Wladimir Putin setzt schon seit längerem auf Verschwörungstheorien, um die russische Öffentlichkeit in Stimmung zu bringen. Das Problem sei, dass er nun selber an diese Verschwörungsgeschichten zu glauben scheint, schreibt der Historiker Ilya Yablokov, Autor des Buchs „Fortress Russia – Conspiracy Theories in the Post-Soviet World“, in der New York Times. Er zählt dabei fünf der wichtigsten Verschwörungstheorien auf, die auch im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt werden. Eine davon besagt, dass der Westen die LGBT-Bewegung einsetze, um Russland innerlich zu zersetzen.
Ilya Yablokov schreibt zur Haltung von Kirill gegenüber der LGBT-Bewegung:
„Die fortschrittliche Einstellung des Westens zur sexuellen Vielfalt spielte schließlich in die ukrainischen Kriegsanstrengungen hinein. Im März behauptete Patriarch Kirill, das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, die Invasion sei notwendig, um russischsprachige Menschen in der Ukraine vor einem Westen zu schützen, der darauf bestehe, dass jeder, der in seinen Club der Nationen aufgenommen werde, eine Gay-Pride-Parade veranstalte.“
Der Ukraine-Krieg als Krieg gegen LGBT? Eine absurde Begründung
Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder hat in seinem Buch «Der Weg in die Unfreiheit» (2018) nachgezeichnet, wie systematisch und zentral für die russische Propaganda die Behauptung ist, der Russland-Ukraine-Krieg sei ein Krieg gegen «sexuelle Dekadenz», sprich Homosexualität. Nachdem es in den Jahren 2011 und 2012 zu Massenprotesten gegen das Putin-Regime gekommen ist, nimmt die Behauptung immer grösseren Raum ein, es gehe bei der Widerstandsbewegung gar nicht um Politik, sondern um eine internationale Verschwörung, welche Russland mit homosexueller Propaganda überschwemmen, die Geburtenrate senken und die Nation schwächen wolle. Auch die Maidan-Proteste in Kiew zwischen November 2013 und Februar 2014 wurden als «perverse» Homosexuellen-Verschwörung dargestellt.
Dabei gibt es bei der Bewirtschaftung von LGBT-Verschwörungstheorien in Russland einen engen Zusammenhang zwischen dem Regime und der orthodoxen Kirche.
Der Moskauer Patriarch Kyrill I. hat den Schutz der Gläubigen vor «Gay-Pride-Paraden» Homosexueller indirekt als Legitimation für den russischen Einmarsch in die Ukraine angeführt. In einer Sonntagspredigt am 6. März 2022 rechtfertigte Kyrill den Überfall mit der vermeintlichen Begründung, Präsident Wladimir Putin wolle die Ukraine vor Gay-Pride-Paraden schützen. Darüber hinaus bezeichnete er die Gegner Russlands als „Kräfte des Bösen“.
Quellen:
Beitrag auf Perlentaucher zu Ilya Yablokov
Der russische Schizofaschismus (Daniel Binswanger in der «Republik» zur Analyse des Historikers Timothy Snyder)
Moskauer Patriarch Kyrill: Krieg soll Gläubige vor «Gay-Parade» schützen (Kath.ch)
Beitrag zu Kyrill I. auf Wikipedia.
Anmerkungen:
☛ Patriarch Kyrill hat schon seit langem zur LGBT-Bewegung ein hoch gestörtes Verhältnis, das immer wieder in Verschwörungstheorien abgleitet. Dieses Beispiel zeigt, wie Verschwörungstheorien zu politischen Zwecken missbraucht werden können. Auch wenn sie noch so absurd sind, erfüllen sie innenpolitisch offenbar ihren Zweck.
☛ In Russland haben LGBT-Verschwörungstheorien aber auch dramatische Folgen für betroffene Menschen.
☛ Weitere Verschwörungstheorien zum Ukraine-Krieg:
Verschwörungstheorien zum Krieg in der Ukraine
Russland: Propaganda als kollektive Verschwörungstheorie
Kreml streut Verschwörungstheorien zum Ukraine-Krieg
☛ Generell zu Verschwörungstheorien in Russland:
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