Der Philosoph Slavoj Žižek hat in der österreichischen Zeitung «Der Standard» einen Gastkommentar veröffentlicht zum Ukraine-Krieg und zur Paranoia Russlands.
In Russland sei verstärkt von einem globalen Konflikt die Rede, schreibt Slavoj Žižek:
«Die Chefin von „RT“, Margarita Simonyan, hat es so formuliert: „Entweder verlieren wir in der Ukraine, oder ein dritter Weltkrieg beginnt. Ich persönlich halte das Szenario eines dritten Weltkriegs für realistischer.“ Gestützt wird diese Paranoia durch wirre Verschwörungstheorien über ein gemeinsames liberal-totalitäres nazijüdisches Komplott zur Vernichtung Russlands.»
Dieser russischen Paranoia gegenüber sieht Slavoj Žižek insbesondere in Deutschland eine «neue Version des Pazifismus» Gestalt annehmend:
«Wenn wir uns jenseits aller hehren Reden auf das konzentrieren, was Deutschland tatsächlich tut, ist die Botschaft klar: Deutschland hat Angst, eine Linie zu überschreiten, ab der Russland wirklich in Rage gerät. Doch nur Wladimir Putin entscheidet, wo diese Linie an einem beliebigen Tag liegt. Sich die Furcht westlicher Pazifisten zunutze zu machen ist ein wichtiger Teil seiner Strategie.»
Offensichtlich wolle jeder den Ausbruch eines neuen Weltkriegs verhindern. Doch es gebe Zeiten, wo es den Aggressor nur ermutige, wenn man zu vorsichtig scheint:
«Wer Schwächere drangsaliert, zählt naturgemäß immer darauf, dass die Opfer sich nicht wehren. Um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern – um irgendeine Art Abschreckung zu erreichen –, müssen auch wir klare Linien ziehen.»
Slavoj Žižek kritisiert Jürgen Habermas
Slavoj Žižek geht im «Standard» auch auf den Text des Philosophen Jürgen Habermas ein, den dieser in der «Süddeutschen» zum Ukraine-Krieg veröffentlicht hat. Der deutsch Philosoph suggeriere sogar, dass die Ukraine der moralischen Erpressung Europas schuldig sei. Es sei etwas zutiefst Melancholisches an seiner Position:
«Wie Habermas sehr gut weiß, war Nachkriegseuropa nur aus der Sicherheit des nuklearen Schutzschirms der USA heraus in der Lage, dem Militarismus abzuschwören. Doch die Rückkehr des Krieges in Europa legt nahe, dass diese Zeit vorbei sein könnte und ein bedingungsloser Pazifismus immer tiefere moralische Kompromisse erfordern würde.»
Slavoj Žižek stellt aber auch die westliche Haltung zum Ukraine-Krieg in Frage:
«Während wir zuvor befürchteten, dass die Ukraine rasch unterworfen werden würde, war unsere wahre Furcht genau das Gegenteil: dass die Invasion zu einem Krieg ohne absehbares Ende führen würde. Eine sofortige Niederlage der Ukraine wäre sehr viel bequemer gewesen; sie hätte es uns erlaubt, unsere Entrüstung zu äußern, den Verlust zu beklagen und dann zum Business as usual zurückzukehren. Was eine gute Nachricht hätte sein sollen – dass ein kleineres Land dem brutalen Angriff einer Großmacht unerwartet und heroisch standhält –, hat sich zu einem Quell der Scham entwickelt: einem Problem, von dem wir nicht so recht wissen, wie wir damit umgehen sollen.»
Slavoj Žižek setzt sich in seinem Gastkommentar für den Boykott russischen Erdgases ein. Er sei sich der Auswirkungen eines Boykotts sehr wohl bewusst, schreibt der Philosoph:
«Er zöge etwas nach sich, was ich wiederholt als „Kriegskommunismus“ bezeichnet habe. Unsere kompletten Volkswirtschaften müssten neu organisiert werden, wie im Falle eines ausgewachsenen Krieges oder einer Katastrophe ähnlichen Ausmaßes.»
Quelle:
SLAVOJ ŽIŽEK:
Angst vor einem Krieg ohne Ende (Der Standard)
Anmerkung:
Es ist durchaus bemerkenswert, wie unzweideutig Slavoj Žižek der Kreml-Führung eine «Paranoia durch wirre Verschwörungstheorien über ein gemeinsames liberal-totalitäres nazijüdisches Komplott zur Vernichtung Russlands» diagnostiziert.
Das russische Regime lässt sich schon lange durch Verschwörungstheorien leiten und nutzt diese zur Propaganda.
Siehe dazu:
Kreml streut Verschwörungstheorien zum Ukraine-Krieg
Russland: Propaganda als kollektive Verschwörungstheorie
RT Deutsch (Russia today): Verschwörungstheorien als strategische Desinformation
Putin’s Bild der Ukraine ist geprägt von Verschwörungstheorien
Verschwörungstheorien zum Krieg in der Ukraine