Die Verzerrungsblindheit gehört zu den kognitiven Verzerrungen (cognitive bias). Gemeint ist damit die Selbsttäuschung, dass man selbst völlig frei oder zumindest freier von Beeinflussungen ist und dass solche Phänomene nur auf andere zutreffen.
Man glaubt also, selbst eine Ausnahme zu sein und im Gegensatz zu den anderen Menschen nicht solchen Verzerrungseffekten wie dem Motivierten Denken oder dem Bestätigungsfehler zu unterliegen. Genau das ist jedoch ein Trugschluss.
Die Verzerrungsblindheit mag sich zwar positiv auf unser Selbstwertgefühl auswirken. Sie führt aber auch genau darum zur Blindheit gegenüber verzerrenden Verhaltenseffekten. Das kann Selbstüberschätzung und darauf basierende Fehleinschätzungen zur Folge haben.
Verbreitung der Verzerrungsblindheit
Den meisten Menschen scheint eine Verzerrungsblindheit eigen zu sein. In einer Stichprobe von über 600 Einwohnern der USA glaubten mehr als 85 %, dass sie weniger voreingenommen seien als der durchschnittliche US-Amerikaner. Nur ein Teilnehmer war überzeugt, mehr voreingenommen zu sein als der Durchschnitt. Die Befragten variierten im Hinblick auf das Ausmaß der Verzerrungsblindheit, doch zeigten sich stabile individuelle Unterschiede, die messbar waren.
Beispiel: Mediziner_innen und Pharmavertreter_innen
Eine Studie, die im „Deutschen Ärzteblatt» publiziert wurde, untersuchte den Umgang von niedergelassenen Fachärzten mit Pharmavertretern. Vertreterbesuche von Pharmaunternehmen und Versuche, das Verordnungsverhalten zu beeinflussen, zählen zum Alltag in der Arztpraxis. Auffallend ist dabei, dass sich nur sehr wenige Ärzte für beeinflussbar halten.
Die Studie zeigt, dass Ärzteschaft und Pharmaunternehmen durch Vertreterbesuche in regelmäßigem Kontakt stehen. Drei von vier Ärzten glauben, dass die Vertreter der Pharmaunternehmen sie häufig oder immer in ihrem Verordnungsverhalten beeinflussen wollen. Gleichzeitig ist der Großteil der Ärzte davon überzeugt, gegenüber diesen Beeinflussungsversuchen weitgehend immun zu sein. Nur 6 % (n = 12) der Ärzte halten sich selbst für häufig oder immer beeinflusst. 9 % (n = 19) halten sich für nie beeinflusst. Der Großteil (83 % [n = 173]) ist überzeugt, nur selten oder gelegentlich beeinflusst zu sein.
Bei der Frage, wie die Ärzte dies bei ihren Kollegen einschätzen, zeigte sich in der Studie jedoch, dass diese etwa drei- bis viermal häufiger als beeinflussbar eingestuft werden. Hier zeigt sich die Verzerrungsblindheit in der Praxis. Die Autoren der Studien fordern:
«Eine kritischere Haltung der Ärzte und die Schaffung alternativer Informationsangebote könnten zu mehr Unabhängigkeit und einer rationaleren und damit möglicherweise günstigeren Arzneimitteltherapie führen.»
Beispiel: Verschwörungstheorien
Zum Einfluss der Verzehrungsblindheit in Verschwörungstheorien hat Sascha Lobo im «Spiegel» interessante Bemerkungen gemacht. Er spielt dabei darauf an, dass Verschwörungsgläubige die Menschen oft einteilen in die «Aufgewachten» – sie selber – und die «Schlafschafe», das sind alle Menschen, die nicht sn die betreffenden Verschwörungstheorien glauben. Sascha Lobo schreibt:
«Ebenfalls eine kognitive Verzerrung ist die Verzerrungsblindheit…..Sie bedeutet etwa, dass man sich selbst für kaum oder gar nicht beeinflusst hält. Die ständigen Aufrufe, endlich „aufzuwachen“, sind ein Zeichen dafür. Mit dieser knappen Aufforderung wird eine Welt konstruiert, in der es nur zwei Sichtweisen gibt: die falsche derjenigen, die noch schlafen, und die richtige, wenn man endlich aufgewacht ist – sprich: nicht mehr den vermeintlichen Lügen des „Mainstream“ folgt.
Die Verzerrungsblindheit ist damit die Vorstufe der Haltung, es gäbe nur eine einzige, klare, eindeutige Wahrheit, in deren Besitz die eigene Gruppe ist. Alle Interpretationen, Meinungen, Uneindeutigkeiten und auch Diskussionen sind Ablenkungen von der reinen Wahrheit. „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere recht haben könnte“, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer. Man kann ihm (vielleicht) kurz nachsehen, dass er leider nur die männliche Form benutzte und kann dann am Zitat erkennen: Wer von „aufwachen“ spricht, hat keinerlei Interesse an einem Gespräch, sondern möchte nur von der eigenen, alternativlosen Position überzeugen. Was wiederum als Dogmatismus eines der Grundmuster der Radikalisierung ist.»
Um der Verzerrungsblindheit entgegenzuwirken ist es sehr wichtig sich klarzumachen, dass wir alle letztendlich sehr ähnlich funktionieren und den gleichen Verzerrungen unterliegen. Es braucht an diesem Punkt eine angemessene Demut, um nicht in die Falle der Selbstüberschätzung zu trampen. Wir sind genauso anfällig für Selbsttäuschungen wie andere.
Quellen:
Beitrag zum Thema «Bias blind spot» auf Wikipedia.
Eine Befragung niedergelassener Fachärzte zum Umgang mit Pharmavertretern (Ärzteblatt)
Leben in der Pandemie: Wie die Blitzradikalisierung der Corona-Leugner funktioniert (Spiegel online)