Der Physiker und Wissenschaftskommunikator Florian Aigner hat auf Twitter Gedanken zum Thema «Selber denken» publiziert. Die Idee vom «Selber denken» spielt auch bei Verschwörungsgläubigen eine grosse Rolle. Diese Phrase stellen sie oft Äusserungen von Fachleuten in Frage, mit denen sie nicht übereinstimmen – und übernehmen stattdessen unkritisch irgendwelche Verschwörungstheorien.
Florian Aigner schreibt, er nehme in der Querdenker-Community eine massive Überschätzung dessen wahr, was ein einzelner Mensch leisten kann, sowie ein Unverständnis darüber, dass Wissenschaft immer Gemeinschaftswissen ist. Hier sieht er ein grosses Missverständnis.
„Ich höre nicht auf Autoritäten, ich denke lieber selber“, das höre er oft, speziell von Impfgegnern. Und das sei grundsätzlich ja wunderbar und lobenswert. Nichts daran sei falsch – wenn man es richtig mache.
«Selber denken» kann nicht bei null anfangen
Aigner schreibt:
«“Selber denken“ ist gut, aber es ist sinnlos, bei null anzufangen. Manche Dinge weiß man schon, auf denen muss man aufbauen. „Selber kochen“ heißt auch nicht, neu zu testen, ob man Steine essen kann und ob Schwefelsäure eine gute Soße ist. Wir nutzen bereits bekanntes Wissen.»
Niemand könne durch „selber denken“ den Rest der Wissenschaft aushebeln. Das habe noch niemand gemacht: «Auch nicht Revolutionäre wie Galileo oder Einstein. Alle Revolutionen haben das bisherige Wissen in das neue Denken miteinbezogen. Dafür muss man es aber erst mal verstehen.»
Wenn man zusammenhanglos zurechtgebastelten Thesen dann aus wissenschaftlicher Sicht widerspreche, werde das häufig als Arroganz ausgelegt: „Wie kannst du so sicher sein, ich habe halt eine andere Meinung! Und du sagst einfach, die sei falsch!“
Übersehen werde dabei, dass Wissenschaft ist nicht bloß die Meinung einer Person ist:
«Sie ist entstanden durch unzählige Menschen, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte ihre guten Ideen zu etwas zusammengefügt haben, was stabiler und komplexer ist als jede Theorie, die im Kopf einer einzelnen Person Platz hat.»
Wer mit Zuversicht die wissenschaftlich begründete Sichtweise verteidige, handle deshalb eben genau nicht arrogant:
«Es geht eben genau nicht darum, dass ich meine Meinung von vornherein als wertvoller einstufe als die Meinung eines Querdenkers. Um meine Meinung geht es nämlich überhaupt nicht – sondern um ein wissenschaftliches Gedankengebäude, errichtet nicht von mir, sondern von unzähligen Leuten, die darüber viel mehr wussten als ich. Erst dadurch entsteht Zuverlässigkeit.»
Aigner plädiert dafür, diesen kollektiven, gemeinschaftlichen Aspekt der Wissenschaft stärker zu betonen. Dann werde klarer, warum simples einsames „Selber denken“ nicht in derselben Liga spielen kann wie ernsthaft betriebene Wissenschaft.
Quelle:
https://twitter.com/florianaigner/status/1425832145126187009
Siehe auch:
Selbstdenken – ein zwiespältiger Anspruch in Verschwörungstheorien
Galilei-Vergleich / Galilei-Argument
Skeptiker: Sind Verschwörungstheoretiker „Skeptiker“?
Wissenschaftsverweigerung / Wissenschaftsleugnung