennt, versteht Verschwörungstheorien und ihre Wirkungen besser. Charakteristisch für die Gnosis ist ein starker Dualismus mit dem Kampf zwischen Gut und Böse, sowie ein Erlösungsglaube.
Der Begriff Gnosis stammt aus dem Griechischen und bedeutet «höhere Erkenntnis» oder «Wissen».
Religionswissenschaftlich bezeichnet man als Gnosis, Gnostik oder Gnostizismus christlich geprägte religiöse Bewegungen aus dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. Gnostische Positionen fassten zum Teil in einigen Gemeinden des frühen Christentums Fuß, wurden jedoch vom Neuen Testament abgelehnt und die Gnosis entwickelte sich im 2. Jahrhundert zum theologischen Hauptgegner der frühen Kirche.
Im Verlaufe des 2. Jahrhunderts fand die zentrale Auseinandersetzung zwischen der spiritualisierenden Gnosis und einem durch die entstehende Grosskirche vertretenen institutionalisierten und dogmatischen Christentum statt, die schlussendlich zugunsten der Kirche entschieden wurde. Im 3. Jahrhundert war die Gnosis schon im Rückzug begriffen und schickte sich an, eine esoterische-mystische Unterströmung der ‘offiziellen’ christlichen Religion zu werden, deren Geschichte bis ins 21. Jahrhundert hinein verfolgt werden kann. Die von Rudolf Steiner (1861 – 1925) begründete Anthroposophie hat viele gnostische Anschauungen aufgenommen und gegenwärtigen spirituellen Bedürfnissen entsprechend abgewandelt. Es sind nicht zuletzt die gnostischen Elemente, die sowohl Esoterik als auch Anthroposophie mit Verschwörungstheorien verbinden.
Zwischen der Gnosis und der in unserer Zeit wieder sehr aktuellen Esoterik bestehen also enge Verbindungen. Die Gnosis entstand aus esoterischen Strömungen des Judentums und inspirierte die Esoterik und schlussendlich die Mystik des Christentums. Über abweichende jüdisch-christliche Gruppen, die sich arabischen Stämmen und damit auch deren neuer Religion anschlossen, fand sie ab dem 8. Jahrhundert Eingang bei Muslimen und beeinflusste die islamische und insbesondere die schiitische Religionsphilosophie und Mystik.
Die Gnosis enthält antijudaistische Strömungen, die im weiteren Verlauf sogar in der antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten wieder auftauchten. Rassentheoretiker nahmen seit dem 19. Jahrhundert das dualistische (siehe dazu weiter unten) gnostische Muster der Welterklärung wieder auf, ohne dass es vom Antijudaismus der Gnostiker zum Rassenantisemitismus des Nationalsozialismus greifbare historische Verbindungen gibt.
Die Gnosis besteht nicht aus einer einheitlichen Lehre. Charakteristisch für sie ist vielmehr ein Synkretismus, also eine Synthese oder Vermischung verschiedener religiöser und philosophischer Lehren. So verbinden sich in der Gnosis Elemente aus dem Urchristentum mit anderen antiken Religionen und Lehren. Das bekannteste Beispiel einer gnostischen Lehre ist wohl der Manichäismus, der Elemente aus Christentum, Zoroastrismus und Buddhismus miteinander verband. Während der Manichäismus zur nichtchristlichen Gnosis gezählt wir, gab es auch gnostische Gruppierungen innerhalb des Christentums.
Trotz aller Verschiedenheiten zeigen die gnostischen Lehren charakteristische Grundmerkmale, die sich mehr oder weniger deutlich auch in vielen Verschwörungstheorien wiederfinden. Aktuell ist die QAnon-Verschwörungsideologie dafür ein deutliches Beispiel. Um diese Zusammenhänge zu verstehen ist es nötig, charakteristische Merkmale der Gnosis zu kennen.
Merkmale der Gnosis
☛ Dualismus
Der Dualismus geht von zwei gegensätzlichen Prinzipien oder Mächten aus, die oft in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen oder Gegensätze bilden. Die Gnosis ist charakterisiert durch Gegensätze wie Gut und Böse, göttlichem Licht und teuflischer Finsternis, Wissen und Nicht-Wissen. Konkret zeigen sich diese Dualismen auf unterschiedlichen Ebenen.
Dualistische Welterklärung:
Die Gnosis bietet eine dualistische Erklärung der Weltentstehung (Kosmologie). Ihr zufolge gibt es zwei Gottheiten: Einen bösen Schöpfergott (Demiurg), der die Welt erschaffen hat, und einen guten Erlösergott. Im Gegensatz dazu war nach dem Schöpfungsbericht der Juden (Gen 1,1) diese Welt keine teuflische Veranstaltung, sondern gut. Mehrere gnostische Bewegungen münzten deshalb den jüdischen Gott Jahwe zum Herrscher der Finsternis um – und die Juden zu seinen Dienern. Die Vorstellung der Juden als Teufelsanbeter und Diener des Teufels war ein bedeutender Antreiber für die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden.
Die dualistisch geprägte Weltentstehung der Gnosis wirkt sich aus auf die Vorstellungen über die Qualität der Welt, die negativ bewertet wird.
Im Gegensatz zu den Gnostikern waren die antiken Griechen weltverklärende Pantheisten: Das physische Weltall war für sie ein der bewundernden Betrachtung würdiger Gott (griech. «Kosmos» = Schmuck, Weltordnung). Der Kosmos ist ein beständiger und selbstgenügsamer Harmoniezusammenhang, in dem alles wohlgefügt und wohlgeordnet ist. Für diese Sichtweise charakteristisch ist eine Grundhaltung der Weltbejahung und des Weltvertrauens. Der Welt wird ein positiver Wert zugeschrieben (im Gegensatz zur wertneutralen Sicht auf die Welt in der modernen Wissenschaft). Auch in der spätantiken Gnosis ist das physikalische Weltall nicht wertneutral. Gegenüber den antiken Griechen wechselt aber das Wertvorzeichen ins Negative. Die Gnostiker betrachten die Welt als etwas Dunkles, Dämonisches und Schlechtes. Die Welt wird der Hoheit ihrer Göttlichkeit und Vollkommenheit entkleidet. Sie ist als das Finstere nun das Gegengöttliche. Charakteristisch für diese gnostische Sichtweise ist eine Grundhaltung der Weltverneinung und Weltangst. An der Stelle vormaliger Weltpositivierung tritt nun Weltnegativierung.
Doch in der Gnosis wechselt der Kosmos nicht nur seine Wertvorzeichen. Er verliert darüber hinaus seine Beständigkeit und wird zu etwas Vergänglichem. Dazu kommt noch ein spezieller Dualismus. Während für die antiken Griechen der bewundernswürdige Kosmos bereits das Ganze war, ausser dem es sonst nicht gab, unterscheiden die Gnostiker zwischen einem Jenseits und einem Diesseits. Das Diesseits ist für sie das finstere Weltall. Dem steht ein jenseitiges Reich des Lichts gegenüber – als Sphäre des Göttlichen. Die Unterscheidung zwischen dem Reich der Finsternis und dem Reich des Lichts entspricht die Unterscheidung zwischen einem Schöpfergott und einem Erlösergott. Diese beiden Gottheiten sind in der Gnosis nicht identisch. Die finstere Welt verdankt ihre Existenz dem bösen Schöpfergott. Ihm steht im Reich des Lichts der gute Erlösergott gegenüber. Der Mensch gehört eigentlich zum Reich des Lichts, ist jedoch in das Reich der Finsternis gefallen. Der Erlösergott weist ihm den Weg zurück ins Licht.
In diesem gnostischen Weltbild ist ein Gut-Böse-Dualismus fest verankert. Gut und Böse stehen sich als Prinzipien fundamental gegenüber und befinden sich im Kampf gegeneinander.
Dualistische Mensch-Erklärung:
Die Gnosis vertritt auch eine dualistische Anthropologie ( = Lehre vom Menschen). Im 2. Jahrhundert sind bei den Gnostikern im Gegensatz zur sich organisierenden Grosskirche keine institutionellen Strukturen und kaum gemeinschaftsfestigende kultische Gewohnheiten feststellbar. Ihr eigenes Profil gewannen die Gnostiker dadurch, dass sie für sich selbst in Anspruch nahmen, «Pneumatiker», d. h. Geistmenschen, zu sein, die Zugang zu höchstem Wissen haben. Auf die nichtpneumatischen Gemeindemitglieder, die sie «Psychiker» nannten, schauten die Pneumatiker mit ziemlicher Arroganz herab. «Psychiker» sind «Seelenmenschen», d. h. Menschen, die gemäß den Bedürfnissen und Begierden der Seele leben und deshalb schon in mancher Hinsicht für die gnostische Botschaft zugänglich sind.
Wir sehen hier also eine Aufteilung der Menschen in zwei Klassen: Die erleuchteten Lichtmenschen und die Menschen der Finsternis. Allerdings gab es in der Gnosis noch die »Hyliker« (Stoffmenschen), das sind Menschen, die noch ganz dem Leiblichen verfallen sind und nicht oder noch nicht erlöst werden können.
Im Johannesevangelium trifft man wie in anderen frühen Spielarten der Gnosis auf einen Abstammungsdualismus. Jesus beschuldigt dort die Juden, Kinder des Teufels zu sein (Joh 8,44). Im Johannesevangelium startet Jesus seine judenfeindliche Rhetorik mit der Feststellung, dass die Juden in Abrahams Ahnenlinie stehe. Anschliessend jedoch erklärt er ihre Abrahamskindschaft als verwirkt, weil sie ihn, Jesus, nicht anerkennen (Joh 8,37-41). Der Jesus des Johannesevangeliums grenzt also nun von sich aus die Juden von seiner Gemeinschaft ab und nimmt anschliessend für Letztere Abraham und unversehens sogar auch Gott in Anspruch.
Jesus schreibt sich selbst der Sphäre des «Lichts» zu, des «Oben», den Juden jedoch diejenige der «Finsternis», der «Sünde», des «Unten» und die «dieser Welt» (Joh 8,12ff.). Diese Dualismenbildung eskaliert schlussendlich, wenn Jesus erklärt, dass nicht Gott, der ihn, Jesus, gesandt habe, der Vater der Juden sei, sondern der Teufel (Joh 8,44). Solche Stellen tragen über lange Zeit zum Antijudaismus und zur Verfolgung von Juden bei. Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Juden ist jedoch ambivalent. Im Gegensatz zu den erwähnten Diffamierungen wird Jesus ausdrücklich als Jude dargestellt (Joh 4,9) und grundsätzlich festgestellt: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22).
Dualismus in Verschwörungstheorien:
Ein starker Dualismus gehört als Merkmal zu vielen Verschwörungstheorien.
So findet sich zum Beispiel die Annahme, dass es eine böse, satanische Elite heimlich die Geschicke der Welt führt. Bill Gates, Angela Merkel, Barack Obama, die Rothschilds, George Soros, die Juden allgemein, das englische Königshaus, der Papst oder wer auch immer das sein mag. Diese Menschen und Mächte werden allerdings nicht direkt mit einem bösen Gott identifiziert. Ihnen werden jedoch eindeutig göttliche Attribute zugeschrieben: beispielsweise Allmacht (bisher zumindest konnten sie im Geheimen die Welt regieren), Allwissenheit (alles ist geplant), sowie Allgegenwart (überall in den Zentren der Macht sitzen sie).
Ein gutes Beispiel für Dualismus in Verschwörungstheorien ist Donald Trump, der als Lichtgestalt und Erlöserfigur der QAnon-Anhänger für die Befreiung von Kindern kämpft, die von bösen Eliten gefangen und gefoltert werden, und der kraftvoll gegen den «Deep State» antritt. Der Kampf zwischen Gut und Böse ist ein Kernelement vieler Verschwörungstheorien.
Und was in der Gnosis die erleuchteten «Pneumatiker» und die unwissenden «Psychiker» sind, heisst bei Verschwörungsgläubigen «Die Aufgewachten» und die «Schlafschafe».
☛ Die Überzeugung von der Schlechtigkeit der Welt
Der Gnostiker glaubt, dass die Übel in der Welt darauf zurückzuführen sind, dass die Welt wesensmässig schlecht organisiert ist. Sie sind mit ihrer Situation unzufrieden. Es wäre aber auch eine andere Interpretation möglich, nämlich dass die wesensmässige Organisation der Welt gut sei und das Schlechte und Böse daherkomme, dass wir Menschen unzulänglich sind (das ist eine christliche Interpretation). Für Gnostiker ist dagegen klar: Wenn in der Welt etwas nicht so ist, wie es sein sollte, dann liegt der Grund dafür in der Schlechtigkeit der Welt.
Die verschwörungstheoretische Überzeugung von der Schlechtigkeit in der Welt:
Verschwörungstheoretiker gehen zwar nicht zwangsläufig davon aus, dass die Welt wesensmässig schlecht ist. Sie sehen das Böse konzentriert bei den von ihnen definierten Verschwörern. Während der Rest der Menschen und vor allem sie selbst zu den Guten gehören.
☛ Versprechen und Vision einer endzeitlichen Erlösung (Soterologie) für die Auserwählten, und Verderben für die anderen
In der Gnosis herrscht zwischen dem Reich des Lichtes und dem Reich der Finsternis ein unerbittlicher kosmischer Kampf, der schlussendlich in der vollständigen Trennung und damit die Vernichtung des Reiches der Finsternis endet. Denn in der Vermischung der beiden Prinzipien Licht und Finsternis liegt das Grundübel, der Kern alles Leidens. Entstanden ist die Vermischung dadurch, dass die Finsternis Lichtpartikel in leidvoller Gefangenschaft festhält, auch in den Menschenseelen. Die Finsternis konnte diese Lichtpartikel vor der Schöpfung der materiellen Welt kapern. Der Schöpfergott (Demiurg), als Macher der materiellen Welt, hatte damit seine Schöpfung belebt. Denn der Schöpfer der materiellen Welt ist wie schon erwähnt nicht identisch mit dem Vater des Alls (dem Erlösergott), aus dem alles Leben und alles Gute herausgeflossen ist.
Der Schöpfergott der real vorfindlichen Welt ist vielmehr ein letztlich unwissender Technokrat, der die geistige Tiefe des Lebens nicht zu erkennen vermag und dereinst mit dem Reich der Finsternis untergehen wird. Die Erlösung besteht im Kern darin, dass der gütige, allwissende Vater des Alls, der Erlösergott, einen »Anruf« oder »Gesandten« ausschickt, der die in den Menschenseelen gefangenen und schlafenden Lichtpartikel aufweckt, so dass sie sich ihrer Herkunft, ihrer Gefangenschaft und ihrer Aufgabe erinnern und sich auf den Heimweg zum Alleinen machen.
Der Gnostiker glaubt also, dass Erlösung von den Übeln der Welt möglich ist. Aus der schlechten Welt muss historisch eine gute Welt gemacht werden. Diese Änderung der Seinsordung der Welt hat Erlösungscharakter und ist dem Menschen durch eigenes Handeln möglich.
Diese Interpretation ist nicht ganz selbstverständlich, denn als Alternative könnte zum Beispiel auch die christliche Antwort gelten, wonach die Welt in ihrem Wesen so bleibt, wie sie ist, und dass die erlösende Vollendung des Menschen durch Gnade im Tod und im Jenseits erfolgt.
Endzeitliche Erlösung in Verschwörungstheorien:
Verschwörungstheorien bieten in verschiedenen Varianten «endzeitliche Erlösung» an. Auf den Tag der Amtseinsetzung von Joe Biden als US-Präsident fantasierten QAnon-Anhänger und -Anhängerinnen den grossen Tag der Wende herbei: Das Militär wird einschreiten und die führenden Demokraten und andere Feinde Trumps vor laufenden Fernsehkameras verhaften. Alles Böse wird so eliminiert und Trump als Heilsbringer wieder eingesetzt. Man muss nur die böse Elite (also die satanische Macht) beseitigen und dann bricht der umfassende Friede aus. Da stellt sich die Frage, was Menschen zu tun bereit sind, um diese Vision zu verwirklichen. Diverse durch Verschwörungstheorien mitbegründete Amokläufe gab es ja bereits, die aus Sicht der Attentäter das Böse eliminieren sollten. Und gibt es in Verschwörungstheorien nicht «Anrufe» von angeblich Aufgewachten, mit denen die angeblich gefangenen und schlafenden Menschenseelen der «Schlafschafe» aufgeweckt werden sollen?
Insgesamt ist die Vorstellung, dass nach der endzeitlichen Eliminierung alles Bösen das Reich des Friedens ausbricht, reichlich naiv. Daran kann nur glauben, wer das ihm selbst innewohnende Potential zum Bösen aus seinem Bewusstsein verdrängt und es ganz den vermeintlichen Erzbösewichten in die Schuhe geschoben hat. Das Problem des Bösen lässt sich nicht beseitigen, wenn man bestimmte Menschengruppen eliminiert. Schon gar nicht, wenn man dazu selber böse vorgeht. Das Beispiel der Nazis zeigt, welche furchtbaren Folgen solche Ansätze haben. Die Nazis kann man deshalb auch als politische Spielart der Gnosis betrachten.
☛ Rezepte zur Selbst- und Welterlösung & Missionarismus
Wenn es möglich ist, die vorgegebene schlechte Seinsordung der Welt zu verändern, dann ist es die Aufgabe des Gnostikers, das Rezept zu dieser Veränderung zu erforschen. Sein Anliegen ist es deshalb, solche Rezepte zur Selbst- und Welterlösung zu entwickeln. Dazu kommt eine grosse Bereitschaft des Gnostikers, als Prophet aufzutreten und sein Erlösungswissen der Menschheit zu verkünden.
Rezepte zur Selbst- und Welterlösung & Missionarismus in Verschwörungstheorien:
Die Rezepte der Verschwörungstheoretiker zur Selbst- und Welterlösung drehen sich alle um die Aufdeckung, Entfernung und Liquidierung der angeblichen Verschwörer. Und der Auftritt als wissender Prophet («Aufgewachter») gehört zum Repertoire vieler Verschwörungstheoretiker. Ihren Missionarismus toben sie vor allem im Internet aus.
Rezepte zur Welt- und Selbsterlösung produzieren und verkaufen auch Esoterikerinnen und Esoteriker, inklusive einem mehr oder weniger starken Missionarismus.
☛ Der Glaube an eine Erlösergestalt, welche die Gnostiker in die Wahrheit und ins Heil führt.
Bei den christlichen Gnostikern ist Jesus Christus die Erlösergestalt. Im Manichäismus gibt es eine Kaste der Gurus („electi“), die ihre Hörer („auditores“) in die Geheimnisse der Lehre einführen.
Erlösergestalten in Verschwörungstheorien:
Als gegenwärtige «Erlösergestalten» in Verschwörungstheorien stehen vor allem Influencer in den sozialen Medien im Vordergrund. Das sind Figuren wie Oliver Janich, Attila Hildmann, Michael Wendler, Xavier Naidoo, Coach Cecil, Ken Jebsen, Daniele Ganser oder Christina von Dreien. Auch sie „erlösen“, indem sie angeblich Menschen ins Licht, in die Wahrheit führen. YouTube Videos sind das bewährteste «Lehrmittel» – und wie in der Gnosis kann man beliebig tief einsteigen. Eine weitere Erlösergestalt ist Q, der anonyme „Informant“ der QAnon-Bewegung, der wiederum Donald Trump als Kämpfer des Lichts und als Erlöser stilisiert.
☛ Komplexe Mythen für Insider
Die Gnosis enthält vielfältige Mythen, ohne konkrete Hinweise auf ihr historisches oder soziales Umfeld. Dazu gehören zum Beispiel der Mythos vom Fall der Seele in die Finsternis und ihr Wiederaufstieg sowie der Mythos von der Erschaffung der Welt durch den schlechten oder unfähigen Demiurgen.
Mythen in Verschwörungstheorien:
Auch Verschwörungstheorien sind oft geprägt durch Mythen, wodurch es in diesen Fällen auch angemessen sein kann, von Verschwörungsmythen zu sprechen. Ein Beispiel ist die Geschichte von QAnon, wonach böse Eliten in Tunnels und Bunkern Kinder gefangen halten und foltern, um ihnen das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom abzuzapfen. Und die Licht- und Erlösergestalt Donald Trump kämpft darum, diese Kinder zu befreien. Der Verschwörungsideologe Attila Hildmann hat diesen Mythos so zusammengefasst:
«Es tobt ein Krieg zwischen der Spezies (keine Menschen) der Kinderfresser Soros, Bill Gates, Henry Kissinger, Clinton etc und ihren Regierungsschergen Merkel, Kurz (AT) und co. Diese haben auf ihrem Programm Reduktion der Weltbevölkerung auf 500 Mio Menschen = – 90%……
Auf der guten Seite kämpfen 100.000 US-Soldaten in den Bunkern unter Europa um die Kinder aus den Händen der Pädophielen zu befreien. Diese Aktion läuft weltweit und wir dankenswerter Weise von Donald Trump, Putin und Xi gesteuert.» (Vollständiger hier).
Auch dieser Mythos enthält ausser der Lokalisation «Europa» keine konkreten Hinweise darauf, wo sie anzusiedeln ist. Entscheidende Glaubwürdigkeit für diese Erzählung bieten nicht die „Fakten“, sondern die Überzeugungskraft des Mythos. Zudem greift der QAnon-Mythos die alte, antisemitische Legende vom jüdischen Ritualmord wieder auf.
Elemente der Gnosis als Gefahr für Demokratien
☛ Gnostische Elemente in einer Verschwörungstheorie fördern die Radikalisierung einer Bewegung. Wer die Vorstellung hat, durch Eliminierung des angeblich Bösen zur Erlösung zu gelangen und das Paradies auf Erden zu schaffen, greift letztlich vielleicht auch zur Gewalt. Das zeigt sich zum Beispiel an der QAnon-Bewegung und ihrer Beteiligung am Sturm auf das Kapitol, aber auch bei Attentaten in Christchurch, Utøya, Halle und Hanau, die alle verschwörungstheoretisch unterlegt waren.
☛ Gnostische Haltungen bieten Anknüpfungspunkte zum Antisemitismus, wie dieser Beitrag schon gezeigt hat.
☛ Gnostische Einflüsse können den Rückzug aus Gemeinschaft und Politik fördern. Dazu hat sich Micha Brumlik in einem Interview geäussert:
Nach der jüdisch-christlicher Tradition ist das bevorzugte Gegenüber Gottes ein Volk oder eine Gemeinschaft. Subjekt der Gnosis ist dagegen die Seele des einzelnen Menschen. Das Schwinden traditioneller Bindungen wirft die Menschen immer stärker auf sich selbst zurück. Der Traum gnostischer Selbstverwirklichung wird in dieser Situation schnell zur Weltanschauung der Wahl.
Judentum und Christentum dagegen basieren wesentlich auf dem Gedanken des Bundes. Die Gnostiker kommen vollständig ohne diesen Gedanken aus, weil sie ja der Überzeugung sind, dass ihre eigene Seele selbst göttlich ist. Alles dreht sich deshalb darum, die eigene verbannte, verlorengegangene göttliche Seele nach Hause zu bringen. Das lässt sich durch Exerzitien erreichen, durch Askese, durch Fasten, unter Umständen durch Orgien. Eine Gemeinschaft jedoch, in der Menschen untereinander Gerechtigkeit auf der Erde suchen oder gar darum kämpfen, benötigt man dazu nicht mehr. Deshalb ist die Gnosis die Religion für den Zeitgeist schlechthin und prägt auch stark die Esoterik.
Judentum und Christentum betrachten die Welt einerseits mit grosser Dankbarkeit dafür, daß sie überhaupt besteht. Sie sind andererseits aber auch zutiefst überzeugt, daß die Menschen gleichwohl in dieser Welt fehlbar sind und sich irren können. Darum sind auch beide davon überzeugt, dass die Menschen sich jederzeit vor ihren Mitmenschen und vor Gott für ihre Taten rechtfertigen müssen. Diese Gedanken bleiben den Gnostikern sehr fremd. Sie glauben, dass sie unzweifelhaft wissen können, wie man sich richtig verhält. Die Gnosis zielt deshalb immer auf eine Selbstvergöttlichung und Spiritualisierung des Menschen. Daraus schöpft sie ihre verführerische Faszination.
Das ist darum gefährlich, weil die Zuwendung zum Heil der eigenen Seele und die Suche nach einer Gottesschau den Rückzug aus Gemeinschaft und Politik fördert. Wer sich dieser spiritualistischen und spirituellen Haltung ganz und gar überlässt, wird zum reinen Privatmann oder zur reinen Privatfrau. Diese Privatperson, die sich aus öffentlichen-politischen Angelegenheiten heraushielt und keine Ämter wahrnahm, auch wenn ihr dies möglich war, nannten die antiken Griechen «idiotes».
☛ Gnostische Haltungen können aber nicht nur zum Rückzug aus Gemeinschaft und Politik führen. Die Verabsolutierung des gnostischen Wissens kann auch den demokratischen Austausch blockieren, wenn gnostische Tendenzen in politische Prozesse einfliessen. Harald Strohm schreibt dazu in seinem Buch «Die Gnosis und der Nationalsozialismus» (2005, S. 168):
«Gnosis, als das Wissen aus einer anderen Welt, will als absolute Wahrheit verstanden werden. Wer sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt, kann andere, ihr widersprechende oder sie auch nur relativierende Wahrheiten nicht tolerieren. Rechthaberei statt Lernbereitschaft, Arroganz statt Austausch, Fanatismus statt Versöhnlichkeit sind die Konsequenzen solcher Vermessenheit. Blut mußte daher immer wieder den heuchlerischen Puder der Sanftmut einfärben: Märtyrerblut hier, Schlachtenblut der Grals- und Kreuzzüge dort. Die Spur beginnt in der Antike, und ihre bislang letzten Opferkulte waren der Nationalsozialismus und der Marxismus.»
☛ Wie gefährlich gnostische Elemente in der Politik sein können, zeigt sich am Beispiel des Nationalsozialismus. Strohm bringt das kurz und knapp auf den Punkt: «Die – neben dem Marxismus – mächtigste und folgenschwerste gnostische ›Bewegung‹ des 20. Jahrhunderts war der Nationalsozialismus.»
Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Berührungspunkten zwischen der Gnosis und der Ideologie des Nationalsozialismus.
Beispiele:
– Adolf Hitler als Erlöserfigur: Michael Ley schreibt, Hitler sehe sich als »den Messias militans, nicht als leidenden Messias« (Ley 1995, zit. n. Sonnenschmidt). Laut Claus-Ekkehard Bärtsch war Adolf Hitler für Joseph Goebbels »ein zweiter Christus« (Bärsch 1995), dessen »Wille zur Erlösung […] die Vernichtung der personifizierten Verhinderer der Erlösung zur Folge« (Bärsch 1995) hatte. Das bestätigt ein weiteres Mal den gnostisch-dualistischen Charakter der nationalsozialistischen Ideologie (vgl. Bärsch 1995).
– Die Vorstellung eines Kampfes zwischen Gut und Böse: Ley betont den gnostischen Charakter der nationalsozialistischen Ideologie bzw. der »Weltanschauung« Hitlers:
»Hitler sieht sich in einen gewaltigen Kampf verstrickt, dessen Dimensionen kosmische Züge aufweisen. Die Juden sind der Antichrist, der die Welt vollständig beherrschen will. Deshalb steht ein apokalyptischer Endkampf zwischen diesen beiden Mächten bevor. Er sieht die Juden als Unheilsbringer in einem gewaltigen apokalyptischen Drama […]« (Ley 1995, zit. n. Sonnenschmidt). Durch die Vernichtung des »bösen Prinzips«, das der nationalsozialistischen Ideologie gemäss in der Gestalt des Juden erscheint, wird die handfeste Absicht offenkundig, das »Letzte«, die »Erfüllung«, die »Vollendung« (Vondung 1988, zit. n. Sonnenschmidt) zu erreichen. Dabei wird die schlechte Welt in den apokalyptischen Abgrund gerissen, wodurch sich der Wunsch nach Weltvernichtung erfüllt, der sowohl in der Gnosis als auch im Nationalsozialismus zu finden ist.
– Antisemitismus: Wie schon erwähnt nimmt der Nationalsozialismus einen gnostisch geprägten Antijudaismus wieder auf. Die Eliminierung der Juden gilt den Nationalsozialisten als Heils-Notwendigkeit. Der Weg zum „Heil“ geht über die Vernichtung. Die Verteufelung der Juden geht also bis auf die Gnosis zurück. Der gnostische Kampf findet statt zwischen dem Licht (dem Arier) und der Finsternis (den Juden).
– Gnostische Reinheitsvorstellungen: Reichsführer SS Heinrich Himmler hat am 4. und 6. Oktober 1943 in Posen zwei Reden vor SS-Offizieren gehalten, in denen er auch auf die damals stattfindende Vernichtung der europäischen Juden einging. Zitat:
«Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.»
Micha Brumlik kommentiert diese Aussage so:
«Die bizarre Vorstellung, daß man seine innere Reinheit sogar bei den größten Verbrechen unbefleckt erhält, daß man zwar Juden umbringen darf, wenn man sich nur nicht an ihrem Kleingeld vergreift, ist ein geradezu typisches Beispiel dieses Reinheitsmotivs, das zweifelsohne in einer pervertierten Form aus der Gnosis übernommen wurde. Himmlers biographischer Hintergrund waren deutsch-völkische Sekten, in deren pseudowissenschaftliche und biologistische Weltanschauung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auch gnostisches Gedankengut eingewandert war. Danach konnte er die Juden nur noch als Ausdruck böser kosmischer Mächte verstehen, mit denen ein Kompromiß überhaupt nicht mehr denkbar war.»
– Ein Beispiel dafür, in welche Verirrungen es führen kann, wenn nationalsozialistische Ideologie, Esoterik, Antisemitismus, Verschwörungstheorien und gnostische Vorstellungen zu einem Konstrukt verschmelzen, zeigt die Biografie von Miguel Serrano (1917 – 2009). Der chilenische Diplomat ist als Antisemit, Holocaustleugner und Propagandist eines «esoterischen Hitlerismus» bekannt geworden. Er gründete eine gnostische Religion auf der Basis eines manichäischen Dualismus.
Fazit:
Gnostische Tendenzen in Politik und Gesellschaft, wie sie auch von vielen Verschwörungstheorien transportiert werden, sind gefährlich. Sie fördern Polarisierung und Radikalisierung, was in Gewalt münden kann und demokratische Entwicklungen blockiert. Für Verteidigerinnen und Verteidiger von Demokratie und Rechtsstaat stellt sich deshalb die Frage, was es braucht, um solchen gnostischen Tendenzen den Boden zu entziehen.
Quellen:
Gnosis – eine Einführung, von Julia Iwersen, Junius Verlag 2001
Hans Blumenberg – zur Einführung, von Franz Josef Wetz, Junius Verlag 1993
Der Gottesmord, von Eric Voegelin, Fink Verlag 1999
Die Gnosis und der Nationalsozialismus, von Harald Strohm, Alibri Verlag 2005
«Politik der Volks-Gemeinschaft: Nationalsozialismus als moderne Gnosis», von Reinhard Sonnenschmidt; in: Janine Böckelmann / Claas Morgenroth (Hgg. 2008): Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart; Bielefeld; transcript Verlag.
Bärsch, Claus-Ekkehard (1995): Der junge Goebbels. Erlösung und Vernichtung, München: Boer. (Zitate daraus nach Sonnenschmidt).
Warum ist die Gnosis immer noch gefährlich, Herr Brumlik? In: Materialdienst EZW, 56. Jahrgang 1. April 1993, Interview mit Micha Brumlik, S. 106
Inwiefern birgt eine gnostische politische Religion ein großes Risiko für Demokratien? Artikel von Claudia Simone Dorchain (The European)
Weltverschwörung mit religiösen Zügen, Blog «Erdsalz» von Ralf Altebockwinkel
Beitrag zu «Gnosis» auf Wikipedia.
Beitrag zu «Soterologie» auf Wikipedia.
Beitrag zu «Posener Reden» auf Wikipedia.
Ausserdem:
Zum Manichäismus gibt es hier einen ausführlicheren Artikel:
Manichäismus & Verschwörungstheorien
Und hier ein umfassenderer Beitrag zu religiösen Elementen in Verschwörungstheorien:
Religiöse Elemente in Verschwörungstheorien – woran sind sie erkennbar?