«Tangram», die Zeitschrift der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), widmete die Nummer 45 / 2021 dem Thema «Verschwörungstheorien, Fake News und Rassismus». Zu Wort kommt darin auch Rudy Reichstadt, der sich dem Kampf gegen den Verschwörungswahn verschrieben hat. Er leitet die Seite Conspiracy Watch und ist Mitglied des Observatoire des radicalités politiques der französischen Stiftung Fondation Jean Jaurès. Zu den gesellschaftlichen Folgen der Verschwörungstheorien sagt er:
«Der Verschwörungswahn fördert die Spaltung der Gesellschaft. Er schafft unversöhnliche Glaubenskreise, die den sozialen Zusammenhalt bedrohen und eine stete Gefahr für die öffentliche Politik darstellen. Verschwörungswahn verstärkt stigmatisierende Diskurse über Bevölkerungsgruppen. Er zerstört die Solidarität zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Probleme werden durch Sündenböcke ersetzt, womit einer Verschlechterung unseres demokratischen Gefüges Vorschub geleistet wird.»
Verschwörungswahn fördert die Fixierung auf Sündenböcke
Rudy Reichstadt weist zudem darauf hin, dass der Verschwörungswahn die politische Mobilisierung unterbinden kann: «Wenn Sie überzeugt sind, dass alles bereits im Voraus von Mächtigen festgelegt wurde, die über uns herrschen, warum sollten Sie dann versuchen, etwas zu unternehmen, um die Situation zu verbessern?»
Reichstadt sagt aber auch, dass in einer Demokratie jede und jeder das Recht habe, an ausgefallene, verrückte oder zweifelhafte Dinge zu glauben. Niemand habe jedoch das Recht, andere ungestraft zu verleumden.
Wirklich problematisch werde es, wenn solche Glaubensüberzeugungen mit schweren Anschuldigungen gegen Einzelpersonen oder ganze Gruppen einhergehen und zu Hass, Rassismus oder Antisemitismus anstiften.
In seinem Buch «L’Opium des imbéciles» (Grasset & Fasquelle, 2019) schreibt Reichstadt ausserdem, dass Verschwörungswahn keine psychische Störung sei, sondern ein politischer Diskurs .
Quelle:
Rudy Reichstadt: «Verschwörungstheorien rufen Verschwörungstheorien auf den Plan»
(Tangram Nr. 45 / 2021)
Anmerkungen:
☛ Die Bezeichnung «Verschwörungswahn» ist schon etwas problematisch, denn sie schafft eine Nähe zu psychiatrischen Kategorien. Mehrere Fachleute sind sich aber einig, dass es nicht sinnvoll ist, Verschwörungstheorien als Phänomen aus dem Bereich der Psychiatrie zu definieren.
Studien zeigen zwar, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen Verschwörungsglauben und Paranoia gibt. Paranoia und Verschwörungsglauben unterscheiden sich allerdings auch in zentralen Punkten. Pia Lamberty und Katharina Nocun bringen es in ihrem Buch «Fake Facts» so auf den Punkt:
«Um es ganz einfach auszudrücken: Während paranoide Menschen glauben, dass praktisch jeder hinter ihnen her ist, denken Verschwörungsideologen, dass ein paar mächtige Menschen hinter fast jedem her sind. Gesellschaftliche Verschwörungserzählungen sind also von paranoiden Wahnvorstellungen klar unterscheidbar.»
Quelle:
Katharina Nocun / Pia Lamberty: “Fake Facts”, Quadriga Verlag 2020
☛ “Verschwörungswahn” kann zwar wie erwähnt politische Mobilisierung vermindern. Verschwörungsgläubige engagieren sich dann kaum mehr innerhalb des demokratischen Systems. Siehe dazu:
Warum sind Verschwörungstheorien eine Gefahr für demokratische Gesellschaften?
Verschwörungstheorien können aber auch zur Radikalisierung ausserhalb des demokratischen Systems führen.