Der russische Präsident Vladimir Putin hat am 24. Februar 2022 einen Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt und damit nicht nur das Völkerrecht und eine Reihe von Verträgen eklatant verletzt, sondern auch die europäische Sicherheitsordnung zerstört. In den Rechtfertigungsversuchen für Putin’s Ukraine-Krieg spielen Verschwörungstheorien eine Rolle, die schon seit Jahren in Russland gepflegt werden.
Der renommierte Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler veröffentlichte dazu bereits im Jahr 2021 in der Zeitschrift «Osteuropa (Nr. 7/2021) einen sehr lesenswerten Text. Er analysiert darin den Aufsatz «Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer», den der Kreml im Juli 2021 veröffentlichte. Als Autor wird Vladimir Putin aufgeführt, wobei allerdings offenbleibt, wieviel davon von ihm selber stammt.
Putin’s Aufsatz zeigt sehr deutlich, dass Russlands Staatsführung nicht akzeptiert hat, dass die Ukrainer eine eigene Nation mit einem unabhängigen Staat sind. Für Vladimir Putin ist die Ukraine nur ein „Anti-Russland“, hinter dem eine Verschwörung des Westens steht. In seinem Weltbild planen die USA und die EU von langer Hand, die Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen, sie auf ihren traditionell engen Bindungen an Russland zu lösen und Russland damit zu schwächen.
Kappeler weist aber im Gegensatz dazu darauf hin, dass die Westmächte der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit auf ihrem Weg Richtung EU und NATO viele Steine in den Weg gelegt haben.
Putin sieht ethnische Russen von Assimilation bedroht
Die ethnischen Russen in der Ukraine sieht Putin durch „eine gewaltsame Assimilation“ bedroht, die mit dem „Einsatz von Massenvernichtungswaffen“ vergleichbar sei. An diesem Punkt neigt Putin zu masslosen Übertreibungen.
Andreas Kappeler schreibt:
«Putins Vorstellung von der Ukraine als ‘Anti-Russland’ passt in sein bipolares Weltbild eines sowjetisch sozialisierten Geheimdienstlers. Er kann sich nicht vorstellen, dass die ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von sich aus auf die Strasse gingen und mit ihren Demonstrationen einen Machtwechsel erzwangen. Er will nicht glauben, dass es die demokratisch gewählte ukrainische Führung ist, die eine Annäherung an die EU und die NATO anstrebt und nicht die Westmächte.»
Putin ist geprägt durch Grossmachtdenken
Putin denke zudem in Grossmachtkategorien. Entscheidend sei für ihn einzig die Auseinandersetzung zwischen den führenden Mächten des Westens und Russlands, während die kleineren Länder nur Schachfiguren der ‘grossen Politik’ sind.
In seinem Aufsatz vom Juli 2021 spricht Putin eine Drohung aus, die er mit dem im Februar 2022 begonnenen Angriffskrieg in die Tat gesetzt hat:
«Wir werden niemals zulassen, dass unsere historischen Gebiete und die dort lebenden, uns nahestehenden Menschen, gegen Russland instrumentalisiert werden. Jenen, die einen solchen Versuch unternehmen, möchte ich sagen, dass sie auf diese Weise ihr Land zerstören.»
In seinem Fazit schlägt Putin den Bogen zu seinen fragwürdigen und einseitigen historischen Ausführungen:
«Ich bin überzeugt, dass die Ukraine echte Souveränität nur in Partnerschaft mit Russland erreichen kann. Unsere geistigen, menschlichen und zivilisatorischen Bande sind über Jahrhunderte entstanden, sie haben dieselben Ursprünge und sind durch gemeinsame Prüfungen, Errungenschaften und Siege gehärtet worden. Unsere Verwandtschaft wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sie lebt in den Herzen und im Gedächtnis der Menschen im heutigen Russland und in der Ukraine, in Gestalt der Blutsbande, die Millionen unserer Familien verbinden. Gemeinsam waren wir schon immer um ein Vielfaches stärker und erfolgreicher und werden es auch in Zukunft sein. Schließlich sind wir ein Volk.»
Ob die Ukrainerinnen und Ukrainer das auch so sehen oder vielmehr anders, spielt im Denken des Vladimir Putin offenbar keine Rolle.
Andreas Kappeler kommentiert diesen Abschnitt so:
«Die Sprache dieses emotionalen Schlussabschnittes gibt einen Einblick in Putins Gedankenwelt, in der sich Sowjetpatriotismus, imperialer und ethnischer Nationalismus und ein Blut-und-Boden-Pathos vermischen.»
Ukraine als „Anti-Russland“ – Verschwörungsdenken kommt vor allem bei sowjetisch geprägten Menschen an
Wer Putins Argumentation ins Lächerliche ziehen wolle, mache es sich zu einfach, schreibt Kappeler. Die Denkfigur, dass die heutige Ukraine ein „Anti-Russland“ darstellt, hinter der eine Verschwörung des Westens steht, stosse bei den stark sowjetisch geprägten Menschen durchaus auf Zustimmung.
Putins Vorwurf, dass in der Ukraine in den letzten Jahren russophobe Tendenzen an Boden gewonnen hätten, hält Kappeler nicht für unbegründet. Putin nenne aber nicht den Hauptgrund dafür, nämlich die aggressive Politik Russlands gegenüber der Ukraine:
«Diese reicht vom Druck, den Moskau im Herbst 2013 auf die ukrainische Regierung ausgeübt hatte, um die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU in letzter Minute zu verhindern, über die Weigerung, den Machtwechsel in Kiew zu akzeptieren, bis zur militärischen Besetzung und völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und zur bewaffneten Unterstützung der Separatisten im Donbass. Der von Russland geschürte Krieg in der Südostukraine, der über 14 000 Todesopfer gefordert hat, fördert die Verbundenheit mit dem russischen Brudervolk nicht.»
Putin mache klar, «dass Russland sich mit einem Ausscheiden der Ukraine aus der von Russland reklamierten und dominierten Interessensphäre nicht abfinden wird.»
Vermutlich glaube er als altgedienter Geheimdienstoffizier auch an die groß angelegte „Anti-Russland-Verschwörung“ des Westens:
«Wenn sich Putin umzingelt und in die Ecke gedrängt fühlt, ist das ebenso gefährlich wie sein ethno-imperialer Nationalismus, der die Russen in der Ukraine und in den baltischen Staaten instrumentalisiert. Seine Drohungen sind ernst zu nehmen.»
Das schreibt Andreas Kappeler nur wenige Monate vor dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine.
Russen und Ukrainer als ungleiche Brüder
Der Osteuropa-Historiker hat allerdings schon in seinem Buch «Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer» (2017) auf die Bedeutung von Verschwörungstheorien in der russischen Ukraine-Politik hingewiesen:
«Die meisten Russen hatten und haben eine enge emotionale Beziehung zur Ukraine: ‘Es ist unmöglich, aus unseren Herzen zu reissen, dass die Ukrainer unser eigenes Volk sind. Das ist unser Schicksal – unser gemeinsames Schicksal’, so Jelzin im Jahr 1997, und der russische Ministerpräsident Viktor Černomyrdin ein Jahr früher: ‘Die Ukraine ist nicht nur ein Nachbar für uns. Sie ist Teil unserer Seele, und wir wollen zusammen sein für alle Zeit.’ Die Aussagen der beiden Politiker zeigten die zentrale Bedeutung auf, die die Ukraine für die russische Nations- und Staatsbildung hat. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Gorbačev und Jelzin, die genannten liberalen Politiker, der Führer der Kommunistischen Partei Russlands Gennadij Zjuganov und die beiden Literatur-Nobelpreisträger Iosif Brodskij und Aleksandr Solženicyn reagierten konsterniert und alarmiert auf die Abspaltung der Ukraine von Russland und riefen dazu auf, die ‘drei brüderlichen slawischen Völker’ (Russen, Ukrainer und Weissrussen) wieder zu vereinigen.
In Verschwörungstheorien wurde die Schaffung des ukrainischen Staates als Komplott der ukrainischen Eliten gegen ihr russlandfreundliches Volk oder als Anschlag des Westens auf Russland gedeutet. Solche Verschwörungstheorien waren unbegründet, denn der Westen war an Stabilität im Osten Europas interessiert und selbst vom Zusammenbruch der Sowjetunion überrascht worden, und das Interesse an der Ukraine war gering.»
Quellen:
Zeitschrift Osteuropa (7/2021), Der Geist der Zeit
Kriegsreden aus Russland, Manfred Sapper, Volker Weichsel (Hg.)
Berlin 2021, darin Seiten 67 – 76): Andreas Kappeler, Revisionismus und Drohungen, Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern (Volltext).
Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer – vom Mittelalter bis zur Gegenwart, C. H. Beck Verlag 2017.
Anmerkungen:
☛ Ein bipolares Weltbild, wie es Andreas Kappeler dem Kremlchef Vladimir Putin attestiert, ist sehr typisch für Verschwörungstheorien. Sie unterscheiden strikt zwischen Gut und Böse. Wurzeln für diesen Dualismus finden sich in der religiösen Sphäre. Siehe dazu:
Gnosis und Verschwörungstheorien
Manichäismus & Verschwörungstheorien
☛ Die alte Verschwörungstheorie, dass in der Ukraine russlandfeindliche Eliten eine russlandfreundliche Bevölkerung unterjochen, taucht im Februar 2022 als Rechtfertigungsversuch für die Invasion in die Ukraine auf. Putin hat verkannt, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine hinter dem Weg Richtung Europäisierung steht.
☛ Auch wenn viele Russinnen und Russen aus mythischen Gründen die Einheit zwischen Russland und der Ukraine beschwören, wünscht die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer die Unabhängigkeit von Russland und hat das auch via Abstimmung bestätigt. Beim Referendum im Dezember 1991 gab es dafür 90,3% Zustimmung. Putin negiert diese Realität, wenn er der Ukraine die staatliche Eigenständigkeit abspricht.
☛ Zum Zusammenhang zwischen Putin-Propaganda, dem Ukraine-Krieg und der Querdenker-Szene siehe auch:
Boris Reitschuster und der Ukraine-Krieg
Ukraine-Krieg: «Querdenker» fahren auf russische Propaganda ab
Verschwörungstheorien zum Krieg in der Ukraine
☛ Generell zu Verschwörungstheorien in Russland:
Verschwörungstheorien von westlicher Einkreisung haben in Russland Tradition