Politischer Zynismus ist eine Extremform der Politikverdrossenheit. Er ist charakterisiert durch ein tiefgreifendes Misstrauen gegenüber den Motiven und Handlungen von Politikerinnen und Politikern, oder gegenüber der Politik generell.
Politischer Zynismus hat seine Ursache auf gesellschaftlicher Ebene in der Überzeugung, Politiker seien korrupt und eigennützig. Ihnen wird Manipulation, Profitstreben, Unehrlichkeit und moralische Verkommenheit zugeschrieben.
Aus der Perspektive des Einzelmenschen entwickelt sich politischer Zynismus aus der Auffassung, das öffentliche Geschehen nicht beeinflussen zu können und im gesellschaftlichen Diskurs keine Stimme zu haben.
Politischer Zynismus kann eine Grundhaltung sein, die sich auf alle politischen Institutionen und Akteure bezieht. Manchmal beschränkt er sich aber auch auf als feindlich eingestufte Parteien oder Personen. Manchmal spart er auch einzelne Heilsfiguren des eigenen Lagers aus (z. B. Trump als Heilbringer der QAnon-Sekte).
Politische Zyniker überziehen nicht nur die politische Welt mit fundamentalem Misstrauen, Häme und Unterstellungen. Sie können auch keine positiven Motive und Handlungen akzeptieren und zersetzen sie mit beissender Polemik.
So können sie es sich zum Beispiel nicht vorstellen, dass der Investor und Philanthroph George Soros aus humanitären Gründen Geld zur Verfügung stellt für die Unterstützung syrischer Flüchtlinge. Nach Ansicht des ungarischen Premierministers Viktor Orban, der das Feindbild Soros erfunden hat, steuert er damit den «Grossen Austausch». Und wenn Soros Menschenrechtsgruppen in verschiedenen Ländern unterstützt, kann das nach Ansicht der Zyniker niemals deshalb sein, weil er mit dem Konzept der «Offenen Gesellschaft» von Karl Popper verbunden ist. Politische Zyniker sehen darin zum Beispiel das Streben nach einer Neuen Weltordnung (NWO).
Politische Zynikerinnen und Zyniker neigen zu moralischer Gleichmacherei. Sie sagen: «Alle haben Dreck am Stecken», und machen keine Unterschiede. So gibt es zum Beispiel selbstverständlich auch in Demokratien Kritikwürdiges. Das ist aber kein Grund, Demokratien, Autokratien und totalitäre Staaten in einen Topf zu werfen, wozu politische Zyniker neigen.
Politischer Zynismus als Mittel der Agitation
Verschiedene Studien kamen zum Schluss, dass politischer Zynismus und das damit verbundene tiefe Misstrauen gegen den Staat die Neigung zum Glauben an Verschwörungstheorien verstärkt. Umgekehrt können Verschwörungstheorien der Entwicklung von politischem Zynismus den Boden bereiten.
Politischer Zynismus kann im Rahmen von politischer Agitation gezielt gefördert und bewirtschaftet werden. Verschwörungstheorien sind dazu ein probates Mittel. Sie können damit zur Delegitimierung politischer Institutionen beitragen.
Das zeigt sich zum Beispiel besonders in Krisen wie der Corona-Pandemie, wo verschiedene Studien gezeigt haben, dass politischer Zynismus die Impfskepsis steigern kann, weil staatliche Appelle weniger gut aufgenommen werden. Deutungen und Berichte von „offiziellen Stellen“ oder von politischen Autoritäten werden auf dieser Basis überwiegend als unwahr interpretiert.
„Tatsache ist, wenn es kein Vertrauen zum Absender gibt, ist es ganz egal, wie die Botschaft lautet. Sie kommt beim Empfänger nicht an, denn der Kommunikationskanal ist dicht“, sagt dazu Professor Michael Bang Petersen vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Aarhus. Er untersucht im Rahmen des Hope-Projekts, wie Demokratien mit der Corona-Krise umgehen.
Ein krasses Beispiel für politischen Zynismus sind die Verschwörungstheorien, die um den Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School am 14. Dezember 2012 verbreitet wurden. Bei diesem Schulmassaker verloren insgesamt 20 Erstklässler im Alter von sechs und sieben Jahren sowie sechs Lehrerpersonen ihr Leben. Politische Zyniker wie der Hassprediger und Verschwörungsideologe Alex Jones lancierten dazu die Verschwörungstheorie, dass das Massaker von Krisenschauspielern inszeniert wurde. Keine toten Kinder also. Das hatte zur Folge, dass Eltern dieser Kinder über Jahre massivem Hass und Drohungen ausgesetzt waren. Das ist politischer Zynismus in reinster Form. Als Agitation wirkt er in diesem Fall, weil damit der Druck nach Änderungen der Waffengesetze in den USA abgewehrt werden sollte.
Politischer Zynismus als Wegbereiter von politischem Autoritarismus
Politischer Zynismus kann auch leicht als Wegbereiter für politischen Autoritarismus wirken. Das tut er nur schon dadurch, dass er von der Beteiligung an Wahlen abhält. Wozu soll ich wählen, wenn doch die ganze Politik korrupt und morsch ist? Verschwörungstheorien haben oft einen vergleichbaren Effekt auf die Wahlbeteiligung.
Die zynische Grundhaltung macht es sich aber auch einfach. Wer alle Politikerinnen und Politiker gleichermassen für korrupt und moralisch verkommen einstuft, befreit sich von der Anstrengung der Unterscheidung und des Verstehens. In dieser Hinsicht kann politischer Zynismus auch eine Reaktion auf Überforderung durch die Komplexität der Welt sein. Die zynische Grundhaltung weicht der Komplexität von Ereignissen und Vorgängen aus. Sie reduziert Komplexität, aber um den Preis der Distanz und des Aufgebens von Einwirkungsmöglichkeiten.
Politischer Zynismus und Wahrheit
In Kontext des politischen Zynismus kommt auch die Wahrheit unter die Räder. Es herrscht die grosse Gleich-Gültigkeit. Fakten werden zu blossen Meinungen umgemünzt und Fakten zu Meinungen. «Alternative Fakten» werden kreiert, «die sich unabhängig von rationalen Begründungen oder empirischer Evidenz schlicht nach den eigenen Meinungen, Selbstbildern und Zielen richten und auf eine entsprechende Manipulation von Wirklichkeit zielen.» (Nicola Gess, Halbwahrheiten, 2021). Das kann so weit gehen, dass man «alternative Wahrheiten» «noch nicht einmal mehr für wahr hält, ihnen aber aus anderen, zum Beispiel emotionalen Gründen trotzdem Glauben schenkt oder mit ihnen schlicht maximale Aufmerksamkeit erreichen oder Setzungsanspruch und -macht demonstrieren will.» (Gess 2021). Siehe auch:
Truthiness – die gefühlte Wahrheit.
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
Bernd Stegemann beschreibt die Position der politischen Zyniker gegenüber der Öffentlichkeit so:
«Sie glauben weder den einen noch den anderen Aussagen, sondern lehnen die Möglichkeit, dass öffentlich Argumente ausgetauscht werden und damit Wahrheiten gefunden werden können, im Ganzen ab. Das zynische Verhältnis zur Funktion der Öffentlichkeit bereitet seitdem sowohl den Radikalisierungen den Weg als auch den magischen Verheissungen der Verschwörungstheorien, die für alles eine Antwort haben.» (Bernd Stegemann, Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, Klett-Cotta 2021).
Was tun?
Was kann man gegen diese zynische Grundhaltung tun?
☛ Eine Haltung des politischen Zynismus lässt sich nicht so einfach auflösen. Wichtig wäre es, Menschen gesellschaftliche und politische Partizipationsmöglichkeiten anzubieten und schmackhaft zu machen. In der Diskussion mit politisch zynischen Menschen ist auf Differenzierung zu bestehen. Wer ist an welchem Punkt korrupt? Wer nicht? Belege?
☛ Hilfreich ist zudem eine Unterscheidung zwischen notwendigem, gesundem Misstrauen und toxischem, destruktivem Misstrauen. Siehe dazu mehr hier:
Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen
☛ Vorbeugend gegen politischen Zynismus wirkt auch eine gute Ambiguitätstoleranz. Damit gemeint ist eine Kompetenz im Umgang mit Mehrdeutigkeit, Widersprüchen, Doppeldeutigkeit oder Vieldeutigkeit. Siehe dazu mehr hier:
Demokratie braucht Ambiguitätstoleranz – Verschwörungstheorien meiden sie
Quellen:
Der Leviathan. Politischer Zynismus und die Inszenierung des Staatsapparats als aggressive Entität, EMINE BÜTÜNER, 2019
Experte: Impfgegner lassen sich nicht überzeugen (Der Nordschleswiger)
Nicola Gess, Halbwahrheiten – zur Manipulation der Wirklichkeit, Matthes & Seitz Verlag 2021.
Bernd Stegemann, Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, Klett-Cotta 2021.