Die österreichische Philosophin und Publizistin Isolde Charim hat in der «Tageszeitung» (TAZ) einen lesenswerten Beitrag über die russische Propaganda gegen die Ukraine publiziert.
Propaganda sei nicht einfach Vernebelung der Massen durch eine Elite.
Propaganda bedeute vielmehr, dass der Blick auf die Dinge nicht ausreicht. Auch der Blick auf ein Massaker wie im ukrainischen Butscha nicht:
«Propaganda bedeutet, dass die Wahrnehmung nicht geleitet wird von dem, was man sieht. Man sieht vielmehr das, was man vorher schon geglaubt hat. Das ist der zentrale Moment der Propaganda: die Fantasie, an die man kollektiv glaubt. Eine kollektive Verschwörungstheorie gewissermaßen.»
Im Krieg finde sich Propaganda auf allen Seiten, schreibt Isolde Charim, aber die russische Propaganda sei eine besondere:
«Sie ist die Wiederbelebung einer alten theologischen Überzeugung: „Credo quia absurdum est.“ Zu Deutsch: Ich glaube, weil es der Vernunft zuwiderläuft. Schon die theologischen Meister der Propaganda hatten erkannt, dass genau der Widerspruch, die Antilogik, das stabilste Fundament des Glaubens ist.»
Kesselargument und Umcodierung als Elemente der Propaganda
Im Kesselargument werden einander widersprechende Aussagen verbunden: Die Toten seien eine westliche Inszenierung, heisst es dann zum Beispiel in der russischen Propaganda. Es handele sich in Wirklichkeit um Schauspieler. Das sehe man daran, dass die eine „Leiche“ gewunken habe. Und zugleich wird verkündet, dass die Täter keine Russen gewesen seien. Die Menschen seien erst nach dem Abzug der russischen Truppen getötet worden. Zwei Erklärungsvarianten, die sich gegenseitig ausschliessen.
Die Propaganda tritt aber auch als Verkehrung auf, als Umcodierung.
Isolde Charim schreibt dazu:
«Putin hat den Krieg von Anfang an unter die Parole einer „Entnazifizierung“ der Ukraine gestellt. Dazu musste der Begriff „Nazi“ aber umcodiert werden. Nazis sind nun nicht mehr Rechtsextreme, von denen es in der Ukraine einige gibt. In der russischen Version heißt Nazi einfach: Ukrainer. Oder wie der Historiker Timothy Snyder schreibt: Nazi ist ein Ukrainer, der sich weigert zuzugeben, dass er ein Russe ist.»
Propaganda-Schlagwort von der „Entnazifizierung der Ukraine“
Charim stellt die Frage, weshalb ein unzweifelbar autoritäres Regime, das Rechtsextreme weltweit finanziert, ausgerechnet die Parole von der «Entnazifizierung» der Ukraine verwendet.
Diese Parole sei ein propagandistischer Idealfall.
Zum einen werde damit die Erinnerung an die russische Heldengeschichte des Kampfes gegen die Nazis geweckt. Das russische Handeln heute werde damit geadelt und zu einer Wiederholung, zu einer Fortsetzung dieser glorreichen Vergangenheit.Juden,
Zum anderen jedoch ermögliche diese Parole den genau gegenteiligen Diskurs der Russen als Opfer eines Genozids, der Russen als neue Juden, die von den ukrainischen Nazis bedroht werden. Der Holocaust-Diskurs als die eindeutigste Gut-Böse-Zuordnung der Geschichte werde herangezogen und die Rollen mit Russen und Ukrainern neu besetzt. Damit gibt sich das russische Regime eine moralische Bestimmung, die garantieren soll, dass es das Richtige tut.
Das sei die hohe Kunst der Propaganda: Kesselargument und Umcodierung vereint in einem.
Die zentrale Frage sei, weshalb das funktioniert. Weshalb zwar nicht alle, aber viele Russen dem folgen.
Propaganda sei eben nicht einfach Falschinformation, Täuschung oder Manipulation, schreibt dazu Isolde Charim. Sie sei vielmehr Schutz der kollektiven Fantasie:
«Sie ist Abwehr, Schutzschild, wenn dieser Glaube eine Erschütterung erfährt. Etwa einen Einspruch durch die Realität. Deshalb ist Propaganda für die Gemeinten plausibel, wie absurd sie auch sein mag. Für Außenstehende ist sie jedoch völlig unnachvollziehbar.»
Quelle:
Russische Propaganda gegen Ukraine: Anti-Logik als stabiles Fundament (Tageszeitung)
Anmerkungen:
☛ Das Kesselargument ist ein oft verwendetes Element russischer Propaganda. Es werden verschiedenste und durchaus widersprüchliche Erklärungen zu einem Ereignis in die Welt geblasen. Ziel dabei ist es, Verwirrung zu stiften so dass die Menschen zum Schluss kommen, dass niemand wissen kann, was stimmt. Ein weiteres Beispiel für diese Taktik zeigte die russische Propagandastrategie beim MH17-Abschuss in der Ostukraine.
☛ Auch die Verschwörungstheorie, wonach unpassende Ereignisse einfach zur «Inszenierung» erklärt werden, hat eine lange Tradition. Ein krasses Beispiel dafür ist die Behauptung, der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School am 14. Dezember 2012 in Newton (USA) sei von Krisenschauspielern inszeniert worden. Siehe dazu: Sandy Hook Verschwörungsideologien.
☛ Für den Erfolg russischer Propaganda in Europa sind unter anderem russische Staatsmedien wie Russia Today / RT Deutsch verantwortlich.
Siehe dazu:
RT Deutsch (Russia today): Verschwörungstheorien als strategische Desinformation
☛ Weitere Beiträge zur Verbreitung von Verschwörungstheorien in Russland:
Kreml streut Verschwörungstheorien zum Ukraine-Krieg
Goldene Milliarde – antiwestliche Verschwörungstheorie in Russland
Sowjetunion: Verschwörungstheorien zu ihrem Zusammenbruch
☛ Es gibt aber auch «Influencer» im Westen, die zur Verbreitung russischer Propaganda zum Ukraine-Krieg beitragen, zu Beispiel Daniele Ganser und Markus Fiedler. Siehe dazu:
Daniele Ganser zum Ukraine-Krieg
Kreml-Propaganda: Markus Fiedler zum Butscha-Massaker