Als Redpiller bezeichnen sich in Internet-Foren und auf Social-Media Plattformen Menschen, die von sich behaupten, die schmerzhafte Wahrheit der Realität erkannt zu haben. Das Schlucken der «Red pill» wird beschrieben als (vermeintlicher) Augenblick der Erkenntnis.
Redpiller sehen sich als schonungslose RealistInnen, die Zugang zu Wissen haben, das der Öffentlichkeit verborgen ist. Sie bilden sich ein, den “Code” der Gesellschaft geknackt zu haben. Dieser Code ist selbstverständlich geheim, und die Erzählung dazu verschwörungsideologisch und antidemokratisch angelegt.
In scharfem Gegensatz dazu werden mit Bluepiller („blue Pill“), abwertend jene Menschen bezeichnet, die diesen Grat der Erkenntnis nicht erlangt haben und auch nicht erlangen wollen.
Diese Begriffe nutzen besonders Aktivisten der US-amerikanischen Alt-Right. Doch auch im deutschsprachigen Raum kommen sie zunehmend zur Anwendung.
Übernommen wurden sie aus dem Science-Fiction-Film „Matrix“.
In einer Schlüsselszene des Films steht der Held Neo vor der Wahl, sich zwischen der blauen und roten Pille zu entscheiden: Entweder durch die Einnahme einer blauen Pille (Blue pill) in sein bisheriges Leben zurückzukehren und in ewiger Täuschung weiterleben (blue Pill), oder die wahre und durchaus gefährliche Welt sehen (red Pill). Neo entscheidet sich dafür, die rote Pille der Wahrheit zu schlucken. Er trifft damit die Entscheidung, sich nicht länger der Illusion der Welt hinzugeben.
Aufgegriffen wurde diese Metapher zuerst in einem Reddit-Forum für militante Männerrechtler, bis sie sich dann in der Alt-Right-Szene ausbreitete.
Redpilling als Radikalisierungsbooster
Die Extremismus-Forscherin Julia Ebner beschreibt in ihrem Buch «Radikalisierungsmaschinen» die Funktion des Redpillings in Radikaliserungsprozessen. Im Interview mit dem «Tagesspiegel» sagt sie:
«„Redpilling“ ist eine Referenz zum Film „Matrix“: Dort nimmt der Protagonist eine rote Pille und erkennt dann die Wahrheit über die Welt, in der er lebt. In rechtsextremen Internetforen wird über „Redpilling“ die Radikalisierung vorangetrieben. Den Nutzern werden etwa Falschmeldungen, verzerrte oder aus dem Kontext gerissene Statistiken über Migrantengewalt oder sehr selektiv ausgewählte Beiträge aus rechten Blogs präsentiert. In kurze, prägnante Videos verpackt, sind das dann die „roten Pillen“. Ideologie und Verschwörungstheorie werden häppchenweise verabreicht. So verändert sich das Bild der Foren-Mitglieder von der Wirklichkeit, die dann viel bedrohlicher erscheint. Sie glauben dann zum Beispiel an einen unvermeidbaren Rassenkrieg.»
Quelle:
Undercover bei Rechtsextremen „Diese Leute wollen zu Helden erklärt werden“
In den aktuellen Debatten kann das dann zum Beispiel bedeuten, dass die UserInnen an die Verschwörungsideologie des „Großen Austausches“ glauben, also dass “Eliten” die Bevölkerung eines Landes gegen eine andere, leichter regierbare austauschen. Oder sie befürchten Gedankenmanipulation “der Regierung” durch Chemtrails oder wähnen eine undefinierte “Elite” im Hintergrund, die die Bevölkerung des eigenen Landes versklaven will. Es geht in diesen Kreisen nicht selten auch um eine angebliche jüdische Weltverschwörung und das Herbeifantasieren eines weißen Genozids durch Abtreibung und Einwanderung.
Das hat die grosse Masse bisher aber noch nicht begriffen, nur die “Red Piller” sind erweckt.
An dieser misslichen Lage ist nach Ansicht der Redpiller auch eine angeblich linke Elite schuld, die durch Gleichschaltung der Medien bewirken soll, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt. Hier schliesst dann die Verschwörungsideologie von der «Lügenpresse» an.
Quelle:
Rechte Cyberkultur: «Red pill» und «Blue pill» – was ist das? (Belltower News)
Für Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker hat die Rede von den «Red pills» und «Blue pills» eine Reihe von Vorteilen.
Sie teilt die Menschheit in zwei scharf abgrenzbare Lager und dient damit der Komplexitätsreduktion.
Sie stabilisiert das Selbstwertgefühl der «Redpiller», die sich als Menschen mit besonderen Einblicken und Durchblicken fühlen können.
Sie bietet ein Erklärungsmodell für die harte Tatsache, dass die Mehrheit der Menschen die Weltsicht der «Redpiller» nicht teilt.
Sie ermöglicht es den «Redpillern», jede Kritik an ihren Verschwörungstheorien als Folge der Blindheit der «Bluepiller» abzuwehren, die einfach nicht wach genug sind, um die wahren Zusammenhänge zu verstehen.
Sie bietet Erklärungen für Widerfahrnisse und Niederlagen, die die «Redpiller» in ihrem vorherigen Zustand als «Bluepiller» erlitten haben.
Neben der Gefahr zunehmender Radikalisierung kann die «Redpiller»-Attitüde auch im persönlichen Umfeld problematische Konsequenzen haben. Mit dieser Haltung sind Konflikte mit dem persönlichen und beruflichen Umfeld vorprogrammiert. Das kann zur Folge haben, dass sich «Redpiller» zunehmend in die eigene Blase der Gleichgesinnten zurückziehen. Sie sind dann für Argumente und gegenteilige Informationen kaum mehr erreichbar.
P.S.:
Verschwörungsgläubige nennen sich statt «Redpiller» oft auch einfach «Aufgewachte» und die «Bluepiller» sind dann die «Schlafschafe». Diese Terminologie verrät sich schon durch ihre Abwertung. Eine Aufwertung der eigenen Person durch Verächtlichmachung der «Anderen» wird keinen nachhaltigen Effekt haben.
Weitere Infos zum Redpilling:
☛ Die amerikanische Drehbuchautorin und Regisseurin Lilly Wachowski („Matrix“-Trilogie, „V wie Vendetta“, „Cloud Atlas“, „Jupiter Ascending“, „Sense8“) hat sich ungewöhnlich deutlich von rechten Verschwörungsideologen distanziert, die eine Schlüsselszene aus ihrem „Matrix“-Film instrumentalisieren. Auf Tweets des Unternehmers Elon Musk („Nimm die rote Pille“) und der Präsidententochter Ivanka Trump („Eingenommen“) antwortete Wachowski unverblümt: „Fuck both of you“ (Fickt euch beide). Ihr Kommentar hat schon über 220.000 Likes erhalten.
Quelle: queer.de