Bestrafungs- und Rachephantasien sind ein wichtiger Bestandteil von Verschwörungsideologien. Den Anhängerinnen und Anhängern solcher Konstrukte geht es einerseits um Community-Building und um die Verbreitung von Propaganda, aber auch darum, mutmaßliche Verschwörer für die ihnen unterstellten, bösartigen Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Zu diesem Zweck müssen Sündenböcke gefunden und Feindbilder kreiert werden. Dazu ist es nützlich, bei allen unerwünschten oder auch schlimmen Ereignissen immer bösartige Motive zu unterstellen. Dazu neigen Verschwörungstheoretiker in besonderem Mass. Inkompetenz, Dummheit oder Fahrlässigkeit ziehen sie als Ursache kaum in Betracht (siehe dazu: Hanlons Rasiermesser).
Die fortlaufende Verwendung von Widerstandsnarrativen fördert darüber hinaus die Entwicklung von Rachephantasien.
Die Aufladung der Gegenseite als das absolut Böse rechtfertigt innerhalb des verschwörungsideologischen Milieus ein härteres Vorgehen gegen die vermeintlichen Verschwörer. Die Menschen, welche man als Schuldige für individuelles oder gesellschaftliches Leiden identifiziert hat, sollen bestraft werden. Dabei misstrauen Verschwörungsgläubige aber sehr oft dem Rechtsstaat. Polizei und Justiz, wird unterstellt, Marionetten der Verschwörer zu sein oder zu mindestens mit ihnen unter einer Decke zu stecken. Deshalb gehen die Rachephantasien in eine andere Richtung: Die angeblichen Drahtzieher der Verschwörung sollen im Rahmen von Tribunalen oder Militärgerichten zur Rechenschaft gezogen werden. Die Forderungen nach Bestrafung richten sich dann also nicht auf demokratisch legitimierte Gerichtsprozesse. Gefordert werden selbst initiierte Tribunale oder Militärgerichte. Werden doch ordentliche Gerichte eingeschaltet, dient das nicht selten der Vorführung der Justiz als korrupt. Jede Ablehnung der oft juristisch aussichtslosen Anträge und Anzeigen wird dann als Beweis dafür interpretiert, dass auch die Gerichte am Gängelband der Verschwörer agieren.
Beispiele für Rachephantasien auf dem Boden von Verschwörungstheorien zeigen sich gegenwärtig deutlich in der «Querdenker»-Szene und im QAnon-Kult.
Rachephantasien in der Querdenker-Szene
Die Rachephantasien der «Querdenker» richten sich gegen Medienleute, Virologinnen und Virologen wie Christian Drosten, gegen Behördenmitglieder wie RKI-Präsident Lothar H. Wieler, gegen Politikerinnen und Politiker wie beispielsweise Gesundheitsminister Jens Spahn oder SPD-Bundestagsabgeordneter Klaus Lauterbach. Und selbstverständlich gegen Bill Gates, den Lieblingsfeind vieler Verschwörungstheoretiker, der angeblich im Hintergrund die Strippen zieht und alle Akteure in der Corona-Pandemie kontrolliert.
In Anlehnung an die Nürnberger Prozesse (1945 – 1949) gegen führende Repräsentanten des Deutschen Reichs zur Zeit des Nationalsozialismus wird in den Telegram-Kanälen der «Querdenker» ein «Nürnberg 2.0» gefordert. Der Vergleich mit den historischen «Nürnberger Prozessen» ist dabei keineswegs zufällig gewählt. Er soll andeuten: Wer sich so verhält, muss auch mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen – bis hin zur Todesstrafe. Darüber hinaus werden mit dem «Nürnberg 2.0»-Gerede geschichtsrevisionistische Analogien bedient, die die Corona-Maßnahmen auf eine Stufe mit dem mörderischen NS-Regime stellen. Damit werden die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlost.
Sinan hat in seinem YouTube-Kanal die Rachephantasien von Bodo Schiffmann auseinandergenommen, einer Leitfigur der «Querdenker»-Szene.
Schiffmann fordert in einer Video-Botschaft, es sei an der Zeit, «die Schuldigen vor Gericht zu stellen.» Sinan weist an dieser Stelle auf das fragwürdige Rechtsstaat-Verständnis Schiffmann’s hin. Man bringt nicht Schuldige vor ein Gericht, man bringt Angeklagte vor Gericht, damit sie einen fairen Prozess gekommen, damit man herausfindet, ob sie schuldig sind. Sinan kommentiert: «Das ist ein grosser Unterschied. Er möchte ja im Prinzip keine gerechte Verhandlung, er möchte nur Menschen bestrafen, die aus seiner Sicht eben schuldig sind. Das ist ein himmelweiter Unterschied.“ Schiffmann fährt fort, dass die Schuldigen «lebenslänglich in Haft zu stecken» sind. Er bringt also das Strafmass bereits mit und schlägt «Einzelhaft» vor mit «der Verpflichtung, eine Maske zu tragen». Sinan zeigt nachvollziehbar auf, dass ein Rechtsstaat nicht so funktioniert, und dass Schiffman vollkommen auf dem Holzweg ist.
Siehe dazu Sinans Woche (ab Min 10.50):
Rachephantasien in der QAnon-Szene
Eine zentrale Verschwörungserzählung der QAnon-Bewegung lautet so: Liberale und demokratische Politikerinnen und Politiker halten in geheimen Höhlen und Bunker massenweise Kinder gefangen, um sie zu foltern und ihnen das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom abzuzapfen. Donald Trump ist der Heilsbringer und Erlöser der QAnon-Szene. Hier wird ernsthaft geglaubt, dass Trump die gefangenen Kinder befreien wird und die Corona-Pandemie nur davon ablenken soll. Und zu gegebener Zeit wird Trump all die liberalen Politiker und Politikerinnen vor ein Militärgericht bringen. Dummerweise sind alle bisher prophezeiten Daten für diese grosse Abstrafung bisher folgenlos verstrichen. Aber die QAnon-Fans werden wohl auch nach der zehnten fehlgeschlagenen Prophezeiung noch nicht merken, dass sie verarscht werden und sich selber verarschen.
Quelle:
Nürnberg 2.0 als Chiffre (CeMAS)
Ausserdem:
Viele Verschwörungstheorien unterminieren den Rechtsstaat. Das zeigt sich unter anderem darin, dass die Bestrafungs- und Rachephantasien nur selten rechtsstaatliche Vorgehendweisen im Focus haben. Phantasiert wird von Tribunalen, Militärgerichten, Aufhängen……
Rachephantasien sind genauso wie Widerstandsnarrative Warnsignale im Kontext von Verschwörungstheorien. In den abgeschlossenen Filterblasen der Verschwörungsgläubigen können sich solche Konstrukte leicht hochschaukeln. Es kommt dann zu Radikalisierungsprozessen, weil die extremsten Stimmen oft am meisten Aufmerksamkeit und Zuspruch bekommen.
Die Sicherheitsbehörden sollten in solchen Fällen genau hinschauen. Es ist nicht auszuschliessen, dass radikalisierte und/oder instabile Verschwörungsideologen von der Phantasie zur Tag schreiten.
Siehe auch:
Verschwörungstheorien unterminieren den Rechtsstaat
Verschwörungstheorien als Katalysatoren von Gewalt