VerschwörungstheoretikerInnen werfen allen anderen manchmal naive Leichtgläubigkeit vor, nennen sie «Schlafschafe». Und natürlich ist Leichtgläubigkeit keine erstrebenswerte Haltung. Kritisches Denken, sich nichts vormachen lassen – das tönt nach einem wünschbaren Menschenbild, das auf den Werten der Aufklärung basiert und sich von den abergläubischen und obrigkeitshörigen Menschen vergangener Jahrhunderte abhebt.
Zweifel, ein kritisches Bewusstsein und ein gesundes Misstrauen sind für die Wissenschaft und für demokratische Gesellschaften unverzichtbar.
Siehe: Lob der Kritik – Was unterscheidet kritisches Denken von unkritischem Denken.
Aber Zweifel und Misstrauen sind nicht immer und ausschliesslich positiv und konstruktiv. Es gibt toxischen Zweifel und toxisches Misstrauen, die von Verschwörungstheoretikern gepflegt und gefördert werden. Allerdings nur in eine Richtung, gegenüber dem, was sie als «Eliten» und «Verschwörer» markiert haben.
Verschwörungstheoretikern dient der Zweifel als Selbstzweck. Er soll die eigene Verschwörungstheorie am Laufen halten. Er ist nicht ergebnisoffen und dient nicht dazu, der Wahrheit näher zu kommen.
Der Philosoph Jan Skudlarek beschreibt in seinem lesenswerten Buch „Wahrheit und Verschwörung“ (2019) sechs Merkmale des toxischen Zweifels:
☛ Der toxische Zweifel ist oft antifaktisch
Er kann dies darum problemlos sein, weil innerhalb des konspirationistischen Denksystems keine Notwendigkeit besteht für ein neutrales Fakteninteresse. Die Neigung zum Bestätigungsfehler, die Tendenz zur haltlosen Spekulation und die Vorliebe für gefühlte Wahrheiten führen dazu, dass der toxisch Zweifelnde Fakten und Tatsachen sorglos und grosszügig unter den Tisch fallen lassen kann.
Die antifaktische Grundhaltung des toxischen Zweifels ist oft verbunden mit einem gestörten Verhältnis zum Beweis und zum Akt des Beweisens. Das hat zur Folge, dass Verschwörungstheoretiker dazu neigen, die Beweislast umzudrehen. Sie stellen allerlei krasse Behauptungen auf: Das World Trade Center wurde gesprengt, der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School wurde von «Krisenschauspielern» inszeniert, Chemtrails vergiften unsere Atmosphäre. Konfrontiert man solche Behauptungen mit kritischen Gegenfragen, wechseln Verschwörungstheoretiker rasch in den Modus «Beweise mir das Gegenteil». Beweise mir, dass das World Trade Center nicht gesprengt wurde, dass die Mondlandung wirklich stattgefunden hat….
Doch diese Forderung ist unhaltbar. Wer eine Behauptung aufstellt, sollte seine Aussage auch beweisen oder zu mindestens sein Gegenüber mit Argumenten überzeugen können. Niemand muss beweisen, dass die Behauptungen eines anderen nicht zutreffen.
Gegen antifaktisches Denken, das oft mit einer Beweislastumkehr daher kommt, hilft «Hitchen’s Rasiermesser»: Wer eine Behauptung aufstellt, ist verpflichtet, die Beweislast zu übernehmen. Weigert er sich, kann man seine Aussagen sogleich ignorieren.
Das bedeutet also: «Was ohne Beleg behauptet werden kann, kann genauso ohne Beleg verworfen werden.»
Verschwörungstheoretiker geben andern mit Vorliebe Rechercheaufgaben, ungefragte Hausaufgaben sozusagen, für Behauptungen und Fragen, die sie selbst in den Raum gestellt haben. Sie drücken sich damit vor der Arbeit, die mit der Beweislast verbunden ist. Auf diesen Trick sollte man nicht hereinfallen.
☛ Der toxische Zweifel ist oft abstrakt
Weil der toxische Zweifel sorglos und grosszügig konkrete faktische Kritik ignorieren kann, entwickelt er sich rasch zu einem abstrakten Misstrauen. Dann sind alle Experten gekauft, alle Medien lügen und alle Politiker sind korrupt. Ausgenommen von diesem Zweifel sind nur angebliche oder tatsächliche Experten sowie «alternative» Medien, die der eigenen Verschwörungstheorie nahestehen. Ihnen gegenüber verhalten sich Verschwörungstheoretiker oft hochgradig unkritisch.
Skudlarek (2019) erwähnt hier als Beispiel Donald Trump, der lange behauptete, die Präsidentschaftswahlen 2016 seien «manipuliert». Konkrete Hinweis oder gar Belege, was genau manipuliert sei, lieferte er nicht. Vage unterstellt wurde damit, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Wer konkreten Aussagen vermeidet, läuft auch nicht Gefahr, auf Wahrheit oder Falschheit behaftet zu werden.
☛ Der toxische Zweifel verläuft streng nach Freund-Feind-Schema
Der toxische Zweifel verhält sich selbstgerecht und ist sich zu sicher, was die Einteilung in «gut» und «böse», in «Freund» und «Feind» angeht. Wer die Zweifel des toxischen Zweiflers nicht teilt, gilt ihm als Feind. Und der toxische Zweifel richtet sich nur auf das Gegenlager, nicht auf die eigenen Überzeugungen. Er ist deshalb auch unsachlich und erkenntnisfeindlich. Es geht ihm nicht darum, der Wahrheit näher zu kommen, sondern die eigene Position zu stärken.
Der toxische Zweifel ist hoch selektiv.
Er ist hoch misstrauisch gegenüber gegnerischen Experten, offiziellen Verlautbarungen und Meldungen der «Lügenpresse». Selbsternannten «alternativen Medien» nehmen die toxischen Zweifler dagegen beinahe alles ab.
☛ Der toxische Zweifel produziert phantastische Erklärungen
Zweifel kann und soll kreatives Denken fördern. Wer gängige Erklärungen kritisch unter die Lupe nimmt, kann wertvolle neue Erkenntnisse aus unerwarteten Blickwinkeln gewinnen.
Der toxische Zweifel allerdings entwickelt grosszügig wunderliche und abenteuerliche Erklärungen, die oft eine gehörige Portion Spinnerei enthalten. Und so werden Kondensstreifen am Himmel zu Giftgemischen, die bösartige Regierungen gut sichtbar ausbringen. Zwar ist nicht alles verrückt, was verrückt klingt. Doch was verrückt klingt, kann es durchaus auch sein.
☛ Der toxische Zweifel ist hyperintentionalistisch
Nachdenken bedeutet oft Nachdenken über Absichten Dritter. Wer Handlungen verstehen will, versucht Absichten (Intentionen) zu verstehen. Der toxische Zweifel ist häufig hyperintentionalistisch, indem er die Absichten Dritter überbewertet oder Ereignisse, die unbeabsichtigt passieren, zum Resultat absichtlicher Handlungen umdeutet. So stehen hinter negativen Handlungen und Ereignissen immer böse Absichten schlechter Menschen. Diese Weltdeutungen sind aber nicht realitätsnah. Unerfreuliche Ereignisse passieren häufig ohne böse Absichten und Folgen von handlungen sind nur begrenzt überschaubar. Dummheit, Inkompetenz und Schlamperei kommen als Ursachen von Ereignissen häufiger vor als Verschwörung und Manipulation.
Dazu passt Hanlon’s Rasiermesser (Hanlon‘s Razor): Der Begriff bezeichnet ein Sprichwort, das eine Aussage über den wahrscheinlichsten Grund von menschlichem Fehlverhalten trifft. Es lautet: „Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar ist“. Oder kürzer: „Geh nicht von Böswilligkeit aus, wenn Dummheit genügt“. Hanlon’s Razor liesse sich noch erweitern: «Geh nicht von Böswilligkeit aus, wenn Dummheit, Irrtum, Schlamperei oder Zufall genügt.“ Das stellt Verschwörungstheorien, die nachdrücklich von Böswilligkeit ausgehen, fundamental in Frage.
☛ Der toxische Zweifel nimmt das Ergebnis seiner Ermittlungen vorneweg
Als Ursachen für negative Ereignisse kommen nur Manipulation, Lüge und Täuschung in Frage. Der toxische Zweifler geht fraglos davon aus, dass wir getäuscht werden. Er meint nur noch herausfinden zu müssen, wie und warum.
Gesunder Zweifel
Wie sieht im Gegensatz zum toxischen Zweifel ein gesunder Zweifel aus?
Skudlarek (2019) beschreibt fünf Merkmale für gesunden Zweifel.
☛ Der gesunde Zweifel ist anlassbezogen und konkret
Den toxischen Zweifel charakterisiert eine «Davon-glaube-ich-kein-Wort»-Haltung. Dieser abstrakte Generalverdacht gegenüber der «offiziellen Geschichte als Ganzem» bringt kaum Erkenntnisgewinn.
Ein gesunder, produktiver Zweifel vermeidet den abstrakten Zweifel soweit es geht.
Wer der Wahrheit bezüglich eines Ereignisses näherkommen will, sollte kritische Fragen zu einem Sachverhalt oder zu einer Deutung möglichst konkret und detailliert ausformulieren. Nur so besteht auch eine gute Chance, auf konkrete und detaillierte Antworten zu stossen.
Konkrete Kritik und Detailfragen sind allerdings kein Exklusivmerkmal für aufrichtige Zweifel. Verschwörungsgläubige lieben nicht nur den abstrakten Zweifel, sondern ebenso destruktive konkrete Nachfragen. Nicht alle konkreten Zweifel, die gegenüber einem Sachverhalt oder einer «offiziellen Geschichte» erhoben werden, sind produktiv.
Ein Zweifel, der sich sinnlos in Kleinigkeiten verbeisst oder nach Anomalien jagt, die in jedem einigermassen komplexen Ereignis auftreten, bieten keine Grundlage für adäquate Erkenntnisse.
☛ Der gesunde Zweifel ist profaktisch
Fakten sind nur begrenzt Ansichtssache. Man kann zwar seine eigene Meinung haben, jedoch nicht seine eigenen Fakten. Zu einer profaktischen Grundhaltung gehört ausdrücklich ein gewisser Vertrauensvorschuss gegenüber Autoritäten und Experten. Verschwörungsgläubige neigen dazu, Autoritäten und Experten vorschnell abzuwerten und vorschnell oder auch vorlaut zu hinterfragen. Skudlarek (2019) schreibt dazu:
«Tatsache ist jedoch
Erstens, dass Autoritäten und Experten nicht nur in der Regel aus guten Gründen als solche gelten (nämlich weil sie mehr Ahnung von einem Thema haben als du und ich), sondern auch, dass sie
Zweitens deshalb die dominanten Erzählungen zu einem Thema liefern, weil sie sich selber profaktisch an der Wirklichkeit orientieren.»
Eine profaktische Grundhaltung schliesse mit ein, dass man Stimmen zur Kenntnis nimmt, die der eigenen Grundhaltung widerspricht. Auswählende, selektive Wahrnehmung ausschliesslich von jenen Stimmen und Argumenten, die uns in den Kram passen, sei charakteristisch für den toxischen Zweifel.
☛ Der gesunde Zweifel zeigt Offenheit gegenüber neuen Gedanken und neuen Sprechern
Der Generalverdacht, den Verschwörungsgläubige gegen alle erheben, die nicht ihre Meinung teilen, hat zur Folge, dass eine ergebnisoffene Diskussion mit ihnen kaum gelingen kann. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass ihre Schlussfolgerung – also das, was am Ende der gemeinsamen Diskussion stehen sollte – für sie bereits zu Beginn feststeht.
Der gesunde Zweifel dagegen zeigt sich offen für die Wahrheitssuche an sich als dialogische Angelegenheit. Er setzt ein gewisses Mass an Wohlwollen voraus, lässt die andere Person ausreden und vermeidet Argumente bzw. Angriffe auf der persönlichen Ebene (Ad-hominem-Argumente).
☛ Der gesunde Zweifel weiss um die Begrenztheit des Verstandes
Auf den Weg der Erkenntnis gibt es eine Reihe von intellektuellen Fallstricken und Stolperdrähten, welche es schwierig machen können, sich der Wahrheit anzunähern.
Steven Novella empfiehlt in seinem Buch «Bedienungsanleitung für deinen Verstand» aus diesem Grund eine «neuropsychologische Demut»:
«Dazu zählt das gesamte Wissen darüber, wie unzulänglich und begrenzt unser Gehirn arbeitet. Schliesslich ist es das wichtigste Instrument, mit dem wir das Universum erkunden und zu verstehen versuchen. Deshalb sollten wir alle mehr darüber wissen, wie es funktioniert.»
Dabei sollten wir vor allem unsere eigenen Schwachpunkte im Auge behalten. Genau das vermeidet der toxische Zweifel und deshalb ist er arrogant. Er glaubt selbstherrlich, dass er die Welt einfach so passend und vollkommen unverfälscht erkennen kann. Und das ohne besondere Anstrengung. Dem gesunden Zweifel ist dagegen bewusst, dass nicht nur andere Menschen als Fake-News-Verbreiter und Verschwörungstheoretiker dem nüchternen, wahren Blick auf die Wirklichkeit im Wege stehen, sondern auch der gesund Zweifelnde selbst. Der gesunde Zweifel muss deshalb seine eigene Begrenztheit und Parteilichkeit mit einkalkulieren, um einem möglichst objektiven, plausiblen Blick auf die Geschehnisse ein Stück näher zu kommen.
☛ Der gesunde Zweifel setzt auf Wahrheitssuche in Dialogform
Der Wahrheit im Alleingang näher zu kommen ist eine hochgradig schwierige bis unmögliche Mission. Verbrechen werden in der Realität auch nicht von genialen Figuren wie Sherlock Holms aufgeklärt, sondern von arbeitsteiligen Teams im Stil einer Sonderkommission. Verschwörungstheoretiker neigen nicht selten dazu, ihre Erkenntnisfähigkeiten zu überschätzen.
Die Aufdeckung echter Verschwörungen ist in der Regel das Resultat von Reporterteams oder gar von länderübergreifenden Rechercheverbünden. Als Beispiel seien genannt die Watergate-Affäre und die Panama-Papers. Zur Aufdeckung der Watergate-Affäre wesentlich beigetragen haben die Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein von der Washington Post.
Bei den Panama Papers koordinierte das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) die einjährige Datenauswertung und weitere Recherchen. Am 3. April 2016 präsentierten 109 Zeitungen, Fernsehstationen und Online-Medien in 76 Ländern gleichzeitig die ersten Resultate zu dieser Steuervermeidungsverschwörung. Das ICIJ wird im übrigen von der von Open Society Foundations unterstützt. Diese Organisation wiederum wurde von
George Soros gegründet und wird von diesem Lieblingsfeind vieler Verschwörungstheoretiker unterstützt.
An solchen Beispielen lässt sich gut zeigen, dass echte Verschwörungen nicht von konspirationistischen Einzelfiguren und auch nicht von selbsternannten «alternativen Medien» aufgedeckt werden, sondern gerade von den «Mainstreammedien», die von Verschwörungstheoretikern so gerne diffamiert werden.
Soviel zum Unterschied zwischen toxischem und gesundem Zweifel.
Zur Balance zwischen Vertrauen und Kritik
Häufig zu beobachten bei Verschwörungsgläubigen ist das Phänomen, dass sie gegenüber angeblichen Verschwörern hochgradig und toxisch kritisch sind, gegenüber dem eigenen Lager und zugewandten «alternativen Medien» aber ausgesprochen unkritisch.
Der Philosoph Michael Hampe schreibt dazu in seinem Buch «Die Dritte Aufklärung» (Seite 24/25):
«Die Aufforderung, auf selbstbewusste Weise kritisch zu sein gegenüber denen, die einem vermeintlich helfen und einen fördern wollen, gehört zu den Empfehlungen, die Aufklärer immer wieder an diejenigen richteten, die sich allzu leichtfertig in die Hände anderer begaben und ihrem Denken blauäugig folgten. Doch die Balance von Vertrauen und Kritik ist sensibel. Ein Übermass an Vertrauen ist so gefährlich wie ein Übermass an Kritik und Misstrauen. Wer alles glaubt, was ihm erzählt wird, läuft Gefahr, sein Leben von Aberglauben. Gerüchten und Wichtigtuern, die ungeprüfte ‘Theorien’ verbreiten, bestimmen zu lassen. Wer allem misstraut, verliert ebenfalls die Orientierung. Allein und auf sich gestellt, kann kein Mensch in unserer komplexen Welt eine verlässliche Orientierung entwickeln. Die unaufgeklärten Anhänger von Verschwörungstheorien sind oft beides zugleich: zu kritisch gegenüber etablierten Verfahren und Eliten der Wissensgenerierung und zu vertrauensvoll gegenüber ‘alternativen’ Quellen des vermeintlichen ‘Wissens’.»
Berechtigtes Misstrauen missbrauchen, um allgemeines Misstrauen zu verbreiten
Diesem Thema widmet die Philosophin Susan Neiman einige Abschnitte in ihrem Buch «Widerstand der Vernunft». Sie geht zuerst auf die Lüge der Bush-Regierung ein, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitze:
«Diese Meldungen wurden ohne ernsthafte Prüfung von vielen renommierten Medien verbreitet. Später hat sich die New York Times öffentlich dafür entschuldigt; die Verantwortlichen der Bush-Regierung haben nicht einmal das für nötig gehalten. Über die Zahl der irakischen Toten gibt es noch keine verlässliche Auskunft, und die Folgen des Irakkriegs wirken bis heute nach. Wäre der sogenannte ‘Islamische Staat’ (IS) ohne diesen Krieg entstanden?»
So grausam der anhaltende Terrorismus auch sei, es gebe noch tiefgreifendere Folgen des Irakkriegs:
«Lügen wird immer mehr zur Normalität, das Vertrauen immere weiter zerstört, und diesere Vertrauensverlust wird wiederum für weitere Lügen ausgenutzt. Als die CIA berichtete, dass russische Hacker 2016 in die US-Wahlen eingriffen, um Trump zum Sieg zu verhelfen, konnte dieser den Bericht höhnisch abweisen: ‘Das sind dieselben Leute, die sagten, Saddam Hussein hätte Massenvernichtungswaffen.’
Berechtigtes Misstrauen zu missbrauchen, um allgemeines Misstrauen so weit zu verbreiten, dass keinen seriösen Untersuchungen mehr geglaubt wird – dies ist eine Taktik, die jede Form der Gemeinschaft unterhöhlt. Denn jede Gemeinschaft setzt eine gemeinsame Wirklichkeit voraus, deren Existenz von Trumps Sprechern aber geleugnet wird. Inzwischen meinen mehrere Kritiker, die Strategie sei bewusst gewählt worden: Die permanente Verbreitung von offensichtlichen Lügen diene dazu, Gegner zu verwirren. Psychologen nennen diese Strategie Gaslighting. Sie zielt darauf ab, ihr Objekt in den Wahnsinn zu treiben.»
Wahrheitsansprüche sind nicht immer Machtansprüche
Die Lügen rund um die Begründung des Irakkriegs haben eine Kultur des Misstrauens begünstigt. Verstärkt wurde diese Tendenz laut Susan Neiman durch postmoderne Theorien, die postulieren, dass hinter jeder Behauptung ein verborgener Machtanspruch steht, und hinter jedem vermeintlichen Ideal ein Interesse. Neiman illustriert das wieder am Beispiel des Irakkriegs:
«Hinter inflationärer Rhetorik über Gut, Böse und Demokratie stand die Lust auf Regionalherrschaft und Öl – sowie eine willkommene Ablenkung von einer Präsidentschaft, die 2002 als die schlimmste der amerikanischen Geschichte galt.
Für viele war dieser Krieg nun der letzte Beweis, dass jeder Versuch, Bösem entgegenzutreten, und jeder Versuch, Gerechtigkeit zu fördern, nichts anderes als Heuchelei sei, der zynische Versuch einer Gruppe, ihre Interessen mit moralischer Rhetorik zu verschleiern. Demnach liegt es in der Natur des Menschen: Jeder handelt, um seine Interessen durchzusetzen, seinen Freunden zu helfen, seinen Feinden zu schaden.»
Dieser Haltung fehlt es nach Susan Neiman an Logik:
«Aus der Tatsache, dass einige Menschen blaue Augen haben, kann man nicht schliessen, dass es keine anderen Augenfarben gibt. Aus der Tatsache, dass einige Moralansprüche verborgene Machtansprüche sind, kann man nicht schliessen, dass jeder Anspruch, für das Gemeinwesen zu handeln, einen Machtanspruch verschleiert….
Wer nur gelernt hat, jedem Wahrheitsanspruch mit Misstrauen zu begegnen, dem wird es schwer fallen, eine Lüge als solche zu erkennen…..
Wer glaubt, dass Wahrheit nur Macht ist, dass Ideale nur Interessen verschleiern, wird schnell zu dem Schluss kommen, dass lediglich die Interessen des eigenen Stammes zählen…
Wenn nur Stammesinteressen gelten, gibt es keine Basis für eine wirksame universelle Entrüstung.»
Eine zeitgenössische Figur, die alle Wahrheitsansprüche als Machtansprüche diffamiert, ist der US-Präsident Donald Trump. Jeder, der seine Lügen und Machtübergriffe in Frage stellt, wird als korrupt diffamiert oder als Mitglied eines angeblichen «deep state». Die Verschwörungstheorie des «deep state» behauptet, ein «Staat im Staat» aus Bürokraten und Geheimagenten tue alles, um Präsident Trump kaltzustellen.
Mit der «deep state»-Theorie lassen sich alle Widerstände und Misserfolge erklären. Die Wahrheit bleibt dabei auf der Strecke.
Im Zuge der Präsidentschaft Donald Trumps zeigte sich aber immer wieder, dass Beamte die Verfassung der Vereinigten Staaten höher werteten als die persönlichen Interessen Trumps und dafür auch persönliche Nachteile in Kauf nahmen. Ein Beispiel dafür ist FBI-Direktor James B. Comey, der von Trump entlassen wurde, weil er diesem die persönliche Loyalität versagte. Auch Oberstleutnant Alexander Semyon Vindman, Direktor für europäische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat der USA, stellte sich auf die Seite von Verfassung und Gesetz und gegen die persönlichen Interessen des Präsidenten, als er im Zuge des Amtsenthebungsverfahrens bestätigte, dass Trump die Ukraine zugunsten seiner eigenen Machtinteressen unter Druck gesetzt hat. Vindman wurde von Trump Anfang Februar 2020 entlassen.
Die Dreyfus-Affäre – ein historisches Beispiel
Ein historisches Beispiel dafür, dass Wahrheitsansprüche nicht immer mit Machtansprüchen verbunden sind, ist die Dreyfus-Affäre.
Dieser Justizskandal betraf die Verurteilung des jüdischen Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus 1894 durch ein Kriegsgericht in Paris wegen angeblichen Landesverrats zugunsten des Deutschen Kaiserreichs, die in jahrelange öffentliche Auseinandersetzungen und weitere Gerichtsverfahren mündete. Die Verurteilung basierte auf rechtswidrigen Beweisen und zweifelhaften Handschriftengutachten.
Der Justizirrtum entwickelte sich zum ganz Frankreich erschütternden Skandal. Höchste Kreise im Militär versuchten die Rehabilitierung Dreyfus’ und die Verurteilung des tatsächlichen Verräters Major Ferdinand Walsin-Esterházy verhindern. Antisemitische, klerikale und monarchistische Zeitungen und Politiker hetzten Teile der Bevölkerung auf, während hingegen Menschen, die Dreyfus zu Hilfe kommen wollten, bedroht, verurteilt oder aus der Armee entlassen wurden.
Der Schriftsteller und Journalist Émile Zola hatte 1898 mit seinem berühmt gewordenen Artikel J’accuse…! (Ich klage an …!) angeprangert, dass der eigentlich Schuldige freigesprochen wurde. Er musste aus Frankreich fliehen, um einer Haftstrafe zu entgehen.
Am 12. Juli 1906 hob schlussendlich das zivile Oberste Berufungsgericht das Urteil gegen Dreyfus auf und rehabilitierte den Offizier vollständig.
Diese Beispiele zeigen, dass hinter Wahrheitsansprüchen nicht immer Machtansprüche stecken, wie es toxischer Zweifel gerne unterstellen.
Fazit:
Wir sollten unterscheiden zwischen dem toxischem Zweifel, dem toxischen Misstrauen der Verschwörungsmythologen, und dem gesunden Zweifel, dem gesunden Misstrauen, die für Demokratie und Wissenschaft lebenswichtig sind.
Wir sollten Wahrheitsansprüche nicht vorschnell als Machtansprüche diffamieren, wenn es dafür keine Belege gibt. In vielen Situationen ist es notwendig, Wahrheitsansprüche aufrechtzuerhalten, weil nur so Macht auch kritisiert werden kann.
Siehe auch:
Michael Hampe über die schwierige Balance zwischen Vertrauen und Kritik