Seit Premier Viktor Orbán in Ungarn seinen einstigen Förderer George Soros zum Staatsfeind Nummer Eins deklariert hat, ist der Philanthrop und Milliardär zur Hassfigur der internationalen Rechten geworden. Wie konnte das geschehen?
Es gibt in der Gegenwart nur wenige Länder, in denen Verschwörungstheorien fest zum Instrumentarium staatlichen Handelns zählen. Ungarn gehört dazu. Es ist so praktisch, aber auch ausgesprochen billig, wenn man als Politiker alles, was schiefläuft oder sonst nicht passt, einem Sündenbock in die Schuhe schieben kann. Viktor Orbán macht das sehr erfolgreich. Zugleich kann er damit sich selbst und das, was er als sein «Volk» definiert, als Opfer böser Mächte hinstellen. Komplexe wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Vorgänge werden dadurch extrem vereinfacht. Orbán schlägt also mit seiner staatlichen Verschwörungstheorie gleich mehrere Fliegen auf einen Streich.
George Soros als Förderer von Viktor Orbán
Viktor Orbán hat ironischerweise genau jenen Mann zum Feindbild aufgebaut, der seinen Aufstieg maßgeblich gefördert hat. George Soros wuchs als Kind jüdischer Eltern auf, überlebte den Holocaust in Ungarn, wanderte nach der Machtübernahme der Kommunisten zunächst nach London aus und emigrierte 1956 in die USA. Dort verdiente er mit Finanzspekulationen Milliarden.
Geprägt von Karl Poppers Philosophie der „offenen Gesellschaft“ und nationalistischen und kommunistischen Schrecken gründete George Soros bereits im Jahr 1984 die Open Society-Stiftung. Damit unterstützt er seither weltweit Demokratie, Freiheits- und Menschenrechte, bis heute nach eigenen Angaben mit mehr als 15 Milliarden US-Dollar.
Interessanterweise profitierte von Soros‘ philanthropischem Engagement auch der junge Viktor Orbán und seine Partei Fidesz (Bund Junger Demokraten).
George Soros unterstützte die damals radikal-liberale Organisation mit großzügigen Summen. Der Milliardär ermöglichte Orbán und seinen Mitstreitern, ihre eigene Zeitung zu veröffentlichen; er finanzierte Sprachkurse und Parteibüros. Später bekamen viele Fidesz-Mitglieder von ihm Stipendien für ein Studium im Westen. Viktor Orbán ging damit nach Oxford.
Als in Ungarn nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft im Jahr 1989 Nationalisten anfingen, Soros für dessen Unterstützung liberaler Kräfte im Land zu diffamieren, verteidigte Fidesz dessen Engagement gegen die „niederträchtigen Attacken“. Enthusiastisch unterstützten Orbán und Co. die Gründung der von George Soros mitfinanzierten Central European University, die sich rasch zur angesehensten Hochschule Ungarns entwickelte. Etwa dreißig Jahre später vertrieb die inzwischen nationalkonservativ-rechtspopulistisch ausgerichtete Orbán-Partei eben diese Universität aus dem Land.
George Soros zum Staatsfeind Nummer 1 aufgebaut
Vor zirka fünf Jahren machte Premierminister Viktor Orbán nun aber George Soros zum Staatsfeind Nummer eins. Er diffamierte den 89-Jährigen als Strippenzieher einer großangelegten Verschwörung. Deren angebliches Ziel soll es sein, Orbán zu stürzen, Europas Nationalstaaten aufzulösen und ihre Bevölkerungen durch Migranten zu ersetzen. Damit verbreitet Orbán die höchst simple und realitätsferne Verschwörungstheorie von «Grossen Austausch», die in rechtpopulistischen wie auch in rechtsextremen Kreisen sehr populär ist. Viktor Orbán glaubt offensichtlich auch, dass George Soros nicht allein handelt, sondern ganz viele Helferinnen und Helfer hat. Laut der ungarischen Regierung gehören zu Soros’ «Söldnern» und «Agenten» Nichtregierungsorganisationen, Journalisten und Wissenschaftler, aber auch die Europäische Union und die Vereinten Nationen. Das ist ganz praktisch, denn so sind alle möglichen Gegner schon im vorne herein diffamiert.
George Soros als grosser Verschwörer – die Erfindung zweier US-Politikberater
Im Jahr 2002 verlor Viktor Orbán krachend die Wahlen und musste für acht Jahre in die Opposition. Doch im Jahr 2010 wurde er zum zweiten Mal ungarischer Premierminister – und das mit überwältigendem Erfolg und einem vollkommen anderen Programm. Seine Zweidrittelmehrheit im Parlament ermöglichte dem Ex-Liberalen, Ungarn zu einem „illiberalen Staat“ umzubauen. Dazu schränkte er die Pressefreiheit ein, änderte die Verfassung und besetzte das Verfassungsgericht mit ihm gegenüber loyalen Richtern.
Doch um seine Macht langfristig zu festigen, benötigte Viktor Orbán dringend ein Feindbild. Da ihm in Ungarn niemand mehr ernsthafte Konkurrenz machte, die Opposition zerstritten war und die meisten Medien auf Fidesz-Linie, was das gar nicht so einfach. Woher sollte dieser Sündenbock kommen?
Der entscheidende Anstoss kam von außen.
Im Jahr 2008 traf Viktor Orbán den einflussreichen US-Politikberater Arthur Finkelstein. Der wusste aus unzähligen Wahlkämpfen, wie wichtig es ist, dem Feind ein Gesicht zu geben.
George Soros passte da genau. Sein Einsatz für Liberalismus und Demokratie war der internationalen Rechten bereits seit langem ein Dorn im Auge. Die Nationalisten auf dem Balkan hassten Soros für die Unterstützung der demokratischen Opposition und Wladimir Putin für sein Engagement in der Ukraine und in Georgien. Selbst für die US-Republikaner war der Milliardär durch seine Spenden an die Demokraten, durch seinen Einsatz für den Klimaschutz und wegen seiner scharfen Kritik am Irakkrieg längst zur Hassfigur geworden.
Finkelstein und sein Geschäftspartner George Birnbaum waren überzeugt, dass George Soros für Viktor Orbán das perfekte Feindbild ist.
Soros hat ungarische Wurzeln, lebte jedoch schon Jahrzehnte in den USA. Er ist reich und engagiert sich weltweit politisch.
Die Kampagne gegen den Philanthropen und Milliardär startete im Sommer 2013 und erreichte im Verlauf der Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt.
Kampagne mit antisemitischen Untertönen
Es war die wohl größte und kostspieligste Plakatkampagne der ungarischen Geschichte: „Lassen wir nicht zu, dass Soros zuletzt lacht“, stachelte die Orbán-Regierung ihre Bürger auf. Kurz danach verabschiedete die Regierung das „Stop-Soros-Gesetz“, das sich gegen Nichtregierungsorganisationen wendete, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten einsetzen. Und schlussendlich vertrieb sie die von Soros mitgegründete, angesehene Central European University aus Budapest.
Im weiteren Verlauf fütterte die ungarische Regierung ihren Feldzug gegen Soros zunehmend auch mit antisemitischen Untertönen. So erklärte Orbán 2018 in einer Rede beispielsweise: „Wir kämpfen gegen einen Feind, der anders ist als wir. Nicht offen, sondern versteckt, nicht geradlinig, sondern schlau, nicht ehrenhaft, sondern unehrenhaft, nicht national, sondern international, der nicht an Arbeit glaubt, sondern mit Geld spekuliert, der kein eigenes Heimatland hat, aber so tut, als ob er die ganze Welt besitzt.“
Hier werden Codes angesprochen, die an antisemitische Einstellungen andocken.
Verschwörungstheorien stacheln zu Terroranschlägen auf
Rechtspopulisten und Rechtsextreme brauchen Feindbilder wie der Fisch das Wasser. Durch die Personalisierung von komplexen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Vorgängen wie der Migration löst man allerdings keine Probleme, man bewirtschaftet sie: Man eint das eigene Lager im Kampf gegen den Feind, kann alle Gegner damit diffamieren, lenkt ab davon, dass Milliarden an EU-Geldern in die Taschen von Orbáns Freunden fliessen….
Aber das Feindbild Soros hat sich inzwischen verselbstständigt und ausgebreitet.
Egal ob US-Präsident Donald Trump, der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan, Netanjahu oder Putin – sie alle haben Orbáns Verschwörungstheorie vom allmächtigen Puppenspieler Soros übernommen, der angeblich überall die Fäden zieht.
In den sozialen Netzwerken der Rechten und ihrer Anhäger wird George Soros als der Bösewicht schlechthin dargestellt. Rechtspopulistische Parteien von Europa bis Australien machen Stimmung gegen ihn und wirken dadurch mit an der Bewirtschaftung dieses Feindbildes. Soros wird zum neuen Teufel stilisiert für all diejenigen, die ohne eine solche Figur nicht auskommen.
Dass solche Hetzkampagnen zunehmend zu Gewalt führen, ist nicht wirklich überraschend: Mitarbeiter der Open Society Stiftungen wurden mehrfach angegriffen. Ein fanatischer Trump-Anhänger schickte im Jahr 2018 eine Rohrbombe an Soros‘ Privatadresse. Auch rechtsextreme Terroristen begründen ihre Angriffe zunehmend damit, einen angeblich von globalen Eliten geplanten „Bevölkerungsaustausch“ verhindern zu wollen – eine Verschwörungstheorie, in der George Soros eine zentrale Rolle spielt.
Gegenwärtig befeuert die Corona-Krise diese Hetze gegen Soros. Denn auch hinter der internationalen Kritik an Ungarns autoritären Pandemie-Maßnahmen steckt laut der Regierung in Budapest wer wohl? Natürlich George Soros. Der sei der „Großmeister“ der „Brüsseler Bürokraten“, behauptete Premier Viktor Orbán höchstpersönlich in einem seiner wöchentlichen Radio-Interviews im staatlichen Kossuth Rádió.
Das Feindbild Soros lässt sich ganz offensichtlich für jedes Thema wiederverwerten. Das ist doch praktisch. Wer will schon mühevoll immer wieder ein neues Feindbild aufbauen.
Quelle:
VERSCHWÖRUNGSTHEORIE: Wie George Soros zum Feindbild wurde (Deutsche Welle)
Anmerkungen:
☛ Mehr zu George Soros:
Soros, George (*1930 in Budapest), Lieblingsfeind vieler Rechtspopulisten und Rechtsextremen,
☛ Weshalb Populisten Verschwörungstheorien brauchen:
Verschwörungstheorien und Populismus
☛ Viktor Orbán unterminiert in Ungarn den Rechtsstaat. Über die Gefährdung des Rechtsstaats durch Verschwörungstheorien gibt es hier mehr Infos:
Verschwörungstheorien unterminieren den Rechtsstaat
☛ Weshalb Verschwörungstheorien generell demokratische Gesellschaften gefährden:
Warum sind Verschwörungstheorien eine Gefahr für demokratische Gesellschaften?
☛ Über die politische Instrumentalisierung von Verschwörungstheorien:
Welche politischen Interessen stehen hinter Verschwörungstheorien?
☛ Zu den Stichworten «Feindbilder» und «Sündenböcke»:
Feindbilder & Verschwörungstheorien
Sündenböcke als Kernelement von Verschwörungstheorien