Der Begriff «Truthiness» (abgeleitet von engl. truth, = Wahrheit) wurde im Jahr 2005 vom amerikanischen Satiriker Stephen Colbert eingeführt. Gemeint ist damit eine gefühlte Wahrheit, die unabhängig ist von der Faktenlage. Wenn es sich wahr anfühlt, ist es das auch, selbst wenn es nicht den wirklichen Gegebenheiten entspricht.
Wenn jemand zum Beispiel sagt,
☛ dass Corona nicht gefährlicher sei als eine Grippe,
☛ dass es keine Klimaerwärmung gebe, weil es doch gerade schneie,
☛ dass Homosexualität eine Krankheit sei,
☛ dass die Kriminalitätsraten im letzten Jahr drastisch gestiegen seien….usw…
….dann wird es immer Menschen geben, die solche Aussagen für wahr halten, nur weil sie sich für sie wahr anfühlen.
«Truthiness» fördert die politische Polarisierung und die Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien. Und dies vor allem, weil Fakten im «Biotop» der «Truthiness» keine Rolle mehr spielen.
Fake News und Verschwörungstheorien werden dann für wahr gehalten, wenn sie sich wahr anfühlen.
Das heisst insbesondere, wenn sie meinem Weltbild, meinen Vorurteilen und meinen Ressentiments nah sind. Und in stark polarisierten Gesellschaften wird jede Information blitzschnell mit dem Bauchgefühl geprüft: Fühlt sie sich nach dem eigenen Lager an, wird sie eingelassen, «riecht» sie gefühlsmässig auch nur entfernt nach dem Gegenlager, wird sie abgewiesen. Leider sind solche «Bauchprüfungen» viel schneller und mit viel weniger Aufwand verbunden als Faktenchecks. Wohin das führen kann, hat Sebastian Herrmann in seinem Buch «Gefühlte Wahrheit – wie Emotionen unser Weltbild formen» beschrieben:
«In den USA, wo sich Republikaner und Demokraten zunehmend unversöhnlich und feindselig gegenüberstehen, behaupten beide Lager in Befragungen regelmässig, dass die jeweils andere Seite die Fakten nicht kennen würde. Es sein sinnlos, mit Republikanern oder Demokraten zu streiten, sagen die frustrierten Diskutanten, zeigen mit ihrem Finger auf den jeweils anderen und maulen: ‘Die sind ja nicht mal in der Lage, die Realität anzuerkennen!’»
Verschwindet die gemeinsam geteilte Faktenbasis, sind in einer Demokratie keine konstruktiven Problemlösungen mehr möglich. Eine sich ausbreitende „Truthiness“ ist eine Gefahr für demokratische Gesellschaften.
Truthiness als Grundlage für Affektheuristik
Als Spezialvariante der «Truthiness» könnte man die Affektheuristik auffassen. Unter Heuristiken versteht man Faustregeln, nach denen Menschen intuitiv denken und schlussendlich handeln, in der Regel ohne dass sie sich dieser Prozesse bewusst werden.
Bei der Affektheuristik, also der Gefühlsheuristik, geht es darum, wie Gefühle und Affekte, die von einem Thema geweckt werden, unsere Einstellung dazu beeinflussen.
Wikipedia beschreibt den Begriff so:
«Die Affektheuristik ist eine Urteilsheuristik, die sich auf Gefühle verlässt. Meinungen und Entscheidungen beruhen oft schlicht auf Zuneigung oder Abneigung gegen die jeweiligen Alternativen. Die Gefühle entstehen automatisch und schnell und müssen nicht bewusst empfunden werden. Häufig werden die empfundenen Gefühle in „gut“ und „schlecht“ eingeteilt. Wird anschließend bewusst über diese Einstellung nachgedacht, wird die ursprüngliche Haltung meist nicht kritisiert, sondern rationalisiert.»
So wirkt «Truthiness» in Urteile, Entscheidungen und Handlungen hinein. Sie reduziert die Komplexität dieser Prozesse. Langwierige Detailarbeit ist für Menschen meist nicht gerade attraktiv. Truthiness und Affektheuristik bieten hier energiesparende Abkürzungen. Dass wir sie nutzen, ist sehr gut nachvollziehbar. Jeder und jede von uns ist fast bei jedem Thema überfordert, wenn es um ein vertieftes Verständnis geht. Wie soll schon rein praktisch ein einzelner Mensch stets alle relevanten Fakten kennen und evaluieren, um zu einer wirklich fundierten Meinung zu kommen. Unser Leben dauert nicht lang genug, um nur ein einziges grosses Thema zu schaffen. Auch aus psychologischen Gründen funktioniert das nicht. Wir haben ja zu vielen Themen bereits vorgefasste feste Meinungen, die vielleicht keine echte Faktenbasis haben, die wir jedoch trotzdem ziemlich wichtig und gut finden und somit nicht so leicht modifizieren wollen.
Das hat Konsequenzen, denn eine funktionierende Demokratie ist auf gut informierte, mündige Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Doch die Wählerschaft ist regelmässig mit Fragen konfrontiert, die selbst Fachleute überfordern.
Der Brexit als Beispiel für die Wirkung von Truthiness und Affektheuristik
Das Referendum über den Brexit im Jahr 2016 zeigt die Wirkung von Truthiness und Affektheuristik sehr deutlich. Die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU sind so komplex, dass normale Bürgerinnen und Bürger keine Vorstellung haben können, welche Folgen der Austritt haben wird und wie er vonstatten gehen könnte. Selbst hochrangige Befürworter des Austritts hatten davon keine konkrete Vorstellung.
Nun wurden aber die Britinnen und Briten von der Boulevard-Presse über Jahrzehnte mit Schauergeschichten über die EU versorgt. «Brüssel» diente als Sündenbock für alle Probleme des Landes. Die EU wurde dargestellt als Monster, das nichts anderes im Sinn hat als die stolze, grosse britische Nation zu knechten und zu unterjochen. Die EU wurde also über lange Zeiträume gefühlsmässig negativ eingefärbt.
Wenn nun bei der Austrittsfrage Truthiness und Affektheuristik eine Abkürzung und Komplexitätsreduktion anbieten, geht es nur noch um die Frage, ob die EU sich gut oder schlecht anfühlt. Die Entscheidung wird wie bei Facebook reduziert auf Daumen-hoch oder Daumen-runter. Und bei der konsequent anschwärzenden Vorgeschichte liegt Daumen-runter sehr viel näher.
Dieses Prinzip zeigt sich auch im Umgang mit Verschwörungstheorien. Wenn mir klar ist, dass die US-Regierung aus Schurken besteht, dann ist das Urteil über 9/11 schon im Moment klar, in dem das Ereignis stattfindet. Das kann nur eine False-Flag-Operation sein……….
Quellen:
Gefühlte Wahrheit – wie Emotionen unser Weltbild formen, von Sebastian Herrmann
Beitrag zum Thema Affektheuristik auf Wikipedia