Sie würden halt «selbstdenken», sagen Verschwörungsgläubige gern. Und das ist ja eigentlich ein guter Vorsatz. Doch es gibt dabei eine Reihe von Haken. Ist «Selbstdenken» grundsätzlich und immer gut – und im Gegensatz dazu «fremddenken» grundsätzlich schlecht?
Zu mindestens könnte man sagen, dass es verschiedene Arten von «Selbstdenken» gibt:
☛ produktives «Selbstdenken», das neue Erkenntnisse generiert und Irrtümer identifiziert und bekennt.
☛ destruktives «Selbstdenken», das Erkenntnisse ignoriert und Irrtümer verbreitet.
Selbstdenken kann also Segen oder Fluch sein.
Dazu lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit der Aufklärung (1720 – 1800).
Immanuel Kant (1724 – 1804) hat Selbstdenken als ein Motto der Aufklärung so beschrieben:
«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so grosser Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe es nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdriessliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem grösste Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, ausser dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt ausser dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so gross nicht, denn sie würden durch einige Mal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen liess. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fussschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun.
Dass aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich, ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende….finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werths und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden……Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonnirt nicht! Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondern exercirt! Der Finanzrath: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern glaubt!…Hier ist überall Einschränkung der Freiheit.»
Aus: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ (1784), von Immanuel Kant.
Das sind sehr löbliche Vorsätze. Tatsächlich ist «Selbstdenken» eine Grundvoraussetzung für die Existenz demokratischer Gesellschaften. Das lateinische Sprichwort «Sapere aude» bedeutet Wage es, weise zu sein! Es wird meist in der Interpretation Immanuel Kants zitiert, der es 1784 zum Leitspruch der Aufklärung erklärte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Nur haben sich die Zeiten seither geändert. Das stellt auch andere Voraussetzungen an das «Selbstdenken».
Damals wurde «Sapere aude» als Wahlspruch der Aufklärung insbesondere von Gelehrten eingefordert. Sie arbeiteten unter den Bedingungen der Zensur und erblickten um sich herum nur lähmende Unmündigkeit in meist monarchisch regierten Systemen. Schon Kant beschäftige aber die Sorge, dass es das Ende jeden Gehorsams wäre, wenn alle mündig sein wollten. Er versuchte dieses Risiko dadurch abzufedern, dass er streng zwischen öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch unterschied. Ein Beamter mag als Staatsbürger öffentlich selber denken, so viel er will. In seiner Amtsfunktion jedoch «ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonieren; sondern man muss gehorchen».
Was bedeutet Selbstdenken heute?
In demokratischen Gesellschaften ist die Erlaubnis zum Selbstdenken grundsätzlich vorhanden. Jede und jeder darf sich ein eigenes Urteil bilden. Und zusammengenommen sind die Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft politisch souverän.
Selbstdenken stellt jedoch demokratische Systeme vor einige Herausforderungen. Es muss mit Idealen von Fachkenntnissen und Expertise in Einklang bleiben und Stabilitätsinteressen berücksichtigen.
Zwar sind die Möglichkeiten selbst zu denken dank der globalen Verbreitung und Zugänglichkeit von Informationen und Meinungen ins Unermessliche gewachsen. Das bringt aber auch eine hochgradige Komplexität mit sich, die viele Menschen überwältigt und selbst «Gebildete» in vielen Bereichen überfordert.
In unserer Zeit muss das Selbstdenken drei Punkte besonders im Auge behalten:
- Es muss sein Verhältnis zum Expertenwissen klären.
- Es muss seine eigene Fehleranfälligkeit und seine Schwachpunkte beachten und daraus eine gewisse Demut pflegen, weil es sonst in Arroganz umschlägt. Selbstdenken muss selbst-reflexives Denken sein.
- Selbstdenken geht nicht isoliert. Es braucht dazu öffentliche Diskursräume und DiskussionspartnerInnen.
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Das Verhältnis des Selbstdenkens zum Expertenwissen
Der Selbstdenker gleiche einem Monarchen, der niemanden über sich anerkennt, schreibt Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) in Parerga und Paralipomena (Bd. 2 §265). Aber was heisst das genau in einer komplexen, hochgradig spezialisierten Gesellschaft? Jeder Mensch ist inzwischen auf den allermeisten Fachgebieten Laie und nur sehr eingeschränkt zu fundierten Urteilen fähig. Wir sind auf die Fachkompetenz anderer Menschen angewiesen. Wir vertrauen lieber auf kompetente Piloten, Chirurginnen, Tunnelbauer oder Lokführerinnen. Exzessives Selbstdenken von Laien hat in diesen Bereichen kaum Platz. Als Fluggast ist es wohl sicherer, den Piloten im Cockpit als „Monarchen“ zu anerkennen und ihm nicht „selbstdenkerisch“ gewonnene Anweisungen zu geben. Und als Patient wird man sich hüten, der Chirurgin detaillierte Vorgaben zur Operationstechnik zu machen.
Wer sich als Selbstdenker betätigen will, muss deshalb seine Grenzen kennen. Niemand kann in allen Fragen kompetent sein. Doch wie können wir herausfinden, welche Expertinnen oder Experten vertrauenswürdig sind?
Erstens sollten wir die Falle vermeiden, nur denjenigen Fachleuten zu vertrauen, die unsere Weltsicht bestätigen und die wir infolgedessen als zum eigenen «Lager» gehörig auffassen.
Zweitens ist es nützlich, sich die Methoden anzuschauen, mit denen diese Fachleute ihre Erkenntnisse gewinnen.
Drittens lohnt sich ein Blick auf eventuelle ausserwissenschaftliche Interessen oder Abhängigkeiten.
Viertens stellt sich die Frage, wie die Kompetenz einer Fachperson von Kollegen eingeschätzt wird und ob sie auf dem Boden des akzeptierten Wissens im jeweiligen Fachbereich stehen.
Fünftens ist auf Anzeichen zu achten, ob die betreffende Fachperson ihrerseits die Grenzen ihres Wissens erkennt und transparent macht, oder ob sie das nicht tut.
Sechstens ist in manchen Fällen eine Zweitmeinung einer weiteren Fachperson sinnvoll, die nicht direkt in das anstehende Projekt involviert ist.
Siebentens lässt sich Vertrauen in Fachleute in vielen Fällen auch probeweise vergeben. Es kann gegebenenfalls nach einer gewissen Zeit und einer Evaluation wieder entzogen werden..
Diese sieben Punkte garantieren natürlich kein sicheres Urteil über die Fachkompetenz von Expertinnen und Experten. Doch nur blinde Gläubigkeit macht es möglich, diese Punkte vollständig zu ignorieren.
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Selbstdenken muss selbst-reflexives Denken sein.
Es genügt nicht, einfach nur seinen eigenen Verstand einzusetzen, selbst Schlüsse zu ziehen und Urteile zu bilden, ohne sich darüber klar zu werden, was dieser Verstand leisten kann und worin er begrenzt ist. Selbst-reflexives Denken ist kritisches Denken, das in alle Richtungen arbeitet und sich damit auch auf die eigene Urteilsfähigkeit und die eigenen Annahmen bezieht. Insbesondere bei Verschwörungsgläubigen ist zu sehen, dass sie hyperkritisch gegenüber Expertenberichten und offiziellen Statements sind, die eigenen Theorien und Annahmen aber kaum ernsthaft in Frage stellen.
Beim Selbstdenken gilt es daher, typische Fallen im Auge zu behalten. Dazu gehören beispielsweise:
☛ Der Dunning-Kruger-Effekt
Der Dunning-Kruger-Effekt bedeutet: Wer von einem Gebiet keine Ahnung hat überschätzt genau in diesem Bereich die eigenen Fähigkeiten.
☛ Die Verzehrungsblindheit
Mit Verzerrungsblindheit ist die Selbsttäuschung gemeint, dass man selbst völlig frei oder zumindest freier von Beeinflussungen sei und dass solche Phänomene nur auf andere zutreffen.
☛ Der Bestätigungsfehler (Confirmation bias)
Der Bestätigungsfehler (Confirmation bias) besteht in der Neigung, Informationen, die eine vorhandene Überzeugung zu bekräftigen scheinen, zu bemerken, zu akzeptieren und zu speichern, und im Gegensatz dazu Informationen, die offenbar im Widerspruch zu einer vorhandenen Überzeugung stehen, zu ignorieren, zu verzerren, wegzudiskutieren oder zu vergessen.
☛ Motiviertes Denken (Motivated Reasoning)
Als Motiviertes Denken (Motivated Reasoning) wird ein Verzerrungsprozess bezeichnet, durch den wir eine Position, Ideologie oder Überzeugung verteidigen, die mit starken Emotionen besetzt ist.
Wer auf Selbstdenken setzt sollte diese Einschränkungen des Denkens kennen. Sie betreffen alle Menschen mehr oder weniger.
Die Philosophin Marie-Luisa Frick sieht in der Einsicht in diese Einschränkungen einen Anlass zu Demut und ein wichtiges Korrektiv für den berechtigten Anspruch auf unabhängiges Denken: „Mit einer demütigen, selbstreflexiven Haltung kann Selbstdenken sehr wichtig sein. Aber ohne diese Haltung wird es arrogant.“ Eine solche Besinnung auf die Grenzen der eigenen Weltsicht werde Menschen leichter fallen, „die grundsätzlich einen Einblick haben in den großen Ozean des Wissens, von dem sie nicht alles trinken können.“
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Selbstdenken braucht Diskussion und öffentliche Diskursräume
Selbstdenken lässt sich als Haltung nur einüben, wenn dazu fördernde gesellschaftlich-institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sind. Dazu gehört ein möglichst freier, öffentlicher Diskursraum, in dem Ansichten sich begegnen und im optimalen Fall gegenseitig korrigieren können. Nur wer gelegentlich Widerspruch bekommt, der den eigenen Standpunkt herausfordert, in Frage stellt und verunsichert, kann lernen, auch sich selbst zu hinterfragen.
Problematisch ist an diesem Punkt, dass diese öffentlichen Diskursräume zunehmend von privatwirtschaftlichen Social-Media-Konzernen dominiert weren. Daraus ergeben sich mindestens zwei Problemfelder:
Erstens ist es nicht akzeptabel, dass die Teilnahme an einem öffentlichen Diskursraum zunehmend nur noch möglich ist unter der Bedingung, dass dabei persönliche Daten an Facebook, Twitter, Google, Instagram & Co abgeliefert werden.
Zweitens gestalten die Social-Media-Konzerne ihre Plattformen so, wie es für ihre kommerziellen Interessen nützlich ist, und nicht so, wie es für einen konstruktive Diskussionskultur nötig wäre.
Diese Probleme müssen gelöst werden, wenn demokratische Prozess eine Zukunft haben sollen.
Bildungseinrichtungen kommt bei der Gestaltung von Diskursräumen, in denen produktives Selbstdenken eingeübt werden kann, eine wichtige Rolle zu. Informationen werden für eine Person erst dann zu Wissen, wenn sie auch weiss, wie sie Informationen einschätzen, gewichten und aussortieren kann. Diese Fähigkeit kann insbesondere in Diskussion und Diskurs gelernt werden. Isoliertes Selbstdenken auf Kosten des gemeinschaftlichen Erörterns und Diskutierens führt dagegen leicht zum Auseinanderdriften in abgeschottete Weltbild-Gemeinschaften, die im Internet isolierte «Blasen» bilden. Verhärten sich solche «Blasen», sind sie nur noch begrenzt korrekturfähig und begrenzt kontaktfähig zu anderen «Blasen». Dieses Auseinanderdriften in «Séparées» erschwert die Lösung gesellschaftlicher Probleme.
Fazit:
Wenn Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien darauf pochen, dass sie halt «selbstdenken», dann ist das fragwürdig im eigentlichen Sinn des Wortes: Es ist würdig, genau nachzufragen, wie das geschieht. Selbstdenken muss kultiviert werden, damit es produktiv wirkt.
Quellen:
Mutig denken – Aufklärung als offener Prozess, von Marie-Luisa Frick, Reclam 2020
Philosophin über Vernunft und Populismus: „Anti-Aufklärung im Gewand der Aufklärung“
Marie-Luisa Frick im Gespräch mit Catherine Newmark (Deutschlandfunk Kultur).
Siehe auch: