Was können Angehörige tun, wenn Familienmitglieder oder Freunde in Verschwörungstheorien abdriften? Auch innerhalb von Familien zeigt sich manchmal ein destruktiver Extremismus. Das Thema Impfen oder nicht führt in manchen Familien zu tiefen Gräben. Das geht so weit, dass manchmal der Kontakt abgebrochen wird, wenn sich der Bruder oder die Freundin impfen lassen – oder eben nicht.
Die Standpunkte sind häufig so extrem, dass Angehörige nicht mehr zu einander durchdringen, sagte Verena Fabris, Leiterin der Beratungsstelle Extremismus, im Ö1-Morgenjournal: „Ein Viertel aller unserer Anrufe dreht sich mittlerweile um Verschwörungstheorien, oft in Zusammenhang mit Corona. Meistens sind es Konflikte in der Familie und Angehörige, die sich an uns wenden.“
Auch am Arbeitsplatz komme es häufig zwischen Kolleginnen und Kollegen zu unüberbrückbaren Differenzen bezüglich der Corona-Pandemie.
Die Beratungsstelle für Extremismus untersuchte 100 Fälle aus dem vergangenen Jahr und stellte Gemeinsamkeiten bei Menschen fest, die so stark in Verschwörungstheorien kippen, dass Angehörige Rat suchen: „Oft sind es Personen, die schon zuvor aktiv waren im esoterischen Milieu oder im alternativmedizinischen Milieu. Die Pandemie hat da wie eine Art Beschleuniger gewirkt.“
Oft verlieren sich Menschen in abstrusen Verschwörungstheorien, die in einer Krise sind, etwa den Job verloren haben, unter Isolation und Einsamkeit im Lockdown leiden. Manchmal kämen dazu noch „gröbere Probleme wie Spielsucht oder Drogensucht“.
Laut Fabris sind die betroffenen Menschen meist zwischen 40 und 60 Jahre alt. Das deckt sich mit der Altersverteilung aus empirischen Untersuchungen, die Corona-Maßnahmendemos analysierten. Davon sind Männer und Frauen gleichermaßen betroffen. „Es ist eine sehr diverse Gruppe, viele Akademikerinnen und Akademiker, viele Selbständige und außer Personen aus Deutschland kaum Personen mit Migrationshintergrund“, sagte Fabris.
Extremismus als Anlass für Beratungsgespräche
Zu den Beratungsgesprächen melden sich immer wieder Erwachsene, die nicht mehr zu ihren Eltern durchdringen, aber auch Personen, die ihre Partnerinnen und Partner, Brüder und Schwestern nicht mehr erreichen. Fabris erklärt dazu: „Sie haben das Gefühl, dass kein Dialog mehr möglich ist. Das Thema Impfen spaltet die Familien total, bis hin zu Aussagen wie ‚Du bist nicht mehr meine Tochter, wenn du dich impfen lässt'“.
Gründe für Anrufe bei der Beratungsstelle für Extremismus seien oft antisemitische, rechtsextreme Aussagen oder Sorgen um Kinder, die etwa nicht mehr in die Schule gehen dürften, sondern zuhause unterrichtet werden. Manchmal würde Kindern untersagt, auf den Spielplatz zu gehen, weil sie dort mit anderen spielen könnten, die geimpft sind.
Verschwörungstheorien bieten scheinbare Sicherheit
Bei der Entfremdung zwischen Familienangehörigen spielen Verschwörungstheorien eine große Rolle. Fabris erklärt die Funktion von Verschwörungstheorien folgendermassen: „Sie bieten ein Stück Sicherheit und wir sind in einer Situation, wo wir kollektive Unsicherheit verspüren, weil wir auch nicht wissen, wie es weitergeht mit dem Virus. Da bieten Verschwörungserzählungen erst einmal eine Orientierung, auch haben sie eine Entlastungsfunktion. Wenn ich weiß, wer schuld ist, brauche ich mich selbst damit nicht auseinanderzusetzen.“
Verschwörungserzählungen würden immer wieder Gewalt fördern, weil man sich selbst als Opfer sieht und deshalb das Gefühl hat, man müsse sich verteidigen. Das Gut-Böse-Schema vieler Verschwörungstheorien führe dazu, dass sich Menschen abschotten und keinen anderen Argumenten mehr zugänglich sind.
Wer in der Familie oder im Freundeskreis auf scheinbar unüberwindbare Fronten stößt, solle dennoch in Kontakt bleiben und versuchen, eine respektvolle Gesprächsebene zu finden, empfiehlt Verena Fabris: „Danach geht es darum, wahrzunehmen, warum es der Person so geht. Nachzufragen, vielleicht auch nach den Quellen zu fragen, mehr nach Gemeinsamkeiten suchen und auch gemeinsame Aktivitäten zu machen.“
Wie viele Menschen an Verschwörungstheorien glauben und von Staat, Medien und Politik nicht mehr erreicht werden, dazu gebe es keine Zahlen, sagte Fabris: „Aber unsere Beobachtung ist, dass es mehr werden. Ich kann nur empfehlen, den Kontakt zu halten, weil als Familie ist man oft noch der letzte Anker in eine andere Realität.“
Quelle:
Extremismus nimmt zu: „Nicht mehr meine Tochter, wenn du dich impfst“ (Kurier)
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