Vom italienischen Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Primo Levi (1919 – 1987) stammt der Satz, jedes Zeitalter habe seien eigenen Faschismus. Der kritische Punkt könne nicht erst erreicht werden, wenn der Terror polizeilicher Einschüchterung um sich greift, sondern bereits «wenn «Informationen unterdrückt und verzerrt werden, die Rechtsnormen nichts mehr gelten, das Bildungssystem versagt und auf tausenderlei Weise unterschwellig die falsche Sehnsucht nach einer Welt geweckt wird, in der Ordnung herrschte.»
(zitiert nach Albright 2018)
In Russland bewegt sich das Putin-Regime in raschen Schritten hin zu einem neuen Faschismus. Dabei spielen Verschwörungstheorien eine wichtige Rolle. Putin führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, weil er das Nachbarland angeblich «entnazifizieren» will. Doch wirklich faschistisch ist insbesondere die russische Gewaltpolitik.
Der neue Faschismus sitzt in Moskau, nicht in der Ukraine
Der Ausdruck «Faschismus» hat sich längst gelöst von Diktaturen wie jener Mussolinis oder Hitlers. Der Begriff kam auch danach reichlich zum Einsatz, vor allem um das Jahr 1968, nicht selten als linker Kampfbegriff. Man hielt sich in dieser Szene mehr oder weniger pauschal für antifaschistisch und die Kapitalisten alle für faschistisch.
Und im Kontext der Corona-Pandemie haben manche «Querdenker» und Impfgegner die «Fascho-Keule» sehr leichtfertig in den Mund genommen.
Auf die Spitze getrieben wird die missbräuchliche Verwendung des Begriffs, seit Wladimir Putin und seine Propagandamedien ihn pausenlos im Mund führen. Ihren Angriffskrieg in der Ukraine rechtfertigen sie damit, dass sie das Land vom Faschismus befreien müssten, was reine Demagogie ist.
Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Verwendung dieses Begriffs noch angemessen ist, und ob er für Russland inzwischen zutrifft.
Julian Schütt schreibt dazu in der «Luzerner Zeitung»:
«In Putins Russland zeigt sich eindeutig ein neuer Faschismus. Das behauptet nicht nur die ukrainische Seite, die sich gegen den russischen Angriffskrieg wehren muss. Das sagen inzwischen auch Osteuropa-Experten wie der renommierte amerikanische Historiker Timothy Snyder von der amerikanischen Yale University.»
Schütt begründet diese Einschätzung so:
«Wir sollten Putins Herrschaft also endlich als das entlarven, was sie ist: faschistisch. Wofür genug spricht: der Führerkult, die Mythisierung und Verklärung der eigenen Geschichte bis zur totalen Verfälschung mit Hilfe einer gigantischen Propagandamaschinerie, der beängstigende Nationalismus, die systematische Ausschaltung jeder Opposition, die Gerichtsurteile zwischen Schauprozess und Farce, der Rassismus und die Untermenschentheorien, der Terror im Innern und ausserhalb des Landes. Am gefährlichsten ist die imperialistische Gewalt. Sie führt zu Zerstörungskriegen wie jetzt in der Ukraine, die für das Putin-Regime keine selbstständige Nation mit eigener Kultur und Sprache sein darf.»
Weshalb ist Russland heute ein faschistischer Staat?
Timothy Snyder hat dazu der «Frankfurter Allgemeinen» ein Interview gegeben. Auf die Frage des Interviewers Konrad Schuller, weshalb er Russland für einen faschistischen Staat hält, antwortet Snyder:
«Gibt es etwas am russischen Staat, was heute nicht faschistisch ist? Hier eine Liste von Merkmalen des Faschismus, die auf Russland zutreffen: Eins: Einparteienherrschaft. Zwei: der Kult des Führers. Drei: Kontrolle der Medien. Vier: Kult des Imperiums, seiner Toten und seiner historischen Unschuld. Fünf: Die Welt wird durch Verschwörungstheorien erklärt. Sechs: ein Ständestaat nach dem Vorbild von Mussolinis Italien, nur noch radikaler. Sieben: Vernichtungskrieg und Völkermord. Acht: ein Kult des Willens und der Tat. Russlands hybride Kriegsführung, diese Kombination aus Propaganda und Gewalt, kann als Triumph des Willens über die Realität gesehen werden. Und dann natürlich die Idee vom Feind. Der Ausgangspunkt des Faschismus ist der Begriff des Feindes, und der Feind Russlands in Putins Sicht ist der Westen. So hat Carl Schmitt das definiert: Politik heißt, zu bestimmen, wer der Feind ist.»
In einem Beitrag für die „Moscow Times“ nennt Snyder drei Hauptkriterien dafür, dass Russland inzwischen im Faschismus angekommen ist: Es gebe dort einen Führerkult um Wladimir Putin, einen Totenkult um die Opfer des Weltkriegs und einen Vergangenheitskult um ein zurückliegendes goldenes Zeitalter imperialer Größe, das mit Hilfe heilender Gewalt wiederhergestellt werden müsse.
Anne Applebaum sieht „Anspruch auf totale Herrschaft“
Die renommierte Historikerin und Osteuropa-Kennerin Anne Applebaum beschreibt in einem Interview für die „Tagesschau“ das derzeitige politische System in Russland so:
„Russland ist ein autokratisches System, das viele Ähnlichkeiten zu faschistischen und kommunistischen Diktaturen der Vergangenheit in sich trägt. Es ist ein System, das auf einen einzelnen Führer zugeschnitten ist, der keine Fehler hat und der nicht ausgetauscht werden kann. Es gibt keine geregelte Nachfolge. Es gibt keinen legitimen Weg, ihn zu kritisieren. Und es gibt keine Möglichkeit Widerspruch zu zeigen. Jede Form der Opposition ist heute in Russland verboten, genau so wie alle Arten von Nichtregierungsorganisationen.“
Sie sei vorsichtig gewesen mit dem Begriff „faschistisch“, weil dann jeder gleich an die Ermordung von Juden und den Holocaust denke. Aber in diesem Fall würde sie sagen:
„Ja, man kann das Wort faschistisch benutzen. Die Art und Weise, in der Russen jetzt über die Ukrainer sprechen, ist genozidal. Sie reden davon, dass Ukrainer Menschen sind, die es nicht verdienen zu existieren, die von der Landkarte gefegt werden müssen, dass ihre „Rasse“, sogar ihr Name ausgelöscht werden muss. Die Ukraine sei kein richtiges Land. Russische Soldaten in der Ukraine erklären den Ukrainern, dass sie sie vom Schmutz befreien müssen, dass sie von der Erde entfernt werden müssen. Diese Art der Sprache kennen wir aus der Nazivergangenheit.“
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Faschismus
Mit ihrer Einschätzung zu Putins Russland sind Timothy Snyder und Anne Applebaum unter Fachleuten nicht allein. Neben den Gemeinsamkeiten gibt es aber auch Unterschiede zwischen historischen Faschismus-Formen und der Situation in Russland, wie die Ukraine-Expertin Liana Fix im Spiegel-Interview erklärt: Es gebe Fachleute, die sagen, Russland fehle dieser revolutionäre, modernisierende Charakter, den faschistische Systeme wie in Nazi-Deutschland und in Mussolinis Italien hatten. Russland sei eher revisionistisch, also rückwärtsgerichtet, statt revolutionär. Andere sähen aber durchaus faschistische Züge in Russland. Liane Fix selber findet es am sinnvollsten, im Moment von einer Diktatur mit totalitären Zügen zu sprechen, damit man nicht zu stark in historische Assoziationen hineinfällt.
Verschwörungstheorien als Elemente des Faschismus
In der Interview-Antwort Timothy Snyders in der FAZ ist unter anderem Punkt fünf interessant:
«Die Welt wird durch Verschwörungstheorien erklärt.»
Der italienische Schriftsteller, Philosoph und Medienwissenschaftler Umberto Eco (1932 – 2016) hat das Verschwörungsdenken als ein Kriterium für den «Ur-Faschismus» bezeichnet. An der Wurzel der urfaschistischen Psychologie liege «die Obsession einer Verschwörung, nach Möglichkeit einer internationalen. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen.»
Quelle:
Madeleine Albright, Faschismus – eine Warnung, Dumont 2018.
Umberto Eco, Der ewige Faschismus, Hanser 2020.
Die wahren neuen Faschisten sitzen in Moskau, nicht in der Ukraine (Luzerner Zeitung)
KRIEG IN DER UKRAINE: „In Berlin wirkt eine koloniale Haltung“ (FAZ)
Experte: Das spricht für Faschismus in Russland (Bayerischer Rundfunkt)
Ukraine-Expertin Fix bei SPIEGEL-Veranstaltung»: Deutschland muss endlich Stärke zeigen« (Spiegel)
Anne Applebaum: „Anspruch auf totale Herrschaft“ (Tagesschau)
Ausserdem:
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