Die Opfermentalität findet sich verbreitet bei Verschwörungsgläubigen, aber auch bei Rechtspopulisten und Linkspopulisten sowie bei Extremisten aller Art (Rechtsextremisten, Linksextremisten, Dschihadisten). Die Opfermentalität verschafft diesen Gruppen eine ganze Reihe von Vorteilen. Wie kommt es zur Opfermentalität bei Verschwörungsglaubigen?
Verschwörungsgläubige pflegen mehr oder weniger ausgeprägt ein Feindbild: die Verschwörer. Sie setzen damit dogmatische eine Täterschaft. Wie jede dogmatische Setzung kommt auch diese ohne Beweise aus.
Und wo es eine Täterschaft gibt, gibt es auch Opfer.
Somit setzen sich Verschwörungsgläubige ebenso dogmatisch in die Opferrolle. Auch dazu braucht es keine Beweise.
Dieser Vorgang unterscheidet sich grundsätzlich von der Situation eines realen Opfers.
Sagt jemand aus, Opfer einer Tat geworden zu sein, braucht diese Behauptung, wenn sie Geltung beanspruchen will, einen Nachweis.
Verschwörungsgläubige brauchen diesen Nachweis nicht. Sie erzeugen einen Pappkameraden, dem sie die Täterschaft dogmatisch aufzwingen. Diese dogmatische Setzung ist selbst eine Form von Täterschaft, denn wer andere unbegründet und dogmatisch zu Tätern erklärt, ist selbst ein Täter.
Diese Täterschaft wird dadurch verdeckt, dass man sich selbst dogmatisch zum Opfer erklärt. Wird diese Setzung auch noch vom Umfeld akzeptiert und kommt ausserdem noch die Überzeugung dazu, dass das Opfer immer recht hat, wird diese Position fast unangreifbar.
Aus dieser selbst gesetzten Opferrolle heraus ist es leicht, andere für sich einzunehmen. Auf den ersten Blick ist es nämlich nicht immer einfach, echte und vermeintliche Hilflosigkeit zu unterscheiden. So kann aus dieser Position heraus auch wirksam um Solidarität und Unterstützung geworben werden.
Eine besonders widerliche Variante der Opfermentalität tauchte im Umfeld der Corona-Proteste erstmals deutlicher in der Öffentlickeit auf: Impfgegner nähten sich einen „Judenstern“ auf, verbunden mit dem Stichwort „ungeimpft“. Hier stellen sich Impfgegner auf die gleiche Stufe wie Opfer der Judenverfolgung im „Dritten Reich“. Das ist nicht nur vollkommen vermessen und ein Hinweis darauf, dass historisches Wissen fehlt oder nicht genutzt wird. Es kommt auch einer Verharmlosung des Holocausts gleich.
Opfermentalität zur Legitimation von Gewalt
Die Opfermentalität, die sich aus diesen dogmatischen Setzungen heraus entwickeln kann, lässt sich zur Legitimierung von Gewalt nutzen. Schliesslich wehrt man sich ja nur gegen verschlagene, mächtige Feinde, eben die Verschwörer. Solche Legitimationsstrategien sind bedeutsam zum Beispiel bei «Reichsbürgern» oder bei «Dschihadisten»
Aus der Opfermentalität beziehungsweise Selbst-Viktimisierung heraus kann sich eine Selbst-Heroisierung anschliessen.
Dann ist ausgiebig die von der gelungene Befreiung aus der angeblichen Unterdrückung. Erzählt wir dabei die Heldengeschichte des «Mutes zur Wahrheit» des «Aufwachens» aus dem Schlummer der unterdrückenden Ideologie oder des Schwimmens gegen den «Mainstream». Siehe dazu auch: Redpilling Lügenpresse
Literatur: Daniel-Pascal Zorn, Logik für Demokraten, Klett-Cotta 2017 (Seiten 49, 61, 300, 301).
Die Opfermentalität ist ein verbindendes Element zwischen Verschwörungstheorien und Rechtspopulismus. Das ist mit ein Grund dafür, dass Verschwörungstheorien und Rechtspopulismus so gut zusammenpassen.
Siehe dazu:
Verschwörungstheorien und Populismus
Die Opfermentalität bietet aber noch weitere «Vorteile»:
– Eine vorhandene Opfermentalität bietet gute Andockstellen für Rekrutierungsbemühungen durch Verschwörungstheoretiker und Extremisten.
– Die Opfermentalität lässt sich effektiv in Propaganda einbauen. Als Beispiel hier ein Slogan der NSDAP: «Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!» Mit dieser Parole hat die NSDAP zu Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Man sieht aber auch, dass damit ein Opfermythos mittransportiert wird. So lässt sich auch der Boden bereiten für Gewaltanwendung.
– Die Opfermentalität ermöglicht es Individuen, für persönlich erlittene Niederlagen und Misserfolge mit Hilfe von Verschwörungstheorien passende Sündenböcke zu finden. Das lässt sich beobachten in Radikalisierungsvorgängen bei Islamisten und Rechtsextremen. Ähnliche Opfermythen finden sich bei radikalen Anti-Feministen. Die damit verknüpfte Ideologie der sogenannten INCELs zeigt Überschneidungen zum Rechtsextremismus und in den USA vor allem zur Alt-Right-Bewegung.