Anhängerinnen und Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro haben in Brasilien den Kongress, das Oberste Gericht und den Präsidentenpalast gestürmt. Tim Niendorf macht in einem Kommentar in der «Frankfurter Allgemeinen» klar, dass dafür der abgewählte Präsident verantwortlich ist:
«Bolsonaro machte im Wahlkampf klar, dass er nur einen Wahlsieg, seinen Wahlsieg anerkennen würde. Im zweiten Wahlgang aber unterlag er seinem Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva knapp mit 49,1 zu 50,9 Prozent der Stimmen. Angesichts der Vorgeschichte war es fast schon eine Überraschung, dass Bolsonaro keinen Staatsstreich versuchte. Die Niederlage erkannte er gleichwohl mit keinem Wort an. Wie Trump fehlte er folglich auch bei der feierlichen Amtsübergabe für seinen Nachfolger. Stattdessen setzte er sich nach Florida ab.»
Quelle:
STURM AUF DEN KONGRESS: Bolsonaros Traum von der Diktatur (FAZ)
Man kann nicht genug betonen, wie gefährlich diese Verschwörungstheorien vom Wahlbetrug sind.
Bolsonaro wartete nach dem Beginn der Erstürmung fünf Stunden, bis er sich aus Florida auf Social Media mit einer lauen Distanzierung meldete. Er wollte wohl den Verlauf abwarten und wäre wohl im für ihn günstigen Fall – zum Beispiel, wenn sich Polizei oder Militär auf seine Seite geschlagen hätte – auf den Zug aufgesprungen.
Bolsonaro und Trump als weltweite Beispiele für Rechtsextremisten
Es ist auch bemerkenswert, wie stark die Bilder und Videos aus Brasília denjenigen gleichen, die von Sturm auf das Capitol in Washington um die Welt gingen. Trump ist für Bolsonaro ein grosses Vorbild. Und zwischen der extremen Rechten in Brasilien und in den USA gibt es enge Verbindungen.
Simon Widmer schreibt im «Tages-Anzeiger»:
«Wie auch sein Vorbild Trump hat Brasiliens Ex-Präsident die Lüge von der gestohlenen Wahl kultiviert. Monatelang hat er ohne jeglichen Beweis das elektronische Wahlsystem Brasiliens angegriffen, obwohl dieses immer bestens funktioniert hat – auch bei Bolsonaros Wahlsieg 2018. Auch nach der Wahlniederlage hielten Bolsonaro und sein Clan den Betrugsvorwurf am Leben. Schon nach dem Capitol-Sturm stellte sich der 67-Jährige auf Trumps Seite und sagte, ein solcher Aufstand könne sich auch in Brasilien abspielen…..
Die Ereignisse….weisen…über Brasilien hinaus: Sie zeigen, wie rege sich die extreme Rechte global austauscht, wie vernetzt sie heute agiert. Trumps Mob hat am 6. Januar 2021 nicht nur die US-Demokratie an den Rand des Zusammenbruches gebracht. Er hat mit dem Sturm auf das Capitol auch eine Blaupause für radikale Demokratieverächter weltweit geschaffen.»
Quelle:
Dieser Sturm weist über Brasilien hinaus (Tages-Anzeiger, Abo)
Die Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug als Element der Demagogie
Selbstverständlich muss jeder begründete Verdacht auf Wahlbetrug geklärt werden. Sowohl Donald Trump als auch Jair Bolsonaro liefern für ihre Vorwürfe aber keinerlei Belege und Bewirtschaften stattdessen die Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug als Teil ihrer Demagogie. Hier gilt, was die Schach-Legende Gary Kasparow gesagt hat:
„Eine faire Wahl als gefälscht zu bezeichnen, ist so kriminell wie eine gefälschte Wahl fair zu nennen“
Alarmierend ist auch, dass die Verschwörungstheorie vom Wahlbetrug nicht nur in Ländern mit hochgradiger politischer Polarisierung wie die Vereinigten Staaten und Brasilien aufkommt, sondern in (noch?) gemässigteren Ländern wie der Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wir sind natürlich auf diesem Weg nicht so weit wie in Brasilien und den USA.
Trotzdem sollte klar gesagt werden: Politikerinnen und Politiker, die faktenfrei von Wahlmanipulationen schwadronieren und davon reden, dass sie Wahlergebnisse nur anerkennen, wenn sie gewinnen, unterminieren die Demokratie und sollten politisch isoliert und bekämpft werden. Hintergrund ihrer Haltung ist oft ein False Consensus Effekt. Der False Consensus Effekt besagt, dass wir unsere eigene Meinung, Einstellung oder Erfahrung in der gesamten Bevölkerung für stärker verbreitet annehmen, als sie ist. Wer überzeugt ist, mit der grossen Mehrheit der Bevölkerung im Einklang zu sein, kann nur zum Schluss kommen, dass bei einer Niederlage Betrug und Verschwörung im Spiel sein muss.
Yascha Mounk zu den Gemeinsamkeiten zwischen Trump und Bolsonaro
Der Politologe Yasscha Mounk bringt die Gemeinsamkeiten zwischen Trump und Bolsonaro so auf den Punkt:
«Die Gemeinsamkeiten der beiden Szenerien ist kein Zufall. Seit Jair Bolsonaro im Herbst 2018 zum Präsidenten Brasiliens gewählt worden war, hatte er sich bewusst nach dem Vorbild Donald Trumps präsentiert. Wie Trump beanspruchte er, die wahre Stimme des Volkes zu sein; wer ihm widersprach, wurde als Verräter oder Krimineller dargestellt. Wie Trump versuchte er, alle Macht ganz auf seine Person zu konzentrieren, und zog die Legitimität unabhängiger Institution von den Gerichten bis zu den Zeitungen in Zweifel. Und wie Trump verbrachte er die vergangenen Jahre damit, seine Anhängerinnen und Anhänger davon zu überzeugen, dass sie allen Wahlen misstrauen sollten, nach denen nicht er zum Gewinner ausgerufen würde, weil das Wahlsystem manipuliert sei.»
Quelle:
Putschversuche: Der nächste Demagoge wartet schon (Zeit online)