Als Motiviertes Denken (Motivated Reasoning) wird ein Verzerrungsprozess bezeichnet, durch den wir eine Position, Ideologie oder Überzeugung verteidigen, die mit starken Emotionen besetzt ist. Man könnte auch von Interessengeleitetem Denken sprechen.
Die Podcasterin, Autorin und Journalistin Julia Galef beschreibt Motiviertes Denken so:
«Manche Informationen oder Vorstellungen fühlen sich für uns an wie Verbündete. Sie möchten wir siegen sehen. Wir wollen sie verteidigen. Alle anderen Informationen oder Vorstellungen werden dann zum Feind, und wir würden sie am liebsten abschiessen.»
Beim Denkprozess wird also zum Vornherein ein bestimmtes Ergebnis bevorzugt. Dadurch wird der Denkprozess in die gewünschte Richtung gelenkt. Dafür sorgen systematische Fehler beim Abrufen, Konstruieren oder Bewerten von Informationen in die gewünschte Richtung. Motivation und Denkprozesse beeinflussen sich dabei wechselseitig.
Motiviertes Denken führt also zur Tendenz, Argumente zu finden, die die Schlussfolgerung begünstigen, an die wir glauben möchten, anstatt Argumente für die Schlussfolgerung zu finden, an die wir nicht glauben möchten. Dies kann zur Entstehung und zum Festhalten an falschen Annahmen trotz substantieller Gegenbeweise führen. Das bevorzugte Ergebnis wirkt wie ein Filter, das die Evaluation wissenschaftlicher und alltäglicher Aussagen beeinflusst.
Steven Novella schreibt in seinem Buch «Bedienungsanleitung für deinen Verstand»:
«Wir verteidigen unsere wichtigsten Überzeugungen um jeden Preis, pfeifen auf logische Zusammenhänge, blenden unliebsame Fakten aus, erfinden neue, picken uns nur die Tatsachen heraus, die uns in den Kram passen, greifen auf magisches Denken zurück und urteilen bei Bedarf subjektiv, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob unsere Überlegungen in sich schlüssig sind. Das alles zusammen wird als motiviertes logisches Denken bezeichnet, bei dem sich die Menschen generell besonders hervortun.»
Motiviertes Denken reduziert kognitive Dissonanz
Die Psychologie macht dafür die sogenannte kognitive Dissonanz verantwortlich. Demnach fühlen wir uns unwohl, wenn wir mit zwei widersprüchlichen Informationen konfrontiert werden. Wir sind von etwas überzeugt und bekommen plötzlich eine Information, die in krassem Gegensatz zu unserer Überzeugung steht. Idealerweise lösen wir diesen inneren Konflikt auf rationale und objektive Weise und passen unsere Überzeugung je nach Art und Aussagekraft der neuen Information an. Bei einer fest verinnerlichten, emotional besetzten Überzeugung oder gar bei einem zentralen Aspekt unseres Weltbildes fällt uns das sehr schwer.
Emotional fällt es uns in solchen Fällen leichter, neue unerwünschte Informationen einfach unter den Tisch fallen zu lassen, ihre Quelle anzuzweifeln und eventuelle Implikationen schönzureden. Oder es werden gar Verschwörungstheorien als Ursache dieser Widersprüche bemüht.
Für verbreitete Überzeugungen, die abgewehrt werden sollen, ist Motiviertes Denken im Übrigen quasi abgepackt zu beziehen. Organisierte Bewegungen oder beispielsweise Facebook-Gruppen warten schliesslich nur darauf, ihre Listen mit Einwänden, Begründungen und Fehlinformationen unters Volk zu bringen. Damit lassen sich sämtliche Beweise für Fakten zur Evolution, zur globalen Klimaerwärmung, zur Wirksamkeit von Schutzimpfungen, zum geschlechtsspezifischen Lohngefälle oder gar zur Tatsache, dass die Erde rund ist, auf Distanz halten und in Zweifel ziehen.
Solche Listen seien «eine Heilsalbe für kognitive Dissonanz – einfach grosszügig auftragen!», schreibt Steve Novella.
Unerwünschte Informationen fallen leicht unter den Tisch
Begünstigt wird das Motivierte Denken durch den Umstand, dass ein Grossteil der uns zur Verfügung stehenden Informationen subjektiv ist oder ein gewisses Urteilsvermögen verlangt. Es existieren keine perfekten wissenschaftlichen Studien. Deshalb ist es immer möglich, auf ihre Grenzen hinzuweisen, um ihre Schlussfolgerungen abzustreiten. Es existieren keine fehlerfreien Quellen. Alle Menschen machen Fehler. Deshalb kann man auch alles zum Fehler erklären. Unterschiedliche Quellen liefern unterschiedliche Informationen, sodass man sich diejenigen herauspicken kann, bei denen die eigene kognitive Dissonanz am kleinsten ist.
Ausserdem gibt es viele Möglichkeiten, die Folgen gewisser Tatsachen unterschiedlich zu interpretieren, selbst wenn die Fakten an sich nicht strittig sind. Ist beispielsweise jemand reich, kann man, wenn einem derjenige sympathisch ist, schlussfolgern, dass er erfolgreich oder clever ist. Oder man kann, wenn man ihn nicht leiden kann, daraus ableiten, dass er korrupt oder gierig sein muss. Wie das Urteil ausfällt, hat dann möglicherweise wenig mit den Fakten zu tun. Das lässt sich gut beobachten bei den faktenfreien Verschwörungstheorien, die um George Soros und Bill Gates herum gesponnen werden.
Damit unsere kognitiven Dissonanzen nicht zu gross werden, können wir ein und denselben Menschen als mutig oder verrückt, als unbeirrbar oder stur, als starke Führungskraft oder als autoritärer Tyrann gesehen werden – je nach Perspektive. Damit soll nicht gesagt sein, dass jede Meinung und jede Sichtweise gleichwertig ist. Doch sollten wir uns damit möglichst an Fakten orientieren und nicht an unseren Bedürfnissen nach Übereinstimmung mit unseren Weltbildern und Ideologien.
Motiviertes Denken im Bereich der Politik
Es gibt eine grosse Zahl wissenschaftlicher Belege dafür, dass Motiviertes Denken bei der Konsumierung politischer Informationen zur Anwendung kommt, damit das Weltbild nicht ins Wanken gerät. Jeder Akteur sucht und verarbeitet jene Informationen, die mit der eigenen Weltanschauung übereinstimmen.
Je parteiischer der Betreffende und das Thema ist, und je stärker die Polarisierung, desto mehr kommt Motiviertes Denken ins Spiel und die logische Argumentation tendiert in eine bestimmte Richtung. Alle Indizien, die für die eigene parteipolitische Identität sprechen, erhalten dann ungleich mehr Gewicht. Dagegen werden alle Belege, die nicht der Parteilinie entsprechen, unter den Teppich gewischt. Hören Parteimitglieder beispielsweise, dass ihre Partei einen Gesetzesentwurf unterstützt, finden sie ihn mit grösserer Wahrscheinlichkeit gut, als wenn sie glauben, die Gegenpartei hätte ihn initiiert.
Politische Überzeugungen machen oft einen bedeutenden Teil der Identität einer Person aus. Deshalb fallen das Motivierte Denken und die emotionalen Reaktionen besonders stark aus, wenn solche Überzeugungen in Frage gestellt sind.
In dieser Hinsicht fallen politische Überzeugungen im Allgemeinen in die Kategorie der «heiligen Kühe». Politisch Interessierte tendieren oft dazu, sich mit ihrem politischen Lager zu identifizieren. Sie wollen dann glauben, dass dieses tugendhaft und intelligent ist, während es im anderen Lager nur Lügner und Dummköpfe gibt.
Die Philosophin Marie-Luisa Frick hat dazu Bedenkenswertes geschrieben:
Zum Unterschied zwischen Gegnerschaft und Feindschaft
Ein ähnliches Phänomen wie Motiviertes Denken wird als Bestätigungsfehler beschrieben. Der Bestätigungsfehler läuft jedoch mehr unbewusst ab, während das Motivierte Denken eher ein bewusster Vorgang ist. Wir bekommen es mit, wenn wir die Position, die unseren Überzeugungen näher ist, besonders energisch und emotional verteidigen.
Quellen:
Bedienungsanleitung für deinen Verstand – kritisch Denken in einer Welt voller Halbwissen, von Steven Novella, Riva Verlag 2019
Beitrag zum Thema «Motivated Reasoning» auf Wikipedia.