Rosinenpicken ist eine klassische Methode zur Verbreitung von Desinformation und kommt häufig auch im Kontext von Verschwörungstheorien vor.
Umgangssprachlich handelt es sich beim «Rosinenpicken» um eine Metapher (ein Bildwort) für das eigennützige Bestreben, von etwas Bestimmtem nur die attraktivsten Teile zu sichern, um die eher unattraktiven anderen zu überlassen.
In der Argumentationstheorie bezeichnet Rosinenpicken eine Technik, bei der nur Belege oder Beispiele angeführt werden, die die eigene Argumentation stützen, während andere Belege, die gegen die Argumentation sprechen bzw. sie widerlegen, bewusst ausgeklammert werden.
Im Kontext von Verschwörungstheorien tritt Rosinenpicken oft in drastischer Form auf und gehört zum Standardrepertoire.
Bezieht sich das Rosinenpicken auf wissenschaftliche Erkenntnisse, kann man von einem Missbrauch der Wissenschaft sprechen.
In der Wissenschaft ist es nämlich notwendig, das gesamte zur Verfügung stehende Daten- und Beweismaterial auszuwerten, um zu einem gut begründeten Urteil zu gelangen. Pickt man sich nur einzelne «Rosinen» heraus, die einem in den Kram passen, wird die Datenlage verzerrt. Dieses Vorgehen hat deshalb einen manipulativen Anstrich und bereitet den Boden für Selbst- und Fremdtäuschung.
Allerdings ist die fundierte Auswertung der gesamten Daten- und Beweislage anspruchsvoll und in der Regel nur ausgewiesenen Fachleuten in einem bestimmten Bereich möglich.
Rosinenpicken ist im Gegensatz dazu nicht nur manipulativ, sondern auch noch viel einfacher, schneller und günstiger als die fundierte Auswertung der konsolidierten Belege. Kein Wunder, kommt diese Argumentationstechnik so häufig vor.
Rosinenpicken zeigt sich in verschiedenen Formen, von denen hier einige Beispiele näher vorgestellt werden sollen:
Rosinenpicken durch Verwendung von Anekdoten
Anstelle von soliden Belegen und überzeugenden Argumenten werden persönliche Erfahrungen oder isolierter Beispiele ins Feld geführt. Das zeigt sich unter anderem in der Impfgegner-Szene, wo dramatische Schilderungen von anekdotischen Geschichten, die angeblich «Freunden von Freunden» geschehen sein sollen, eine grosse Rolle spielen.
Dieses Vorgehen kann sehr wirkungsvoll sein, denn anekdotische Erzählungen haben oft eine hohe Überzeugungskraft. Sie führen aber auch oft in die Irre, weil sie sehr selektiv ausgewählt werden.
Beispiele für persönliche Anekdoten:
«Ich kenne niemanden, der an Corona gestorben ist oder ins Spital musste. So schlimm kann das nicht sein.»
«Ich hatte selber schon Corona. Das war etwa so wie eine starke Erkältung. So schlimm kann das nicht sein.»
«Jetzt ist es seit ein paar Wochen ausgesprochen kalt und wir haben viel Schnee. Wo soll da die Klimaerwärmung sein?»
In diesen Beispielen werden individuelle Beobachtungen und Interpretationen verallgemeinert, was nicht zulässig ist.
Rosinenpicken durch selektive Verwendung von Studien
Selektives Zitieren von Studien ist eine geläufige Form des Rosinenpickens. Eine einzelne Studie sagt oft wenig aus. Studien sind zudem von unterschiedlicher Qualität und Aussagekraft. Trotzdem werden von Verschwörungsgläubigen aller Art mit Inbrunst einzelne Studien oder einzelne Sätze aus Studien in den sozialen Medien herumgereicht, sofern sie sich als Unterstützung der eigenen Positionen nutzen lassen. Dass es auf die konsolidierte Gesamtdatenlage ankommt, spielt bei diesem «Telegram-Verkehr» in der Regel keine Rolle. Das zeigt sich gegenwärtig beispielhaft in der Coronaleugner-Szene und bei den Klimawandel-Leugnern. Es kommt dabei nicht darauf an, ob es sich um veraltete oder fehlerhafte Studien handelt oder um andere unseriöse Quellen. Hauptsache die Aussage passt zur eigenen Überzeugung. Die kritische Auseinandersetzung mit den Quellen ist ausserordentlich mangelhaft oder fehlt.
Eine spezielle Variante des Rosinenpickens ist die «Faultier-Induktion». Während beim üblichen „Rosinenpicken“ passende, erwünschte Informationen hervorgehoben werden, geht es hier eher um ein Vernachlässigen widersprechender Informationen. Die Informationssuche wird eingestellt, sobald ein passender Schluss gefunden ist (Faultier eben..).
Selektive Nutzung von Experten und Pseudoexperten
Rosinenpicken kann auch auf der Ebene der Expertinnen und Experten stattfinden.
Irreführende Informationen können grundsätzliche von jedem verbreitet werden. Speziell gefährlich sind diese Informationen, wenn sie von vermeintlichen Experten, die genauer als »Pseudoexperten« bezeichnet werden sollten, geäußert oder untermauert werden. Solche Pseudoexperten wirken auf den ersten Blick seriös und kompetent. Es handelt sich bei ihnen um Gruppen, denen man Seriosität zuschreibt, oder um Einzelpersonen, die meist einen Doktor- oder einen Professorentitel besitzen. Sie zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie keine Forschungsarbeiten in wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichen – dort müssten sie sich an wissenschaftliche Standards halten – sondern sich direkt zum Beispiel in YouTube-Videos an ein Laienpublikum wenden.
Am meisten Follower hat dabei, wer am besten den Wünschen und Bedürfnissen des Publikums entgegenkommt. Wie stark dieses Publikum Expertinnen und Experten nach den eigenen Bedürfnissen selektioniert, zeigt sich wiederum im Bereich der Corona-Krise. Drei Leitfiguren der selbsternannten «Querdenker» sind Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi, und Bodo Schiffmann. Alle drei sind Ärzte, doch keiner von ihnen hat spezielle Expertise in Bereichen wie Virologie oder Epidemiologie. Keiner kann Forschungsarbeiten vorweisen im Bereich der Coronaviren oder der Corona-Erkrankung. Sie werden von ihren Anhängerinnen und Anhängern selektiert, ausgewählt, weil ihre Aussagen zu den Wünschen, Bedürfnissen und Weltbildern des Publikums passen.
Treten diese Personen zum Beispiel in Talkshows oder Diskussionsrunden auf, sitzt ihnen bestenfalls eine anerkannter, seriöse Fachperson gegenüber. Dieses 1 : 1-Verhältnis verschiebt die Realität, in der es eine Vielzahl von seriösen Fachpersonen, aber nur eine kleine Zahl von Leugnern und Verharmlosern gibt. Dann spricht man von «false balance». Siehe dazu auch:
Warum keine Podiumsdiskussionen mit Bhakdi, Wodarg & Co.?
Die fragwürdigen «Corona-Experten» der «Querdenker»
Fazit:
Rosinenpicken widerspricht allen wissenschaftlichen Prinzipien, nach denen Hypothesen unvoreingenommen mit offenem Resultat geprüft werden sollen. Wer hingegen einer Ideologie oder einem Glaubenssystem nachläuft, kann diese kritische Offenheit nicht gebrauchen.
Rosinenpicken ist aber auch hochgradig manipulativ. Das Bewusstsein dafür, dass nur eine ausgewogene Bewertung der Gesamtdatenlage verlässliche Erkenntnisse bringen kann, sollte nachdrücklich und niederschwellig vermittelt werden.
Den entscheidenden Unterschied zwischen dem konsolidierten wissenschaftlichen Gesamtdatenstand und dem Rosinenpicken (cherry picking) erklärt Sinan anschaulich in seinem YouTube-Kanal:
Quellen:
True Facts, von Katharina Nocun & Pia Lamberty, Quadriga Verlag 2021.
Beitrag zum Thema “Rosinenpicken” auf Wikipedia.
Desinformation: Die Tools der Leugner (Pharmazeutische Zeitung)
Ausserdem:
Siehe auch als verwandtes Thema:
Bestätigungsfehler (Confirmation bias)