Im Internet kommt zunehmend ein neuer Typ der Verschwörungstheorien auf. Dabei geht es nicht mehr um das Widerlegen einer offiziellen Erklärung, sondern um Delegitimieren. Angegriffen wird gezielt die Glaubwürdigkeit von Menschen und Institutionen mit gesellschaftlich tragenden Rollen – insbesondere die freie Presse, die Universitäten sowie Regierungseinrichtungen. Dieses neuartige Phänomen erweist sich durchaus als gefährlich. Beschrieben wurde es von den amerikanischen Politikwissenschaftlern Nancy Rosenblum und Russel Muirhead in ihrem Buch («A Lot of People Are Saying») unter der Bezeichnung «new conspiracism».
Klassische Verschwörungstheorien versuchen üblicherweise eine komplizierte Welt verständlich zu machen, indem dunkle Kräfte und mächtige Eliten für bestimmte, häufig unerklärliche Ereignisse verantwortlich gemacht werden. Ausgeklügelte Theorien werden entworfen, um die «wahren Hintergründe» plausibel zu erklären. Am Ende steht meist eine komplexe, jedoch zusammenhängende Erzählung, welche als alternative Erklärung dient – eben eine Verschwörung mit Theorie. Beispiele dafür sind die Verschwörungstheorien zu den Mondlandungen und zu den Anschlägen von 9/11.
Muirhead und Rosenblum argumentieren nun, dass sich im Internetzeitalter ein neues Modell hinzugesellt: Eine Verschwörungsgeschichte, aber ohne die Theorie.
Dieser neue Verschwörungstheorismus, wie ihn die beiden Wissenschafter nennen, zeichnet sich eben nicht durch die aufwendige Präsentation vermeintlicher Beweise oder ausgeklügelter Theorien aus.
Delegitimieren statt argumentieren
Stattdessen verweisen die Vertreter des «new conspiracism», wenn überhaupt, nur auf einzelne Fundstücke – und arbeiten im Übrigen mit suggestiven Aussagen vom Schlage «Es ist kein Geheimnis, dass . . .» oder «Da kann man sich schon fragen . . .». Insbesondere Letztere ist als Floskel beliebt, denn sie ersetzt die Notwendigkeit für Argumente, Beweise und Erklärungen. Die ständige Wiederholung solcher Aussagen, hauptsächlich im Internet, tut dann ein Übriges. Was zählt, ist am Schluss nicht länger die Stichhaltigkeit, sondern wie häufig eine krude Behauptung oder eine in schlechter Absicht gestellte, doppeldeutige Frage durch Likes, Retweets, Views oder dergleichen sozial validiert wird.
Das ultimative Ziel hinter diesem neuartigen Verschwörungstheorismus sehen Rosenblum und Muirhead in der schleichenden Delegitimierung demokratischer Institutionen wie der freien Presse, von Universitäten und Regierungseinrichtungen. Attackiert wird dadurch gezielt die Glaubwürdigkeit all der Menschen und Institutionen, die tragende Rollen für das Funktionieren von Gesellschaften übernehmen. Speziell im Fokus stehen dabei all diejenigen, die Wissen und Fakten kreieren, bewerten und korrigieren. Die übergeordnete Botschaft lautet:
«Traut nicht den Behörden, der Presse und schon gar nicht der Regierung.»
Oft sind es allerdings nicht nur einzelne radikale Aktivisten, die sich dieser Methodik im Internet bedienen. Sie wird auch genutzt von verschwörungstheoretisch angehauchten politischen Organisationen, politischen Parteien und selbsternannten «Alternativen Medien».
So verkündete beispielsweise ein einflussreicher konservativer US-Talk-Radio-Moderator nach dem Brand der Kathedrale von «Notre Dame», dass, «falls dieser von Islamisten gestartet wurde, wir es vermutlich nicht erfahren werden, denn das würde das gesamte Land in Brand setzen». Und der französische Kommentator Philippe Karsenty behauptete während eines Interviews mit dem US-Sender Fox News, dass das Feuer in der Kathedrale gelegt worden sei und man, wenn alles vorbei sei, wieder nur «eine politisch korrekte Geschichte» hören werde, «die sagt, dass es wahrscheinlich ein Unfall war». Selbst dem Sender Fox News, der dafür berüchtigt ist, immer wieder Verschwörungstheorien zu verbreiten, ging dies zu weit. Moderator Shep Smith wies den Gast zurecht und erklärte, dass er keine haltlosen Spekulationen dulde.
Die AfD-Ortsgruppe Solingen bezog ebenfalls Stellung und schlug auf Facebook in die gleiche Kerbe. «Würde wohl niemanden verwundern, wenn es ein Anschlag mit islamistischem Hintergrund wäre», war da zu lesen. Und weiter hiess es: «Doch noch weiss man nichts Genaues, aber ob man auch wirklich die Wahrheit später preisgibt? Die Antwort könnte ja die Bürger verunsichern. Die Attacken auf christliche Hoheitszeichen werden in den nächsten Jahren massiv zunehmen, und wir alle wissen, warum!»
An solchen Beispielen wird klar, dass hinter der «new conspiracism»-Methodik oft eine politische Agenda steckt: Delegitimieren, um Misstrauen zu säen. Das ist eine Vorstufe zu Umsturzversuchen zur Abschaffung demokratischer Verhältnisse.
Für Nancy L. Rosenblum und Russell Muirhead ist QAnon ein Beispiel für „new conspiracism“. Die QAnon-Sekte verzichte anders als klassische Verschwörungstheorien wie etwa zum Attentat auf John F. Kennedy gänzlich auf Belege und Indizien und stütze sich allein auf Behauptungen und insinuierende Fragen. Die beiden Politikwissenschaftler bezeichnen QAnon als „Kampfnamen der bizarrsten verschwörungsideologischen politischen Narrative“. QAnon erhebe einen Besitzanspruch auf die Realität, der nicht durch Fakten, sondern nur durch Wiederholung und Zustimmung scheinbar verifiziert werde. Laut Rosenblum und Muirhead besteht Grund zur Sorge, wenn dieser Angriff auf den gesunden Menschenverstand in die Parteipolitik und die Wahlkämpfe eindringt. Die beiden Politologen weisen darauf hin, dass es darauf ankomme, diesen gesunden Menschenverstand (im Sinne Thomas Paines) zu stärken als Schutz der Demokratie gegen Verschwörungsideologien.
Die Verantwortung der Social-media-Konzerne
Mitschuldig am neuen Verschwörungstheorismus sind auch die sozialen Netzwerke. Auf diesen Plattformen können derartige Behauptungen besonders gut florieren und sich ausbreiten. Die Social-Media-Konzerne reagieren zudem häufig auch dann zu zögerlich, wenn sie tatsächlich etwas ausrichten könnten, und dulden Verschwörungstheoretiker vom Schlage eines Alex Jones viel zu lange.
Ein Teil der Verantwortung liegt jedoch auch bei bestimmten Medien, die solchen Verschwörungstheoretikern durch ihre Berichterstattung – gewollt oder ungewollt – eine Plattform bieten. Ein Teil der Verantwortung kommt aber auch den Social-Media-Nutzern zu. Teilen sie Beiträge der Manipulatoren, um sich anschliessend über sie aufzuregen, sich lustig zu machen oder sie zu widerlegen, verschaffen sie den Posts zusätzliche Reichweite. Denn die Algorithmen der Plattformen stufen Beiträge, die häufig gelikt, geteilt und kommentiert werden, als wichtig ein und verbreiten sie stärker. Deshalb ist es meistens sinnvoller, die Beiträge der Verschwörungstheoretiker mit dem zu strafen, was sie am meisten hassen: Mit Nichtbeachtung.
Oft entstanden oder entstehen solche Verschwörungsgeschichten auf Messageboards wie 4chan oder 8chan und werden dann auf Twitter, Facebook und Co. geteilt. Sie bleiben jedoch oft nicht dort, sondern wandern mit der Zeit, treten in Austausch und multiplizieren sich.
Nicht selten greifen «alternative Medien» wie Breitbart und Gateway Pundit in den USA oder PI News und KenFM in Deutschland die Themen und Ideen auf. Sie speisen sie erneut in den Kreislauf ein und verbreiten sie auf diese Art weiter. Dadurch entstehen digitale Gegenöffentlichkeiten, die es wiederum gestatten, die «Gatekeeper» – also traditionelle Medien – zu umgehen und sich somit einen Weg in die öffentliche Arena zu verschaffen. Gelegentlich helfen Politiker und Prominente bei der Verbreitung mit, wenn es zu ihrer Agenda passt.
Was tun gegen «new conspiracism»?
Gegen diese neue Art der Manipulation ist es schwierig vorzugehen. Weil es sich häufig nicht um direkte Formen von «Hate Speech» oder klar erkennbare Falschinformationen handelt, ist ihnen rechtlich oder vonseiten der Social-Media-Plattformen nur schwer beizukommen. Und ausserdem wäre da noch die Frage, ob und wie viel Macht wir Firmen wie Facebook und Twitter zutrauen, wenn es darum geht, über den öffentlichen Diskurs zu richten. Schlussendlich wird wohl nur ein Vorgehen auf mehreren Ebenen Abhilfe schaffen.
Quellen:
Die neue Art der Verschwörungstheorie: Es zählt die krude Behauptung (NZZ)
Wieder wird eine grosse Gruppe von Verschwörungstheoretikern, Hassreden, Falschinformationen, Mobbing von Facebook entfernt (Die Mittelländische Zeitung)
Fall Epstein: Wie die Verschwörungstheorien entstanden sind (NZZ)
Siehe auch den Artikel in der Enzyklopädie:
New conspiracism – eine neue Variante des Verschwörungsglaubens