Fragen stellen ist wichtig – in der Wissenschaft, in der Demokratie, im Alltag. Doch Fragen stellen kann auch eine Strategie von Verschwörungstheoretikern sein. Sie stellen damit Vermutungen, Andeutungen und Unterstellungen in den Raum, ohne dafür Verantwortung zu übernehmen.
Dieses Vorgehen ist sehr zeitgemäss. Wir sehen inzwischen weniger gross ausgebaute, abstrakte Verschwörungskonstrukte mit zahlreichen (Schein-)Begründungen. Viel häufiger anzutreffen sind einfache Fragen wie:
«Vielleicht ist diese Corona-Krankheit geplant. Könnte doch sein, oder?»
«Könnten die Zwillingstürme am 9/11 nicht gesprengt worden sein? Vielleicht vom CIA? Oder vom Mossad?»
Das Denkbare ist beinahe unbegrenzt und braucht keine Argumente oder Fakten. Manchmal bleibt es auch bei reinen Andeutungen, zum Beispiel wenn Christina von Dreien zum Coronavirus sagt:
«Diejenigen Menschen, die auf der Erde das Sagen haben, die Fäden ziehen und die diese Macht nicht abgeben möchten, haben diesen Virus in die Welt gesetzt, um ihre Pläne weiter zu verwirklichen.» (mehr dazu hier)
Dieser Satz enthält keine Fragen, bringt sie aber unausgesprochen mit sich: Wer zieht die Fäden? Welche Pläne?
Diese Lücken füllt jeder Zuhörer und jede Zuhörerin mit eigenen Vorstellungen. So entstehen unzählige individuelle, perfekt an das Weltbild des Einzelnen angepasste Verschwörungserzählungen. Besser kann man mit den eigenen Ressentiments, Vorurteilen und Feindbildern nicht abgeholt werden. Und die Sprecherin ist dafür nicht verantwortlich. Sie muss auch keine Belege liefern.
Fragen stellen – Verdacht streuen
Oft wird die Frage aber auch explizit und repetitiv ausgesprochen, selbst wenn Antworten schon längst auf dem Tisch sind. Als obsessiv vorgetragene Vermutung enthält sie einen durch nichts widerlegbaren Verdacht. Gesellt sich dazu noch der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, kommen regelmässig noch ein paar Scheinbelege dazu. Sie begnügen sich bescheiden damit, noch keine «umfassende» Erklärung zu sein. Aber es seien genau solche «Fragen», die man stellen müsse, wenn man sich nicht von der «Lügenpresse» hinters Licht führen wolle, sagen die Verschwörungsgläubigen. Diese Strategie des «Nur-Fragen-stellens» hat der Historiker Philipp Sarasin prägnant beschrieben:
«Genau dieser Verneinung – „ich sage ja nicht, dass…, ich frage nur“ – verdanken Verschwörungstheorien in unseren postmodernen, gegenüber Wahrheitsbehauptungen skeptischen Gesellschaften ihr Funktionieren, ihre Attraktivität und ihre Durchschlagskraft: Sie sind als Frage getarnte Theorien, die nicht widerlegt werden können. Sie müssen nicht unbedingt explizit die Verschwörer benennen – vor allem dann nicht, wenn sie sich nicht gänzlich ins paranoide Reich der Geisterseher verabschieden, sondern gleichsam noch „massenmedientauglich“ bleiben wollen. Eine solche Verschwörungstheorie kann sich ganz darauf beschränken, in den leeren Raum, den ihre Fragen öffnen, ihre unausgesprochenen Antworten als bloße Vermutungen stehen zu lassen. Durch die Behauptung aber, nur Fragen zu stellen und keine Aussagen zu machen, ist sie nicht zu widerlegen; sie hält die Türe zum Reich der Geisterseher ständig offen.»
Als Fragen getarnte Unterstellungen
Mit solchen als Fragen getarnten Vermutungen betreten Behauptungen und politische Vorurteile den öffentlichen Raum, die sich in einer offenen Debatte kaum legitimieren liessen.
Um mit ihren Fragen, Andeutungen und Unterstellungen in den öffentlichen Raum vordringen zu können, konstruieren Verschwörungsgläubige eine Art von Ausnahmezustand. Weil ein «Notstand» zu benennen sei, der von der «Lügenpresse» verschwiegen werde, weil auf eine «Katastrophe» hingewiesen werden müsse, die sonst von den «Mainstreammedien» unter den Teppich gekehrt werde, fühlt sich der Verschwörungsgläubige ermächtigt, nun doch seinen Verdacht – die blosse Frage – zu äussern: Steuert nicht doch George Soros weltweit die Migration, um zusammen mit Angela Merkel den Grossen Austausch der europäischen Bevölkerung ins Werk zu setzen? Ist das Coronavirus nicht doch absichtlich freigesetzt worden? Vielleicht von Bill Gates?
Noch die abstrusesten Verschwörungstheorien haben die Funktion und den Effekt, dass sie den Raum des Sagbaren verschieben und politische Debatten neu „framen“. Sie fordern Energie ein, um zurückgewiesen zu werden, bekommen damit Aufmerksamkeit in den Medien und dringen genau damit in die Kapillaren öffentlicher Diskurse ein. Sie entfalten damit eine korrosive Wirkung.
Verschwörungstheorien als Trostspender
Selbst in der Form blosser „Fragen“ bieten Verschwörungstheorien ihren Anhängern ein gewisses Mass an Trost, das die begrenzteren, hypothetischeren, bescheideneren Vermutungen und Theorien der Wissenschaft nicht zu bieten vermögen.
Verschwörungstheorien und Verschwörungsmythen vermitteln die beruhigende Gewissheit, dass auch die schrecklichsten Ereignisse nicht zufällig passieren. Dass die Verhältnisse und Vorfälle, denen wir alle ausgesetzt sind, in keinem Fall als eine unglückliche Verkettung von zufallsabhängigen Umständen zu deuten sind. Oder als Folge von komplexen Abläufen, die für uns undurchschaubar erscheinen.
Philipp Sarasin schreibt dazu:
«Verschwörungstheorien….postulieren handelnde, agierende Subjekte hinter anonymen Prozessen – und sie ermöglichen daher, Verantwortliche, ja Schuldige zu adressieren. Sie behaupten das Vorhandensein eines Planes, der die verwirrenden Verhältnisse zu entwirren und die „eigentlichen“, die „verborgenen“ Zusammenhänge zu erklären scheint. Der „Plan“ und die mit ihm assoziierten „Verschwörer“ bilden ein erklärendes Zentrum für disparate Phänomene, er suggeriert Einsicht, Verstehen, ja Durchschauen der Verhältnisse.»
Quelle: Was ist falsch an Verschwörungstheorien (Geschichte der Gegenwart)
«Geschichte der Gegenwart» ist generell ein sehr informativer, ergiebiger Blog. Hier zur Startseite.
5 Punkte zu den Fragen von Verschwörungsgläubigen
☛ Bei der speziellen Art und Weise, wie Verschwörungsgläubige Fragen einsetzen, sind fünf Punkte bemerkenswert:
- Genau besehen handelt es sich bei diesen Fragen um Suggestivfragen, die Unterstellungen enthalten.
- Mit der Strategie des «Nur-Fragen-stellens» mogelt sich der Verschwörungsgläubige um die Verpflichtung und Verantwortung herum, für seine Behauptungen auch wasserdichte Belege präsentieren zu müssen. In Frageform präsentiert sind andeutende Behauptungen schwer fassbar und man kann sich immer hinter das Fragezeichen zurückziehen.
- In einer Zeit, die Wahrheitsansprüchen skeptisch gegenübersteht, kommt das «Nur-Fragen-stellen» gut an. Es erscheint als offen und sanft. Die Unterstellung und Aggression, die darin enthalten sein kann, wird dabei oft übersehen.
- Kommt das verschwörungstheoretische «Nur-Fragen-stellen» auf breiter Front zur Anwendung, fördert es die Entwicklung einer umfassenden Verschwörungsmentalität. Sie kann zersetzend wirken auf demokratische Institutionen und Prozesse.
- Die „Nur-Fragen-stellen“-Strategie ist an den Antworten nicht wirklich interessiert. Es geht ihr fast ausschliesslich um die Fragen (als Unterstellungen). Darum kommt die Frage repetitiv immer wieder, auch wenn mehr oder weniger plausible Antworten geliefert werden. Mit denen befasst sich der Verschwörungsgläubige nur insofern, als er sie schnell entwerten muss. Gelingt das nicht, wechselt er meist rasch auf eine andere Frage.
Weitere Aspekte
☛ Intensiv auf die Strategie des «Nur-Fragen-stellens» stützt sich zum Beispiel Daniele Ganser. Allerdings hat er sich nach langer Zeit nun festgelegt, dass das Gebäude WTC 7 seiner Ansicht nach gesprengt worden ist.
☛ Das „Fragen stellen“ auf vielfältige Weise missbraucht werden kann, beschreibt Maja Beckers in einem sehr lesenswerten Essay auf „Zeit online“:
Das wird man ja wohl noch fragen dürfen!?
Hier daraus ein Zitat:
„Seine Unterstellungen…in eine Frage zu gießen, heißt, sie weniger angreifbar zu machen. Wer fragt, kann kaum der Lüge überführt werden. Man fragt ja nur…Bequem hat man mit provokanten Fragen auch gleich alle Beweislast umgekehrt, denn wer fragt, muss nicht antworten. Sollen die anderen doch erklären…..
Der Fragende genießt derweil seinen aufmerksamkeitsökonomischen Vorteil, im Zweifel indem er schon wieder neue Fragen aufbringt, die gar keine Antwort wollen. Denn Diskurse sind schnell, aber Fragen stets parat, ohne dass man erst aufwändig Wissen ranschaffen müsste. Die Frage steht jedem Laien zur Verfügung – und jedem, der sein Wissen absichtlich unter den Tisch fallen lässt. Und der mit ihr gesäte Zweifel lässt sich, im Zweifel, nur äußerst mühsam aus der Welt schaffen.“
☛ Die Digitalexpertin und Journalistin Ingrid Brodnig beschreibt in ihrem Buch „Einspruch – Verschwörungsmythen und Fake News kontern“, wie ohne jede Substanz ein Vorwurf in eine Frage gekleidet wird:
„Im Englischen nennt man das eine ‚loaded question‘ – eine Frage, die genau genommen eine kontroversielle Behauptung oder einen Vorwurf beinhaltet…Das Problem ist, dass Fragen oft als etwas rein Positives gesehen werden. So nach dem Motto: ‚Fragen wird man ja wohl noch dürfen!‘ Wir alle haben gelernt, dass Fragen ein wichtiges Instrument des Erkenntnisgewinns sind – kritische Fragen sind ausserdem ein zentrales Instrument der Kontrolle von Obrigkeiten. Es ist aber auch wichtig darauf hinzuweisen, dass nicht jede Frage auf Erkenntnisgewinn abzielt.“
Siehe auch:
Wenn Verschwörungsgläubige Fragen stellen….
Warnung vor scheinheiligen Fragen der Verschwörungstheoretiker