Verschwörungstheorien können als Versuch einer Verweltlichung der Theodizee-Frage aufgefasst werden. Die Theodizee-Frage befasst sich mit der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt.
Es handelt sich um eine klassische Frage der christlichen Theologie.
Gemeint sind verschiedene Antwortversuche auf die Frage, wie das Leiden in der Welt mit der christlichen Annahme eines gütigen und zugleich allmächtigen Gottes zu vereinbaren sei.
Konkret geht es um die Frage, wie ein Gott das Leiden unter der Voraussetzung zulassen kann, dass er zugleich die Omnipotenz („Allmacht“) und den Willen („Güte“) besitzt, das Leiden zu verhindern. Ist Gott nur gütig, aber nicht allmächtig, dann will er das Leiden verhindern, kann es aber nicht. Ist Gott nur allmächtig, aber nicht gütig, dann will er das Böse nicht verhindern.
Christliche Theologen haben eine Vielzahl von Antwortversuchen entwickelt, um diesem Problem zu entrinnen oder es jedenfalls für sie zufriedenstellend zu lösen. Schon die Geschichte von Hiob aus dem Alten Testament wirft die Frage auf, wie es sein könne, dass ein gerechter Gott dulde, dass guten Menschen Böses widerfahre. Moderner ausgedrückt:
„Why do bad things happen to good people?“
Die Theodizee-Frage stellte sich für viele religiöse abendländische Menschen in besonderer Weise nach den Schrecken des Holocaust.
Bei Verschwörungstheorien handelt es sich im Kern um eine Säkularisierung (Verweltlichung) des Theodizee-Problems.
Bis ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit hinein waren die Antworten auf Theodizee-Fragen mindestens teilweise religiös (oder abergläubisch) begründet. Seit der Französischen Revolution erhalten zunehmend säkulare Antworten Bedeutung: es sind nun Menschen, die hinter dem Bösen stehen, nicht mehr übermenschliche Mächte.
Damit wird gleichzeitig der Teufelsglaube säkularisiert. Nun sind es bei den Verschwörungsgläubigen menschliche Geheimbünde, denen geradezu übermenschliche, eben dämonische Fähigkeiten oder Bosheit zugeschrieben werden. Diese Geheimbünde sind, wie auch der Teufel, höchst wirksam und zugleich unsichtbar. Sie beherrschen die perfekte Verschleierung, wie es auch zum Teufel, dem „Vater der Lüge“, passt. Das hat für Verschwörungstheoretiker den Vorteil, dass sie überall, wo keine Verschwörer zu entdecken sind, lediglich von perfekter Tarnung sprechen müssen. Dass die Verschwörer nicht sichtbar sind, beweist demnach gar nichts. Oder im Gegenteil: Es belegt die Macht der Verschwörer.
Quellen zum Thema Theodizee & Verschwörungstheorien:
Lutz Lemhöfer: Reiz und Risiko von Verschwörungstheorien – Verschwörungen und kein Ende;
in: EZW-Texte 177/2004; Matthias PÖHLMANN (HG.),
„Traue niemandem!“ – Verschwörungstheorien, Geheimwissen, Neomythen
Wikipedia zum Stichwort Theodizee
Viele Verschwörungstheorien bieten jedenfalls vergleichbar mit der Theodizee-Diskussion Antworten auf die Frage nach den Quellen des Bösen in der Welt. Sie verorten das Böse bei den Verschwörern. Das sind dann je nach dem die Juden, die «Weisen von Zion», der «Deep State», die CIA, der Mossad, Israel, die Illuminaten, die Bilderberger…
Darum herum bauen Verschwörungsgläubige eine Erzählung, die viele religionsnahe Elemente enthält:
Es gibt im Verschwörungsglauben die Hoffnung auf Erlösung, wenn die Verschwörer enttarnt und entmachtet werden.
Und so wie manche Christen den «Ruf des Herrn» gehört haben, der ihr Leben fundamental veränderte, reden Verschwörungsgläubige vom Aufwachen, vom «Redpilling». Evangelikale Christen wiederum reden von ihrer religiösen «Wiedergeburt», nennen sich gar «wiedergeborene Christen» und beziehen sich dabei auf das Johannesevangelium (Johannes 3,1-21).
Unübersehbar entfalten viele Verschwörungsgläubige auch im privaten Umfeld und im Netz einen ausgeprägten missionarischen Aktivismus. Für das «Heil der Welt» ist es unabdingbar, die «Schlafschafe» aufzuwecken. Dazu müssen sich die Erwachten, die Guten, die Durchblickenden, als die sich die Verschwörungsgläubigen sehen, zusammenschliessen. Solche «Gemeinden» entstehen heute als Facebookgruppen.
Und selbstverständlich gibt es in diesen Szenen dann auch säkularisierte «Priester» die den Menschen den Weg zeigen. Solche Figuren können verborgen sein wie Q in der QAnon-Verschwörungstheorie, oder medial sehr präsent wie Ganser, Sasek, Christina von Dreien…Im Stil sehr unterschiedlich, decken sie verschiedene «Marktsegmente» ab. Ihre Grossveranstaltungen ähneln in manchen Elementen den Veranstaltungen evangelikaler Christen.
Auf dem Markt der Sinnangebote sind Verschwörungstheorien auch deshalb erfolgreich, weil sie flexibel gehandhabt werden können. Jede und Jeder kann sich den eigenen Vorlieben entsprechend ein eigenes Paket schnüren. Viele Verschwörungsgläubige glauben an mehrere Verschwörungstheorien, die sich nicht selten auch widersprechen.
Verschwörungstheorien und Heilserwartungen
Der Philosoph Wolfram Frietsch schreibt:
„Verschwörungstheorien haben große Ähnlichkeit mit religiöser Heilserwartung. Die Suche nach verborgenen Zusammenhängen ist Ausdruck einer Heilserwartung und der Sehnsucht, dass alles mit allem zusammenhängt, irgendwie. Und sie ist Ausdruck einer Sehnsucht nach Ordnung, einer universalen, kosmischen, göttlichen Ordnung. Wenn alles mit allem zusammenhängt, dann hat alles seinen Platz. Dann gibt es Gut und Böse, dann gibt es Richtig und Falsch. Dann gibt es Menschen, die es gut mit mir meinen und welche, die das nicht tun. Dann weiß ich, woran ich bin.“
Quelle:
Verschwörungstheorien: Zauber, der die Weltenteile zusammenhält (Badisches Tagblatt)