Die Politikwissenschaftler Nancy L. Rosenblum und Russell Muirhead beschreiben in ihrem Buch («A Lot of People Are Saying») eine neue Form des Verschwörungsglaubens. Sie beschreiben ihn als „new conspiracism“. Im Gegensatz zu klassischen Verschwörungstheorien wie etwa zum Attentat auf John F. Kennedy verzichtet „new conspiracism“ gänzlich auf Belege und Indizien. Er stützt sich allein auf Behauptungen und insinuierende Fragen. Auf Fragen also, die schon etwas unterstellen und einen Verdacht mit sich führen.
Klassische Verschwörungstheorien versuchen in der Regel, eine komplizierte Welt verständlich zu machen, indem dunkle Kräfte und mächtige Eliten für bestimmte und häufig unerklärliche Ereignisse verantwortlich gemacht werden. Sie werden aufgestellt, um die «wahren Hintergründe» plausibel zu erklären. Am Ende steht meist eine komplexe, jedoch zusammenhängende Geschichte, welche als alternative Erklärung fungiert – eben eine Verschwörung mit Theorie.
Behauptungen statt Belege
„New conspiracism“ dagegen erhebt einen Besitzanspruch auf die Realität, der nicht durch Fakten, sondern nur durch Wiederholung und Zustimmung scheinbar verifiziert wird.
Als Ziel gilt nicht das Widerlegen, sondern das Delegitimieren. Angegriffen wird gezielt die Glaubwürdigkeit von Menschen und Institutionen mit gesellschaftlich tragenden Rollen – also die freie Presse, Universitäten oder Regierungseinrichtungen.
Die Akteure nutzen oft die Abwesenheit von belastbaren Fakten in den ersten Stunden nach Ereignissen wie zum Beispiel einem Terroranschlag zur Lancierung von Falschmeldungen. Die Mechanismen der Social-Media-Plattformen helfen diesen falschen Narrativen, in das vorübergehende Vakuum zu stossen und die Aufmerksamkeit der Nutzer auf sich zu ziehen.
Wenn diese Angriffe auf den gesunden Menschenverstand in die Parteipolitik und die Wahlkämpfe eindringe, bestehe Grund zur Sorge, schreiben Rosenblum und Muirhead. Sie weisen darauf hin, dass es darauf ankomme, diesen gesunden Menschenverstand (im Sinne Thomas Paines) zu stärken, um damit die Demokratie gegen Verschwörungsideologien zu schützen.
Rosenblum und Muirhead erwähnen die QAnon-Ideologie als Beispiel für „new conspiracism“.
„New conspiracism“ am Beispiel des Brandes der Kathedrale Notre-Dame
Die Kathedrale Notre-Dame brannte noch keine Stunde, schon breitete sich in den sozialen Netzwerken etwas anderes mindestens genauso schnell aus wie das Feuer: Verschwörungstheorien und Desinformation aller Art über die Brandursache. Auf Twitter bekundeten unter «#NotreDame» nicht nur Nutzer weltweit ihre Bestürzung. Auch eine ganze Reihe von Akteuren nutzte diesen Hashtag, um die Behauptung zu verbreiten, bei dem Brand handele es sich um einen islamistischen Terrorakt. Auf Twitter liess sich live mitverfolgen, wie sich drei Erzählstränge verbreiteten. Erstens die Behauptung, dass Isis (IS, Daesch) für den Grossbrand verantwortlich sei. Dann ein weiteres Narrativ, welches den Brand der Kathedrale mit früheren Kirchenschändungen in Frankreich in Verbindung zu setzen suchte. Und schlussendlich fand sich immer wieder die Behauptung, dass Muslime in Paris und weltweit die Zerstörung der Kathedrale feierten.
Die Urheber und Verbreiter dieser Geschichten waren Verschwörungstheoretiker, antimuslimische und rechtsextreme Aktivisten, insbesondere aus den USA. Die Stossrichtung hinter all diesen Narrativen: Sie sollten den Eindruck erwecken, dass Muslime schuld am Brand der Kathedrale seien. Beweise dafür waren jedoch keine vorhanden.
Desinformation mittels subtilen Andeutungen
Die beiden kanadischen Journalisten Jane Lytvynenko und Craig Silverman sind ausgewiesene Experten für Desinformation im Internet. Sie berichteten, dass während diesem Feuer vor allem US-amerikanische Rechtsextreme und Islamophobe versuchten, die Situation für ihre Ziele zu nutzen und Hass gegen Muslime zu schüren. Wie dabei im Sinne des „new conspiracism“ mit andeutenden Verdächtigungen gearbeitet wurde, beschreibt Felix Simon in der NZZ:
«Neben den offensichtlichen Versuchen – Bilder und Videoaufnahmen, die umgedeutet oder manipuliert worden waren – setzten die Aktivisten auf eine subtilere, wenn auch ungleich wirksamere und gefährlichere Methode. Geteilt wurden vor allem die bereits erwähnten Artikel über frühere verdächtige Brände in französischen Kirchen, versehen mit suggestiven Kommentaren wie «Der Westen ist gefallen!» oder «Christliche Kirchen werden attackiert [. . .] hmmm, woran könnte das liegen?» Der Brand in Notre-Dame wurde von vielen – unter ihnen der Blogger Mike Cernovich sowie die bekennende islamfeindliche Aktivistin Pamela Geller – zu einer Metapher für die westliche Zivilisation als Ganzes umgedeutet.»
Es werden Verschwörungen unterstellt, aber ohne eine Theorie mitzuliefern
Dieser „new conspiracism“ könnte als Verschwörungstheorismus übersetzt werden. Er hat sich laut Muirhead und Rosenblum im Internetzeitalter als ein neues Modell entwickelt. Es zeichne sich eben nicht durch die aufwendige Präsentation vermeintlicher Beweise oder elaborierter Theorien aus. Stattdessen werde in diesem Modell, wenn überhaupt, nur auf einzelne Fundstücke verwiesen und im Übrigen mit suggestiven Aussagen vom Schlage «Es ist kein Geheimnis, dass . . .» oder «Da kann man sich schon fragen . . .» gearbeitet. Speziell die letzte Floskel ist beliebt, ersetzt sie doch die Notwendigkeit für Argumente, Beweise und Erklärungen. Die fortlaufende Wiederholung solcher Aussagen, insbesondere im Internet, tut dann ein Übriges. Was zählt, ist am Ende nicht länger die Stichhaltigkeit, sondern wie häufig eine krude Behauptung oder eine in schlechter Absicht gestellte, doppeldeutige Frage durch Likes, Retweets, Views oder dergleichen sozial validiert wird.
Solche Behauptungen florieren und verbreiten sich besonders gut über die sozialen Medien. Sie multiplizieren sich dort und treten in Austausch, auch mit sogenannten «Alternativen Medien».
Es entwickeln sich digitale Gegenöffentlichkeiten, die es wiederum gestatten, die «Gatekeeper» – also traditionelle Medien – zu umgehen und sich dadurch einen Weg in die öffentliche Arena zu bahnen. Manchmal helfen zudem Politiker und bekannte Persönlichkeiten dabei mit, falls es zu ihrer Agenda passt.
„New conspiracism“ ist schwer zu bekämpfen
Dieser neuen Form der Manipulation etwas entgegenzusetzen, ist deshalb schwierig. Insbesondere auch, weil es sich oft nicht um direkte Formen von «Hate Speech» oder klar erkennbare Falschinformationen handelt. Rechtlich oder vonseiten der Plattformen ist ihnen darum nur schwer beizukommen. Ein Teil der Verantwortung liegt allerdings durchaus bei den Plattformen. Sie reagieren häufig auch dann nur zögerlich, wenn sie tatsächlich etwas ausrichten könnten. Den Verschwörungsideologen Alex Jones jedenfalls haben sie viel zu lange akzeptiert. Die Frage, wieviel Macht Plattformen wie Twitter und Facebook haben sollen, wenn es darum geht, über den öffentlichen Diskurs zu bestimmen, ist allerdings auch nicht einfach zu lösen.
Felix Simon schreibt in der NZZ:
«Am Ende wird wohl nur ein Vorgehen auf mehreren Ebenen helfen. Ein Teil der Verantwortung liegt bei bestimmten Medien, die solchen Akteuren durch ihre Berichterstattung – gewollt oder ungewollt – eine Plattform bieten. Ein Teil der Verantwortung liegt aber auch bei den Nutzern. Anstatt die Beiträge der Manipulatoren zu teilen, um sich anschliessend über sie aufzuregen, sich lustig zu machen oder sie zu widerlegen, sollte man die neuen Verschwörungstheoretiker und diejenigen, die sich der gleichen Techniken bedienen, besser mit dem strafen, was sie am meisten hassen: nicht beachtet zu werden.»
Quellen:
Die neue Art der Verschwörungstheorie: Es zählt die krude Behauptung (NZZ)
QAnon verbreitet Horrormärchen der Kinderfolterer (Die Mittelländische Zeitung)
Anmerkung:
Zum Konzept des „new conspiracism“ passt die Behauptung von vielen Verschwörungsgläubigen, dass sie ja nur Fragen stellen….
Siehe dazu: Fragen stellen als Strategie
Zum „new conspiracism“ siehe auch den Artikel in der Enzyklopädie:
Delegitimieren als Ziel von Verschwörungstheorien (new conspiracism)