Im Kontext von Verschwörungstheorien können sich Widerstandsnarrative herausbilden. Das sind Erzählungen, die eine existenzielle Bedrohung heraufbeschwören. Sie können dann von Verschwörungstheoretikern zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen werden, wenn sie Gewalt in Notwehr uminterpretieren. Viele Verschwörungstheorien kommen ohne Widerstandnarrative aus. So zeigen beispielsweise die «Mondlandungslüge» oder die «Flache-Erde-Verschwörungstheorie» keine Tendenzen in diese Richtung. Andere Verschwörungstheorien sind mehr oder weniger deutlich durch Widerstandsnarrative geprägt. Deutlich zu sehen sind sie bei der Verschwörungstheorie vom «Grossen Austausch». Auch der QAnon-Kult bewirtschaftet Widerstandsnarrative. Im Verlauf der Corona-Pandemie tauchten sie auch zunehmend in der «Querdenker-Szene» auf.
Widerstandsnarrative in der «Querdenker-Szene»
In der «Querdenker»-Szene haben sich Widerstandsnarrative rasant entwickelt. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn von einer vermeintlichen «Corona-Diktatur» schwadroniert wird. Auch wenn der Demagoge Ken Jebsen in einem Video faktenwidrig behauptet, dass Corona-Demonstranten verhaftet wurden, nur weil sie das Grundgesetz bei sich trugen, füttert er die irregeleitete Vorstellung, Deutschland sei ein Unrechtsstaat, gegen den Widerstand geboten sei. Wer sich in einem Unrechtsstaat wähnt, fühlt sich schnell einmal zu Gewalt berechtigt. Widerstandsphantasien werden auch genährt, wenn eine Jana aus Kassel sich auf einer Corona-Demonstration mit Sophie Scholl vergleicht oder wenn Leute an solchen Kundgebungen mit aufgenähten gelben «Judensternen» auftreten. Die selbsternannten «Querdenker» vergleichen sich damit mit Verfolgten im Nationalsozialismus. Sie schreiben sich damit eine absolute Opferrolle zu, diffamieren die demokratische Gesellschaft und relativieren die Leiden der realen Opfer im «Dritten Reich».
Auf dem Boden solcher Widerstandsnarrative gedeihen zum Beispiel Morddrohungen gegen Virologen und Angriffe auf Impfzentren.
QAnon-Kult instrumentalisiert Missbrauch von Kindern
Im QAnon-Kult wird die Verschwörungstheorie verbreitet, dass liberale und demokratische Politikerinnen und Politiker masseweise Kinder in Höhlen gefangen halten. Dort werden die Kinder angeblich gefoltert, um ihnen das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom abzuzapfen. Diese faktenfreie Erzählung ist hochgradig demagogisch und dient der Diffamierung von politischen Gegnern Donald Trumps. Mit dem Thema Kindsmissbrauch lässt sich besonders gut Empörung und Wut auslösen und für politische Manipulation instrumentalisieren. Wer würde sich nicht auf die Seite der Kinder stellen? Zur Widerstandphantasie, die Kinder notfalls auch mit Gewalt zu retten, ist es dann nicht mehr so weit, wenn man nur stark genug an diese Lügengeschichte glaubt.
Das zeigte sich im Jahr 2016 im sogenannten «Pizzagate», einem Vorläufer der QAnon-Verschwörungstheorie.
Unter dem Schlagwort Pizzagate wurden im Jahr 2016 Falschmeldungen auf 4chan und Reddit zum US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf verbreitet. Darin wurde behauptet, dass in der Pizzeria Comet Ping Pong in Washington ein Kinderpornoring tätig sei, bei dem auch die Kandidatin Hillary Clinton mitwirke. Diese klassische Verleumdungskampagne führte dazu, dass am 4. Dezember 2016 ein bewaffneter Mann in die Pizzeria eindrang, um die angeblich dort festgehaltenen und missbrauchten Kinder im Keller zu befreien. Er gab zwei Schüsse auf ein Türschloss und einen Computer ab. Nachdem er nichts gefunden und festgestellt hatte, dass es keinen Keller gibt, ließ er sich widerstandslos festnehmen. Die Vorstellung akut bedrohter Kinder löst fast reflexartig Widerstandnarrative aus, die sich politisch instrumentalisieren lassen.
«Grosser Austausch» – die zentrale Widerstandsphantasie im Rechtsextremismus
Der „Grosse Austausch“ ist gegenwärtig eine der gefährlichsten Verschwörungstheorien von Rechtsextremen und Rechtspopulisten. Sie wurde als Rechtfertigungsversuch für eine Reihe von Attentaten genutzt (z. B. El Paso, Christchurch, Kassel, Halle). Das zeigt ihr hohes Potenzial als Widerstandsnarrativ. Gemeint ist mit dem Begriff vom «Grossen Austausch» die hochgradig irreale Vorstellung, dass Migration durch „Eliten“ planmässig gesteuert wird. Die einheimische Bevölkerung soll damit durch Migrantinnen und Migranten ersetzt werden.
Nicht selten wird konkret der jüdische Investor und Philanthrop George Soros als geheimer Lenker der Flüchtlingsströme beschuldigt. Soros wird von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten gern als Feindbild bewirtschaftet. Die Verschwörungstheorie vom «Grossen Austausch» bekommt dadurch einen antisemitischen Aspekt.
Die Verschwörungstheorie vom „Grossen Austausch“ setzt ein ausgesprochen realitätsfernes Menschen- und Geschichtsbild voraus. Dass Menschen – die Verschwörer – den Verlauf gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Vorgänge wie zum Beispiel die weltweite Migration ihren Intentionen entsprechend lenken können, ist hochgradig irreal. Geschichte ist nicht in dieser Art planbar. Den angeblichen Verschwörern wird jedoch die Fähigkeit zugeschrieben, über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg die Geschicke eines Landes oder gar der Welt zu bestimmen.
Widerstandsnarrative als Warnsignal
Zeigen sich in einer Verschwörungstheorie Widerstandsnarrative, ist das ein Warnsignal. Sicherheitsbehörden sollten in diesen Fällen genau hinschauen, um allfällige Entwicklungen hin zu Gewaltanwendung erkennen zu können.
Quelle:
Experte: CoV-Leugner sind „harter Kern“ (ORF steiermark)
Ausserdem:
Verschwörungstheorien als Katalysatoren von Gewalt
Widerstandsnarrative zeigen sich oft zusammen mit Rachephantasien. Siehe dazu:
Rachephantasien im Kontext von Verschwörungstheorien