Nach Amokläufen, Terroranschlägen und anderen schlimmen Ereignissen kommen oft verschiedene Verschwörungstheorien auf. Eine besonders perfide Variante davon ist die Behauptung, die Vorkommnisse seien gestellt und die Opfer und Augenzeugen seien bezahlte Krisenschauspieler (Crisis actors).
So genannte Krisenschauspieler werden in der Realität bei Katastrophenschutzübungen der Polizei und Feuerwehr eingesetzt. Freiwillige Helfer spielen dabei Opfer und Verletzte, damit Einsatzkräfte für den Ernstfall üben können.
Verschwörungsgläubige behaupten nun, solche Krisenschauspieler seien engagiert worden, um beispielsweise in einem inszenierten Amoklauf Opfer, Augenzeugen und Hilfskräfte zu spielen. Ein derart inszenierter Amoklauf werde von den Verschwörern und von den mit ihnen kooperierenden Medien als echt dargestellt, wodurch auch die Verschwörungstheorie von der «Lügenpresse» zum Zug kommt.
Damit werden Opfer und ihre Angehörigen beschuldigt, als Täter in einer böswilligen Inszenierung mitgewirkt zu haben. Verschwörungsgläubige vollziehen damit eine Täter-Opfer-Umkehr und ein «blaming the victims», ein skrupelloses Beschuldigen und Verhöhnen der Opfer und ihrer Angehörigen. Letztere werden in den asozialen Medien als «Lügner» dargestellt.
Es geht aber noch weiter:
Angehörige von Opfern werden im Internet massiv belästigt und bedroht.
Es ist ungeheuerlich bösartig, wenn Menschen, die grosses Leid erfahren haben, zum Beispiel durch den gewaltsamen Verlust eines Kindes, derart öffentlich diffamiert, verhöhnt und angegriffen werden.
Politische Gründe der Verschwörungstheorien rund um «Krisenschauspieler»
Die Hintergründe der Verschwörungstheorien rund um angebliche «Krisenschauspieler» sind je nach Fall mehr oder weniger deutlich sichtbar. Häufig sind aber politische Hintergründe zu erkennen. In den USA steht die «crisis actor»-Verschwörungstheorie zumeist in Verbindung mit dem politischen Thema der «gun control». Verschwörungsgläubige behaupten, dass Massaker wie in Las Vegas und Amokläufe wie an der Sandy-Hook-Schule von „Krisenschauspielern“ inszeniert wurden, um damit die Einführung strengerer Waffengesetze zu rechtfertigen. Solche Taten sollen auf Betreiben linker oder liberaler Politiker (etwa Ex-Präsident Obama) oder Interessensgruppen inszeniert werden, um den US-Amerikanern die Waffen wegzunehmen.
Wie Verschwörungsgläubige dabei in der Praxis vorgehen, soll nachstehend mit Beispielen illustriert werden:
Das Massaker in Las Vegas
Stephen Paddock hat in Las Vegas 58 Menschen erschossen. Verschwörungstheoretiker wollen das nicht glauben und behaupten, die Regierung habe das Massaker inszeniert – und dazu Krisenschauspieler engagiert.
Der 30-jährige Braden Matejka aus der kanadischen Provinz British Columbus wurde bei dem Anschlag von einer Kugel im Kopf getroffen und überlebte schwer verletzt. Auf seiner Facebook-Seite bekam er unter anderem folgende Beschimpfungen:
„Du bist ein Stück Mist, und ich hoffe, dass dich eines Tages wirklich jemand erschießt“
„Du widerst mich an. Deine Seele ist schwarz und du wirst die Konsequenzen spüren“
„Du bist ein lügender Arsch.“
Braden Matejka versuchte mit einigen der Verschwörungsgläubigen zu reden – natürlich erfolglos. Schlussendlich löschte er alle seine Facebook- und Instagram-Accounts, um dem Hass zu entkommen. Für seine Angreifer ist das selbstverständlich ein Eingeständnis seiner Schuld.
Rob McIntosh, der bei dem Anschlag von zwei Kugeln in die Brust sowie im Arm getroffen wurde, musste Kommentare lesen wie:
„Ich hoffe, dich erwischt noch einer“
Mike Cronk, ein Freund von McIntosh, der bei dem Anschlag ebenfalls Verletzungen davon trug, wurde nach mehreren Fernsehinterviews als ein von der „Regierung gekaufter Schauspieler“ diffamiert. Auf YouTube verkündete ein Video: „Mike Cronk – Vegas Krisenschauspieler simuliert Verletzungen, weder die Infusionsflasche noch Verbände sind echt.“
Mehr dazu hier:
Verschwörungstheoretiker halten Amoklauf für Show (WELT)
Verschwörungstheoretiker beschimpfen Überlebende von Las Vegas als „Schauspieler“ (Focus)
Mit Verschwörungstheorien rund um das Massaker in Las Vegas hat sich das Portal Mimikama auseinandergesetzt:
Verschwörungstheorien um Las Vegas? Thema Crisisactor
Amoklauf an der Sany Hook Elementary School
Der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School am 14. Dezember 2012 in Newton ist eines der schlimmsten und grausamsten Schulmassaker in der Geschichte der USA. Zwanzig Kinder kamen ums Leben und hinterliessen trauernde Familien. Zweifel am Ablauf der abscheulichen Tat gibt es nicht. Die Polizei, das FBI, die Staatsanwaltschaft haben den tragischen Fall bis ins kleinste Detail ermittelt und dokumentiert. Die Fakten liegen klar auf dem Tisch. Trotzdem behaupten Verschwörungsgläubige in den USA und in anderen Teilen der Welt (auch in der Schweiz) bis heute, das Sandy-Hook-Massaker sei nur „großes Theater“ gewesen, „ein bühnenreifer Auftritt bezahlter Schauspieler“ und eine Inszenierung der Regierung von US-Präsident Barack Obama, um striktere Gesetze umzusetzen und am Ende das Land zu entwaffnen. Bezahlte «Krisenschauspieler» seien bei solchen Massakern in Aktion. Mehr dazu hier:
Sandy Hook Verschwörungsideologien
Parkland-Massaker
Beim Highschool-Massaker in Florida starben 17 Menschen. Emma Gonzalez und David Hogg überlebten, als ein 19-Jähriger um sich schiessend durch ihre Schule zog. Gonzalez kauerte auf dem Boden des Auditoriums. Hogg versteckte sich in der Toilette. Den Horror dieses Tages vergessen die beiden wohl nie. Was ihnen aber auch bleibt, ist Wut. Die beiden Jugendlichen haben in der Zwischenzeit ihre Stimme erhoben: Sie haben Interviews gegeben, Reden gehalten und sind im Fernsehen aufgetreten. Sie verlangen eine Verschärfung der Waffengesetze, gar die Ausschaltung der mächtigen Waffenlobbyorganisation NRA.
Gonzalez und Hogg sind für viele einerseits Opfer und Überlebende der Tat, darüber hinaus aber auch die Gesichter einer neuen Protestbewegung.
Ihre Gegner behaupten, sie seien Schauspieler und die Tat inszeniert. Über die beiden kursieren auf YouTube Videos, die etwa Hogg als jemanden darstellen, der von Krise zu Krise eilt, um dort eine Rolle zu spielen. Einige dieser Videos wurden von Hunderttausenden Menschen angeschaut. Andere Verschwörungstheoretiker wittern ein Manöver der Geheimdienste gegen Donald Trump, weil Hoggs Vater früher beim FBI gearbeitet hat. Belege, dass das etwas mit dem Attentat zu tun hat, gibt es natürlich nicht.
Bereits wenige Stunden nach dem Parkland-Massaker gab es auf dem Forum „4chan“ erste Beiträge, die die Berichterstattung über das Massaker infrage stellten. Kaum hatten sich erste Überlebende öffentlich geäußert, griffen andere Online-Dienste die skurrilen Zweifel auf und verbreiteten sie weiter. Die rechte Webseite Gateway Pundit bezeichnete Hogg als „Aktivisten“, stellte das FBI-Emblem zu einem Foto von ihm – und schrieb dazu: „Enthüllt“.
Rasch verbreitete sich das Gerede von „Krisenschauspielern“ auch über die sozialen Netzwerke, auch über Social Bots wurde laut Medienberichten Stimmung gemacht. Sogar Donald Trump Jr., der älteste Sohn des Präsidenten, verbreitete zwei Beiträge auf Twitter, die nahelegten, Hogg sei für seinen Vater beziehungsweise das FBI im Einsatz.
Ein Mitarbeiter eines republikanischen Senators schrieb einem Journalisten in einer E-Mail, die beiden Jugendlichen Gonzalez und Hogg seien „keine Schüler hier, sondern Schauspieler, die zu verschiedenen Krisenorten reisen“.
Mehr dazu / Quelle:
Schmutzkampagne von Amerikas Rechten: Das zweite Leid der Überlebenden (Spiegel online)
Die Kampagnen gegen Gonzalez und Hogg zeigen, wie Verschwörungsgläubige politische Gegner diffamieren und delegitimieren. Mit einer auch nur minimalen demokratischen Kultur hat dieses Vorgehen nicht das Geringste mehr zu tun.
George Floyd als Krisenschauspieler diffamiert
Auch beim Mord an George Floyd tauchten sogleich Verschwörungstheorien auf. Ein reichweitenstarker YouTube-Verschwörungskanal behauptete, George Floyd sei gar nicht tot und der gesamte Vorfall inszeniert. Diese Verschwörungserzählung tauchte in tausenden Twitter- und Facebook-Postings auf. Dabei spekulieren auch deutschsprachige Facebook-Accounts faktenfrei mit. So wirft zum Beispiel jemand eine Reihe von Fragen in den Raum wie: War George Floyd ein Pornodarsteller? Irgendwelche Belege oder nur schon Indizien braucht es für eine solche Unterstellung nicht. Im gleichen Facebook-Account: «Kann jemand wirklich nicht atmen, wenn ihm jemand im Nacken kniet, und ist das Opfer wirklich in der Lage, längere Zeit zu sprechen, wenn es nicht atmen kann?»
Natürlich kann man eine solche Frage grundsätzlich stellen. Aber nur, weil man darauf keine Antwort weiss, rechtfertigt das noch lange nicht die Unterstellung einer Inszenierung.
Subjektive Interpretationen als Wahrheit verkündet
Generell verlassen sich Verschwörungsgläubige in solchen Fällen auf ihre hochgradig subjektiven Interpretationen, die faktenfrei daherkommen, aber perfekt ins eigene Weltbild passen. Sie verkünden diese subjektiven Interpretationen unbesehen als Wahrheit. Darüber hinaus zerpflücken sie hoch selektiv Interviews und schneiden Videos so, dass sie scheinbar die eigene Botschaft belegen.
Schulmassaker und andere Attentate rufen natürlich geradezu danach, die sehr freizügige Waffengesetzgebung in den USA zu verschärfen. Insbesondere für Waffenfanatiker passen solche Ereignisse nicht ins eigene Weltbild.
Der Versuch, sie als Inszenierung hinzustellen, dient ganz offensichtlich dazu, diese Ereignisse politisch umzudeuten (oder klarer: umzulügen).
Die Parallelwelten der Bolsonaro-Fans
Krisenschauspieler sollen gemäss den Behauptungen von Verschwörungsgläubigen nicht nur im Bereich der Amokläufe und Massaker im Einsatz sein.
Im Zuge der Corona-Pandemie drangen zum Beispiel in Brasilien Bolsonaro-Anhänger in Krankenhäuser ein, weil sie zeigen wollten, dass die Kranken dort nur Schauspieler sind. Über die Parallelwelten, in denen diese Menschen leben, hat der Politikwissenschaftler Oliver da Costa Stuenkel sich in einem Interview mit «Watson» geäussert:
Brasilien: Parallelwelten und Verschwörungstheorien bei Bolsonaro-Fans
Fazit zum Thema „Krisenschauspieler“
Michael Blume schreibt zum Crisis-Actor-Verschwörungsvorwurf:
«Erkenntnistheoretisch zeigt der Crisis-Actor-Verschwörungsvorwurf nicht mehr nur ein massives Misstrauen, sondern stellt letztlich eine fast vollständige Absage an die gemeinsame, medial vermittelte und empirisch überprüfbare Wirklichkeit dar. In der Wahrnehmung der solcherart Verschwörungsgläubigen ist die weltweite Superverschwörung bereits so stark, dass praktisch keinen Medien, keinen staatlichen oder wissenschaftlichen Stellen mehr geglaubt werden kann. Alle dramatischen Ereignisse, die die eigene Weltanschauung herausfordern, erscheinen „gestellt“ und „gekauft“. Deswegen sind hohe Aggressivität und Gewaltandrohungen in diesen Milieus bereits weit verbreitet……Denn wir sprechen hier von Verschwörungsgläubigen, die bereits so tief in ihre Wahnwelt abgedriftet sind, dass sie zu Empathie und Dialog kaum mehr in der Lage sind.»
Quelle des Zitats:
Der Verschwörungsvorwurf des Crisis Actor im Antisemitismus und Rassismus (SciLogs)
Man muss sich auch klar machen, wie gross die Zahl der eingeweihten Verschwörer sein müsste, um einen Amoklauf zu inszenieren. Es ist vollkommen unrealistisch, dass eine solche Inszenierung geheim gehalten werden könnte. Schon der italienische Staatsmann Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) hat die Schwierigkeiten auf den Punkt gebracht, die einer erfolgreichen Verschwörung entgegenstehen. Siehe dazu:
Machiavelli über Verschwörungen und ihre Grenzen