Die Psychiaterin und Neurologin Heidi Kastner hat ein Buch über Dummheit geschrieben. Im Interview mit der SonntagsZeitung beschreibt sie genauer, was sie mit «Dummheit» meint und macht auch interessante Bemerkungen zu Faktenresistenz und Verschwörungstheorien.
Die zunehmende Bereitschaft, Verschwörungstheorien anzuhängen, erklärt Kastner so:
«Die zunehmende Komplexität der Welt hat diese Bereitschaft sicher verstärkt. Verschwörungstheorien sind umso attraktiver, je allumfassender sie sind und ein Welterklärungsmodell liefern. Dieses Expertenmisstrauen und das Gerede von postfaktischem Zeitalter oder alternativen Fakten schafft eine Grundstimmung, die dazu führt, dass sich Leute ihre eigene Position schnitzen auf Basis irgendwelcher abstruser Ideen und Faktenfreiheit mit Meinungsfreiheit verwechseln.»
Aber was ist nun genau Dummheit?
Dummheit sieht Kastner in der «Tendenz, Fakten zu ignorieren. Und im Sinne des kurzfristigen, unmittelbaren und scheinbaren Vorteils langfristige negative Folgen für sich und andere zu ignorieren. Dumme Menschen verstehen sich nicht als Teil eines Gefüges, für sie kommen immer nur die eigenen Belange an erster Stelle.»
Quasi als Rezept gegen die Dummheit empfiehlt die Psychiaterin, man müsse Dummheit als Fakt anerkennen. Sie sei immer einzukalkulieren.
Das zentrale Merkmal von dummen Leuten sei, dass sie ausschliesslich die eigene Position priorisieren und alles andere ignorieren. Das sehe man auch in dieser ganzen Corona-Pandemie, wo die Leute sagen: «Ich bleibe ganz bei mir.»
Da sei ständig von Eigenverantwortung die Rede: «Was, bitte, heisst denn das? Es heisst: Ich schaue nur für mich selbst und nicht für die anderen. Das kann nur funktionieren, wenn ich als Eremit irgendwo völlig isoliert in einer Höhle lebe. Dann – von mir aus – bin ich für mich verantwortlich und für keinen anderen. Aber sobald ich in einen grösseren sozialen Kontext eingebettet bin, ist dieses Unwort der Eigenverantwortung einfach ein völliger Blödsinn. Die Corona-Pandemie ist unglaublich ergiebig für das Thema Dummheit.»
Dialogbereitschaft – aber nur bei Gegenseitigkeit
Kastner wird im Interview auch auf den Graben angesprochen, der die Gesellschaft derzeit spaltet, weil sich zwei Welten gegenüber, jene der Impfbefürworter und der Impfgegner, die gar nicht mehr miteinander reden können. Sie findet aber, man müsse gar nicht immer miteinander reden:
Dialogbereitschaft sei zwar prinzipiell zu befürworten und eine gute Sache:
«Allerdings nur, wenn sie auf beiden Seiten vorhanden ist. Alles andere benennt man besser als das, was es ist. Nämlich eine zweckbefreite und absehbar ergebnislose Kombination zweier Monologe, und spart sich Mühe, Ärger und Zeit, mit Menschen zu diskutieren, die das Recht auf eine eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechseln. Es ist blauäugig, zu glauben, man müsse den Dialog offen halten. Die Regierung muss einfach entscheiden – und zwar auf der Basis der aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse.»
Die Interviewerin Nadja Pastega fragt dann, ob man auch nicht jene als dumm bezeichnen könne, die der Wissenschaft glauben, wenn doch deren Erkenntnisse jeweils so lange gültig sind, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Dem widerspricht Kastner ausdrücklich:
«Nein, der Wissenschaft zu glauben, ist nicht dumm. Sie ist immer in Bewegung. Der aktuelle Stand der Forschung ist jeweils der bestmögliche Informationsstand, unterliegt aber laufend weiteren Veränderungen, weil die Wissenschaft ja immer neue Erkenntnisse gewinnt. Wissenschaft impliziert immer, dass die Dinge im Fluss sind und sich Positionen verändern.»
Die Rede von Alternativen Fakten
Kritisch sieht Kastner auch den heutigen Umgang mit Experten und die Vorstellung von «alternativen Fakten», wie sie im Umfeld der Trump-Regierung verbreitet wurde:
«Es gibt keine alternativen Fakten. Es gibt Fakten und blöde Positionen, die die Fakten ignorieren. Früher hat man zumindest anerkannt, dass es Leute gibt, die etwas studiert haben, sich dort gut auskennen und wissen, wovon sie reden. Die anderen hielten entweder den Mund oder glaubten, was die Experten sagen. Mittlerweile ist es salonfähig geworden, zu sagen, die Experten seien verlogen.»
Es erstaune sie immer wieder, in wie vielen Bereichen sich Menschen Wissen und Fähigkeiten zuschreiben, die sie gar nicht haben.
Auf den Einwand, dass doch jeder glauben darf, was er will, sagt Kastner, man dürfe aber dummen Leuten nicht zu viel Raum und vor allem nicht zu viel Macht geben: «Sonst kann es gefährlich werden. Wenn sie sich selber schaden, ist das in einer freien Gesellschaft legitim. Aber wenn sie anderen schaden, ist das ein Thema, das man nicht mehr einfach völlig cool und gelassen hinnehmen kann.»
Dummheit hat Hochkonjunktur
Dummheit habe Hochkonjunktur: «Wenn die Waschmaschine kaputt ist, holt man mit grösster Selbstverständlichkeit einen Fachmann. Aber bei deutlich komplexeren Themen sprudeln manche Leute nur so von Gewissheiten. Eine beliebte Spielwiese ist die Medizin, wo es heute von selbst ernannten Fachleuten nur so wimmelt. Da werden gänzlich kenntnisfreie, ‘gefühlte’ Empfehlungen an den Mann und die Frau gebracht.» Der Schriftsteller Charles Bukowski habe es so formuliert: «Das Problem ist, dass intelligente Menschen voller Zweifel sind, während die dummen voller Vertrauen sind.» Die Dummheit habe aufgehört, sich zu schämen.
Kastner wird dann gefragt, wie sie darauf komme, und antwortet:
«Wann haben Sie das letzte Mal von irgendwem gehört: ‘Das weiss nicht’?»
Es sei mittlerweile völlig aus der Mode gekommen, zuzugeben, dass man Dinge nicht weiss.
Was sie denn für Kriterien habe, um Dummheit zu vermessen, wird Kastner gefragt.
Sie sagt dazu, dass es vermessen wäre zu sagen, dass man Dummheit vermessen kann. Das könne man nicht. Es gebe bis heute ja auch keine gute Definition von Intelligenz. Als dumm müsse man sicher jene bezeichnen, die mit gefühlten Wahrheiten oder Intuitionen daherkommen und dann sagen, die Intuition sei eine wesentliche Erkenntnisquelle.
Das möge zwar in gewissen Lebenssituationen nützlich sein, etwa wenn es zum Beispiel um Dinge wie Sympathien oder Antipathien geht. Aber wenn es um die Bewertung von Fakten gehe, sei die Intuition gefährlich:
«Wir hatten vor einiger Zeit in Österreich dieses furchtbare Unglück mit der Gletscherbahn in Kaprun. Da sind die Leute in grosser Zahl gestorben, weil sie intuitiv versucht haben, aus dem brennenden Tunnel nach oben zu flüchten. Das war falsch, weil Feuer nach oben brennt. Aber jeder von uns hätte wahrscheinlich die Intuition gehabt, nach oben wegzulaufen, dem Licht zu.»
Auf die Frage, wie man erkennt, dass man es gerade mit einem Dummen zu tun hat, antwortet Kastner:
«Daran, dass bei diesen Menschen immer andere schuld sind. Sie sind nie dafür verantwortlich, wenn irgendwas schiefgeht. Sie stellen sich selber nicht infrage. Andere kommen auch mal auf die Idee, dass sie nicht immer die klügsten Dinge machen.»
Quelle:
Interview mit Psychiaterin Heidi Kastner: «Dummheit hat Hochkonjunktur»
(SonntagsZeitung, Abo)
Ausserdem:
☛ die Aussagen mögen zum Teil hart klingen. Interessant ist aber, dass Kastner Dummheit nicht einfach als fehlende Intelligenz definiert, sondern eine komplexere Umschreibung bietet.
☛ Wenn Kastner sagt, es erstaune sie immer wieder, in wie vielen Bereichen sich Menschen Wissen und Fähigkeiten zuschreiben, die sie gar nicht haben, dann weist das vielleicht auf den Dunning-Kruger-Effekt hin. Er besagt, dass Anfängerinnen und Anfänger in jedem Bereich dazu neigen, ihre Fähigkeiten zu überschätzen. Der Dunning-Kruger-Effekt ist auch bedeutend im Bereich von Verschwörungstheorien.
Siehe dazu:
☛ Das Buch von Heidi Kastner:
Dummheit, von Heidi Kastner, Kremayr Und Scheriau Verlag 2021
☛ Hier gibt es weitere Zitate von Heidi Kastner aus einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“: