Viele Verschwörungstheorien liefern mehr oder weniger ausgedehnte Begründungen. So präsentieren zum Beispiel 9/11–Truther manchmal seitenweise Begründungen zur Baustatik von Hochhäusern und zum Schmelzpunkt von Stahl. Typisch für Verschwörungstheoretiker ist allerdings, dass die Begründungen sehr selektiv daherkommen. Verwendet werden nur Daten, Zitate oder Studien, die zur eigenen Überzeugung passen. Eine unvoreingenommene Bewertung aller vorliegenden Erkenntnisse bleibt aus. Wir haben es hier mit dem Phänomen des Rosinenpickens zu tun (cherry picking). Hier gibt es zudem mehr zum Umgang mit Beweisen im Kontext von Verschwörungstheorien.
Begründungen fehlen in vielen neueren Verschwörungstheorien
Klassische Verschwörungstheorien streben in der Regel danach, eine komplizierte Welt verständlich zu machen, indem dunkle Kräfte und mächtige Eliten für bestimmte und häufig unerklärliche Ereignisse verantwortlich gemacht werden. Sie werden aufgestellt mit dem Anspruch, die «wahren Hintergründe» plausibel zu erklären. Am Ende steht meist eine komplexe, jedoch zusammenhängende Geschichte, welche als alternative Erklärung fungiert – eben eine Verschwörung mit Theorie.
In neuerer Zeit fallen aber Verschwörungserzählungen auf, die ohne Begründungen auskommen, ja sich sogar explizit durch Begründungslosigkeit auszeichnen. Sie operieren eher mit Andeutungen oder mit Fragen, die allerdings in der Regel bestimmte Antworten suggerieren.
Michael Butter hat in einem Interview für «Zeit Geschichte» auf eine Studie der US-amerikanischen Wissenschaftler Nancy Rosenblum und Russell Muirhead hingewiesen. Die Studie trägt den Titel «A lot of people are saying…”, eine Floskel, die Donald Trump im Wahlkampf 2016 häufig benutzte um von konspirativen Ideen zu sprechen. Rosenblum und Muirhead beschreiben Trumps Technik als «conspiracy without theory», also als Verschwörung ohne Theorie. Das bedeutet, dass es nur noch die Behauptung gibt, keine Herleitung mehr und schon gar keine Belege.
Michael Butter kommentiert:
«Eine lange “Beweisführung” passt einfach nicht mehr zum Charakter der sozialen Medien, wo weder Platz noch Zeit für so etwas ist. Die Theorie wird so zum Verschwörungsgerücht verkürzt, so wie Trump es häufig macht. Das ist bei ihm allerdings nicht alles, gerade im Wahlkampf hat er auch ausgewachsene Verschwörungstheorien verbreitet.»
Offenbar kommt es nicht mehr auf Argumente an, sondern nur noch auf Zuspruch, Applaus und Likes.
Wenn Begründungen in den Hintergrund treten und Begründungslosigkeit sich zunehmend ausbreitet, hat das aber wohl nicht nur mit den sozialen Medien zu tun. Es dürften hier auch weitere gesellschaftliche Veränderungen mitwirken, zum Beispiel ein «postmoderner Subjektivismus». Obwohl er viel früher gelebt hat, drückte der Kirchenvater Augustinus (354 – 430) ein wesentliches Element dieser Strömung aus:
«Geh nicht nach aussen, kehr zu dir selbst zurück. Im innern Menschen wohnt die Wahrheit.»
Wenn die Wahrheit im Inneren wohnt, braucht es keinen Austausch von Argumenten und keine Begründungen.
Postmoderner Subjektivismus
Zum postmodernen Subjektivismus schreibt Nils Heisterhagen in seinem Buch «Kritik der Postmoderne»:
«Im postmodernen Subjektivismus wird die eigene Meinung absolut gesetzt. Sie hat eine Legitimation – egal, was andere auch immer sagen mögen. Das moderne Ideal der Allgemeinheit wurde ja verabschiedet. Der Andere wird in gewisser Weise entmündigt. Denn im Subjektivismus ist der Andere unwichtig geworden. Er kann sagen, was er will, er kann argumentieren, was er will. Man braucht ihm ja noch nicht einmal mehr zuhören.
Dieser postmoderne Subjektivismus ist ein radikales Problem für die freie Welt. Der Postmodernismus ist kein zivilisatorischer Avangardismus. Im Gegenteil: Er ist eine radikale Gefahr für die Freiheit, für die Zivilisation.»
Das postmoderne Denken sei hegemonial geworden, schreibt Nils Heisterhagen.
In seinem Buch «Verantwortung» führt er den Zusammenhang zwischen fehlenden Begründungen und Subjektivismus weiter aus:
«Ich finde, ich habe Recht. Ich sehe das so, also habe ich Recht.
Von Ersterem ist es nicht weit zu Letzterem. Könnte man bei Ersterem noch Argumente anführen, eine Diskussion beginnen und dem anderen erzählen, warum man denn nun Recht zu haben glaubt, so gibt es bei Letzterem keine Argumente mehr. Da ist schon Schluss. Das “Ich finde, ich habe Recht” wird zum “Ich habe Recht”. Eine Begründung wird nicht mehr geliefert. Einzig die Emotion, wird sie nur laut und enthusiastisch genug vorgetragen, übernimmt dann die Funktion, zu beweisen, dass das Empfinden legitim oder rechtens sei. Dieser Subjektivismus hat sich in unsere Kultur eingeschlichen wie eine Epidemie. Eine neue Begründungslosigkeit ist kaum mehr zu leugnen. Man macht sich weniger Mühe, Argumente zu präsentieren und sie zu verdeutlichen. Solange online, etwa bei Twitter und Facebook, Menschen die Beiträge liken, in denen man nur seine Empfindungen und Gefühle mitteilt, wird das von manchen schon als ein ausreichendes Eingeständnis dafür wahrgenommen, dass die eigenen Empfindungen und Gefühle ja ihre Berechtigung haben – denn sie werden ja unterstützt. Und wenn jemand etwas unterstützt, muss er ja eine Legitimität und einen Grund darin sehen – auch wenn ihm dafür keine Begründung geliefert wird.»
Dadurch werden Begründungen und Argumente überflüssig. Heisterhagen fährt fort:
«Wozu also noch argumentieren, wenn es für Zustimmung nicht mehr wichtig ist? Wozu die Mühe machen, ein Argument zu durchdenken und klug zu formulieren, wenn man nur geschickt die Emotionen hochkochen lassen muss, um möglichst viele Likes zu ernten – die dann als Mass der Zustimmung gewertet werden? Wenn laut schreien oft effektiver ist als das ruhige Argument, wozu sich dann noch mit Denken quälen und mit Differenzieren plagen? Und wenn subjektive Betroffenheit manchmal wirkungsvoller durchschlägt als eiskalte Fakten, wozu dann noch Fakten sammeln.»
Der hier beschriebene Subjektivismus dürfte mitverantwortlich dafür sein, dass auch im Kontext von Verschwörungstheorien Begründungen an Bedeutung verlieren. Als wahr gilt dann vor allem, was sich war anfühlt (Truthiness) oder was zum Weltbild des eigenen «Stammes» passt (Tribalismus).
Quellen:
Nils Heisterhagen, Kritik der Postmoderne – Warum der Relativismus nicht das letzte Wort hat, Springer Verlag 2018.
Nils Heisterhagen, Verantwortung – Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels, DIETZ Verlag 2020.
ZEIT Geschichte Nr. 3/2020, «Vorsicht Verschwörung».
Ausserdem:
Die erwähnten Nancy L. Rosenblum und Russell Muirhead beschreiben in ihrem Buch («A Lot of People Are Saying») die neue Form des Verschwörungsglaubens als „new conspiracism“. Im Gegensatz zu klassischen Verschwörungstheorien wie etwa zum Attentat auf John F. Kennedy verzichtet „new conspiracism“ gänzlich auf Belege und Indizien. Er stützt sich allein auf Behauptungen und insinuierende Fragen. Auf Fragen also, die schon etwas unterstellen und einen Verdacht mit sich führen.
Mehr dazu hier:
New conspiracism – eine neue Variante des Verschwörungsglaubens
Delegitimieren als Ziel von Verschwörungstheorien (new conspiracism)