Antisemitismus ist eine bestimmte Einstellung gegenüber von jüdischen Menschen, die sich in Judenhass, Judenfeindschaft und Judenverfolgung ausdrücken kann. Antisemitismus ist eng mit Verschwörungstheorien verknüpft. Wenn es um „böse Mächte“ im Hintergrund geht, die in Verschwörungstheorien die Fäden in der Welt ziehen, werden oft «die Juden» als uraltes Feindbild ausgepackt. Das geschieht teilweise sehr direkt und unmissverständlich, teilweise jedoch auch nur indirekt und nicht sofort erkenntlich.
Zwar sind nicht alle Verschwörungstheorien antisemitisch, aber der Antisemitismus ist gegenwärtig immer verschwörungstheoretisch aufgeladen.
Um zu begreifen, weshalb auch heute noch ausgerechnet Juden in den meisten Verschwörungstheorien immer noch das Feindbild Nummer Eins sind, muss man die Entwicklung der Judenfeindschaft im Verlauf der Geschichte verstehen. Der Schlüssel zum Verständnis des Antisemitismus liegt dabei nicht bei den Juden, sondern bei den Antisemiten und im sozialen Kontext.
Zu beachten ist dabei, dass die vorgeschobenen Gründe für die Judenfeindschaft sich über die Jahrhunderte hinweg verändert haben, das Feindbild und die Sündenbockfunktion aber bleibt.
Im Mittelalter dominierten religiöse Ursachen als Hintergrund für Judenfeindschaft. In den Anfangszeiten des Christentums stand die neue Religion in Konkurrenz zum Judentum und die falsche Beschuldigung der Juden als Christusmörder wirkte Jahrhunderte lang nach.
Nach der Französischen Revolution (1789 – 1799) beschuldigten konservative Verschwörungstheoretiker die Freimaurer, die Illuminaten und die Juden, diesen politischen und gesellschaftlichen Umbruch orchestriert zu haben. Die Judenfeindschaft bekam eine politische Komponente.
Der Begriff «Antisemitismus» wurde aber erst 1879 von Judenhassern geprägt, die sich vereinsförmig organisierten und eine wissenschaftliche Grundhaltung beanspruchten. Für sie waren Juden nicht mehr die Angehörigen eines allenfalls durch Gesinnungswandel veränderbaren Glaubens (durch Bekehrung), sondern als Angehörige einer auch sprachlich charakterisierbaren «Rasse». Ihre Abneigung richtete sich daher auf vermeintlich objektive, schädliche biologische Tatsachen, die nur durch Entfernung der Juden aus dem jeweiligen «Volkskörper» behoben werden könnten.
Unterscheiden lässt sich zwischen einem christlichen Antijudaismus, der Juden hauptsächlich aus religiösen Motiven ablehnt und darum auch sozial und politisch ausgrenzt. Er prägte die Kirchengeschichte von der Spätantike bis in die Neuzeit.
Und einem neuzeitlichen Antisemitismus, der Juden vor allem mit biologistischen und pseudowissenschaftlichen Begründungen als „Fremdkörper“ aus der Mehrheitsgesellschaft ausgrenzt. Dieser Antisemitismus entstand seit der Aufklärung und verband sich im 19. Jahrhundert mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus. Der „Rassenantisemitismus“ gewann in der Zeit des Nationalsozialismus als Staatsideologie stark an Bedeutung und führte zum Genozid an den Juden (Holocaust).
Ursprünge der Judenfeindschaft
In überlieferten Texten aus der Antike halten sich positive und negative Darstellungen der Juden die Waage, und die neutralen überwiegen bei weitem. Überlieferte Zusammenstösse zwischen Juden und ihrer heidnischen Umgebung deuten eher auf konkrete Interessenkonflikte hin, denn Ägypter, Griechen und Römer haben je nach jeweiliger Lage ganz spezifische und unterschiedliche Eigenschaften an den Juden als bedrohlich empfunden oder verachtet. Das alles spricht gegen eine durchgängige, spezifische Judenfeindschaft in der Antike. Allerdings gibt es religiöse Differenzen zwischen dem monotheistischen Judentum und den Ägyptern, Griechen und Römern, die viele Götter verehrten.
Die frühchristlichen Gemeinden und das rabbinische Judentum grenzten sich erst nach und nach voneinander ab. Die frühen Christen standen zum Judentum in einer ambivalenten Situation. Einerseits waren sie aus diesem Judentum hervorgegangen und andererseits gerieten sie den Juden gegenüber zunehmend in eine Konkurrenz um Anhänger und um die Anerkennung Roms. Daraus entstand eine antijüdische Tradition, die dann an das Neue Testament anknüpfen konnte. In den Evangelien wird den Juden die Schuld an der Hinrichtung Jesu gegeben, was historisch allerdings nicht korrekt ist. Die Verurteilung geschah nach römischem Recht durch den römischen Procurator Pilatus und die Hinrichtung durch die nur bei den Römern übliche Kreuzigung (nach dem Jüdischen Recht wurden Verbrecher gekreuzigt).
Die Diffamierung als «Christusmörder» war für die aufkommende Judenfeindschaft zentral, neben den Vorwürfen, die Juden seien im Bund mit dem Teufel, sie verweigerten die Anerkennung von Jesus als Messias und sie verhinderten mit ihrem Unglauben die Erlösung der Welt. Die systematische Judenfeindschaft begann jedenfalls erst mit der Ausbreitung der christlichen Religion. Der aus diesen Wurzeln entstehende christlich-kirchliche «Antijudaismus» äusserte sich bis zur Zeit der Völkerwanderung (ca. 375 – 568), um danach zunächst zu verstummen.
Judenfeindschaft im Mittelalter
In der spätantiken und frühmittelalterlichen Welt waren Juden zwar diskriminiert, wurden aber keineswegs pogromartig verfolgt. Laut den überlieferten Quellen spielte Judenfeindschaft im frühen Mittelalter, also von der späten Antike bis zum Ende des 1. Jahrtausends, im christlichen Abendland mit wenigen Ausnahmen keine wesentliche Rolle.
Die Ausgrenzung der Juden wurde im Verlauf des Mittelalters allerdings konsequent weitergeführt. Auf kirchlichen Synoden und Konzilen wurden viele Gesetze erlassen, wie beispielsweise ein Heiratsverbot zwischen Juden und Christen, die Vorschrift einer äußeren Kennzeichnung, die auf den jüdischen Glauben aufmerksam machen sollte, oder die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch gesonderte jüdische Viertel. Darin waren sie allerdings – anders als später in den Gettos – keineswegs eingesperrt. Zudem war es in mittelalterlichen Städten keine Besonderheit, dass Landsmannschaften und Berufsgruppen in eigenen Stadtvierteln lebten.
Da die jüdischen Gemeinden als Folge der erwähnten Einschränkungen in der mittelalterlichen Gesellschaft allerdings nur wenig integriert waren, fiel es leicht, sie als Sündenböcke zu instrumentalisieren.
Die Position der Juden verschlechterte sich ausserdem, weil sie nicht zu den sich als christliche Bruderschaften verstehenden Zünften zugelassen wurden, die sich ab dem 10. Jahrhundert zusammenschlossen. Dadurch verloren die Juden ihre Stellung im Warenhandel und Handwerk und wurden überwiegend auf den von der Kirche als «Wucher» verdammten Geld-, Pfand- und Kleinhandel eingeschränkt.
In der Karolingerzeit ab dem 8. Jahrhundert waren Juden relativ geschützt und geachtet. Vor allem Ludwig der Fromme (813 – 840), der Sohn und Thronfolger Karls des Grossen, stellte Juden Privilegienbriefe aus. Das ermöglichte ihnen, hauptsächlich im (Fern)handel tätig zu sein und ein Leben nach dem jüdischen Religionsgesetz zu führen. Die christliche Ständegesellschaft schloss die Juden jedoch seit dem späten 10. Jahrhundert von allen „ehrenwerten“ Berufen aus und verhinderte ihre soziale Integration durch rechtliche Schranken. Sie nahmen eine stets bedrohte Randexistenz ein in der mittelalterlichen Gesellschaft.
Seit dem 7. Jahrhundert tauchten hin und wieder auch Erzählungen auf, die von Verschwörungen der Juden gegen Andersgläubige die Rede ist. Die Frage, ab wann sich gegenüber den Juden ein ausgeprägtes Verschwörungsdenken entwickelte, wird unterschiedlich beantwortet. Zum Teil wird das dem Anfang des 11. Jahrhunderts zugeordnet, als sich die Christen im Verlauf der Kirchenreform als abendländisches Gottesvolk aufzufassen begannen, und die Juden als «Anführer des Teufelsvolkes» zu Aussenseitern machten, die sich gegen die Christen verschworen hätten. Auch im Kreuzzugsgedanken findet sich eine Wahrnehmung der Juden als innere Feinde, wie Pogrome aus dem Jahr 1096 zeigen, als die im Rheinland ansässigen Juden von Kreuzfahrern angegriffen wurden. Es handelte sich dabei um die ersten organisierten Judenpogrome des Abendlandes. Bevor die Kreuzfahrer ins «Heilige Land» zogen, um dort die «Feinde des Christentums» zu bekämpfen, wollten sie die Juden aus den eigenen Territorien vertreiben.
Zum Teil wird jedoch auch angenommen, der Verschwörungsvorwurf gegen die Juden habe sich erst im Laufe der Pestwelle von 1348/49 konkretisiert. Hintergrund war damals der Vorwurf, die Juden hätten die Pest durch Brunnenvergiftung verbreitet. Er wurde dadurch radikalisiert, dass nun die ganze Christenheit ausgerottet werden sollte.
Jedenfalls kann der hier angesprochene Zeitraum als Formierungsphase für die Vorstellung gelten, dass sich die Juden gegen die Christenheit verschworen hätten.
Die kaum durch Verfolgungen geprägte Existenz von Juden seit der Karolingerzeit endete, als die frühfeudale Welt Ende des 11. Jahrhunderts in eine tiefe, rund 300 Jahre dauernde Krise geriet. Geprägt war diese Zeit durch das Verarmen grosser Teile des Adels durch Erbteilung, durch politische und wirtschaftliche Veränderungen, wie zum Beispiel dem Aufkommen von Manufakturen mit kapitalistischen Produktionsweisen, sowie der schubweisen Verarmung breiter Massen. Dazu kamen Bedrohungen von aussen: Angriffe der Wikinger im Norden, das kontinuierliche Vordringen der muslimischen Berber und Araber erst nach Spanien und dann auch in den Süden Frankreichs, die Angriffe asiatischer Reitervölker in Ungarn und Polen.
Steigender Handel und zunehmender Geldbedarf der feudalen Höfe für Repräsentation und Bewaffnung machen den als unchristlich – aber auch als unjüdisch – geltenden Geldverleih gegen Zinsen zu einer ökonomischen Notwendigkeit. Die Lösung des Dilemmas bestand darin, diese Tätigkeiten den Juden geradezu aufzuzwingen. Dadurch konzentrierte sich der Ärger über Schulden und Zinsen auf die Juden.
Damals wandelte sich aber auch das Bild Jesu in Glauben und Kunst. An die Stelle des triumphierenden Weltenherrschers beziehungsweise des argumentierenden und predigenden Rabbi von Nazareth trat der am Kreuz hängende Schmerzensmann. Da drängte sich verstärkt die Frage auf nach den Urhebern seines Leidens. Eine Antwort war rasch gefunden: Die Juden als «Christusmörder»! Die Leidensgeschichte (Passion) rückt ins Zentrum des Glaubens und damit wird auch das Kruzifix zum alles überschattenden Symbol.
Unter diesem Symbol des Kreuzes startete ab 1096 der erste Kreuzzug.
In dieser Umbruchszeit wurden die Juden zu klassischen Sündenböcken, die in einer Jahrhunderte andauernden Leidenszeit immer wieder den Preis für Leiden und Unglück derer zu zahlen hatten, die unter den massiven gesellschaftlichen Umbrüchen litten. Insbesondere die verarmten Massen erinnerten sich daran, dass es gar nicht nötig war, bis nach Jerusalem zu ziehen, um die Feinde des Herrn zu bekämpfen. Nur einige Kilometer entfernt, zum Beispiel in den wohlhabenden Städten am Rhein, lebten schliesslich grosse jüdische Gemeinden, die Nachfahren der vermeintlichen «Christusmörder».
Im Frühjahr 1096 kam es dann zu mörderischen Ausschreitungen in Speyer und in Worms, wo die Juden der Brunnenvergiftung bezichtigt wurden. Im Verlaufe der Kreuzzüge nahmen Aversion und Konflikte zu, bis etwa um 1300 der «Konflikt zur Norm ( Michael Toch) wurde.
Um das Jahr 1150 verbreitete der Benediktinermönch Thomas of Monmouth eine Ritualmordlegende, nach der Juden für einen mysteriösen Ritus einen kleinen Jungen ermordet hätten. Sie taucht in verschiedenen Varianten im Verlaufe der Zeit immer wieder auf, sogar in «modernisierter» Form bis in die Gegenwart in der QAnon-Verschwörungsideologie, wonach angeblich liberale Eliten Kinder foltern, um aus ihrem Blut das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom zu gewinnen….
Ab Mitte des 14. Jahrhunderts kam erstmals der Vorwurf auf, dass die Juden Brunnen vergiften und christliche Hostien entweihen würden. Diese Unterstellungen verdichten sich im Verlauf des 14. Jahrhunderts zu Verschwörungsszenarien, die modernen Verschwörungstheorien sehr nahekommen. Das gilt vor allem für die Pestepidemie, der zwischen 1347 und 1353 etwa ein Drittel der Menschen in Europa zum Opfer fielen.
Die Juden wurden zu Sündenböcken gemacht. Sie sollen durch Brunnenvergiftung die Pest verbreitet haben. So erklärten die Menschen sich damals das Unerklärliche der Pestkatastrophe. Den Juden wurde aber auch weitergehend unterstellt, die Christen vernichten zu wollen, um so die Herrschaft zu übernehmen. Hier liegt eine Wurzel des Mythos von der jüdischen Weltverschwörung, die auch noch im zeitgenössischen Antisemitismus eine zentrale Rolle spielt.
Reformation
In der Frühen Neuzeit spielen Verschwörungstheorien über Juden keine große Rolle, weil durch die Reformation andere Feindbilder an Bedeutung gewannen. Allerdings etablierte sich in der Polemik zwischen den Konfessionen in der Reformationszeit sowohl auf katholischer wie reformatorischer Seite ein neues, für das antijüdische Verschwörungsdenken wirkmächtiges Muster, wonach der jeweilige religiöse Gegner als Jude, judengleich oder aber als mit den Juden verbündet angegriffen wird.
Zudem hat der deutsche Reformator Martin Luther die Juden konsequent dämonisiert. Nachdem seine anfängliche Hoffnung, dass er die Juden zum neuen Glauben bekehren könne, sich nicht erfüllte, wandte er sich frustriert gegen das Judentum. Über theologische Verdammung hinaus schlug er der Obrigkeit unter anderem vor, man solle jüdische Häuser und Synagogen verbrennen und ihre Schriften konfiszieren. Luther stand damit allerdings nicht allen. Dass die Juden das Gemeinwohl bedrohten, war Konsens auch zwischen den weniger grob judenfeindlichen Reformatoren (Zwingli, Bucer, Calvin).
Auch die katholischen Theologen schrieben die antijudaistische Tradition der Alten Kirche bis ins 19. Jahrhundert fort. Und auch die Humanisten waren durchaus noch von der alleinigen Wahrheit des Christentums überzeugt, so dass ihnen das «Elend der Juden» als Strafe Gottes gerechtfertigt erschien. Sie dämonisierten diese deshalb kaum weniger als ihre Zeitgenossen. Während aber das reformatorische Denken Martin Luthers die theologische Judenfeindschaft ein weiteres Mal verschärfte, begann ein Teil der Humanisten – auch anhand jüdischer Quellen – einen Begriff von der Würde eines jeden Menschen zu entfalten.
Nach dem Ende des starren Gegensatzes zwischen den christlichen Konfessionen entspannte sich im 17. – 18. Jahrhundert auch das christlich-jüdische Verhältnis und begünstigte die sozialen und kulturellen Beziehungen – auch weil die Juden zu dieser Zeit aus ihrer Ghettoexistenz herauszutreten begannen. Die Periode von 1650 – 1815 wird von Arno Herzig beschrieben als die «wohl ausgeglichenste in der deutsch-jüdischen Geschichte», in der die christliche Umwelt ihre krasse Feindseligkeit überwunden hatte und in der das friedliche Leben das Normale, Konflikte die Ausnahme waren.
Aufklärungszeit, Französische Revolution und ihre Folgen
Im Frankreich der Revolution (1789 – 1799) und des Napoleonischen Kaiserreiches (1804 – 1815) waren die Juden emanzipiert worden und hatten die vollen, individuellen Bürgerrechte erhalten. Das strahlte auf andere Länder aus.
In der Schweiz zum Beispiel wurden Juden lange Zeit stark diskriminiert. Seit ihrer Vertreibung im 15. Jahrhundert lebten dort nur noch wenige Juden; um 1800 waren es 553 Juden in den beiden Aargauer Dörfern Endingen und Lengnau. Rechtlich wurden sie stark benachteiligt, mussten erhöhte Zölle und einen Leibzoll zahlen, durften kein Handwerk ausüben und keinen Boden besitzen. Viele Sondergesetze bezeichneten Juden als „gottlosen Schwarm“ oder „Pestilenz“.
Der Einmarsch der Franzosen im Jahr 1798 brachte den Schweizer Juden mit der Idee der Menschenrechte erste Chancen zur Emanzipation. Nun wurden nach und nach die ihnen aufgebürdeten Sonderabgaben gestrichen.
Die Judenemanzipation war Teil des allgemeinen Emanzipationsprozesses, der die rechtliche Gleichstellung sowie grössere politische und wirtschaftliche Freiheit für alle Bürger zum Ziel hatte.
Unter dem Einfluss oder der direkten Herrschaft Frankreichs waren unterschiedliche deutsche Staaten diesem Beispiel gefolgt. Für all jene aber, die gegen den französischen Einfluss und die französische Herrschaft waren, wurde der Kampf gegen die Judenemanzipation zum vordringlichsten Ziel.
Die antinapoleonische Nationalbewegung war dementsprechend von Anfang an judenfeindlich. Im Zuge des Widerstandes gegen die napoleonische Besatzung entstand also ein politischer Judenhass, der Frühantisemitismus.
So entwickelte sich als Reaktion auf die Französische Revolution eine neue, auf einem antiaufklärerischen und integral-christlichen Weltbild fussende, konterrevolutionäre Verschwörungstheorie. Sie ging davon aus, dass Juden Teil einer wahlweise aus Freidenkern, Freimaurern, Illuminaten, Jakobinern oder später auch Sozialisten und Kommunisten bestehenden Verschwörung gegen die herrschende Ordnung ist.
Konservative Verschwörungstheoretiker beschuldigten Freimaurer, Illuminaten und Juden, in geheimer Kooperation die Französische Revolution orchestriert zu haben, und fingen nun an, ähnliche Vorwürfe gegen die Juden zu erheben. Die Unterstellung dieser Verbindung findet sich noch in den berüchtigten «Protokollen der Weisen von Zion», dem einflussreichsten Text zur jüdischen Weltverschwörung, der erstmals 1903 publiziert wurde.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewannen deshalb Verschwörungsvorwürfe gegen Juden wieder an Popularität und Bedeutung.
Betont werden soll aber ebenso, dass aus der Zeit der Aufklärung auch wichtige Impulse zur Toleranz kamen. Ein klassisches Beispiel für Toleranz oder sogar Akzeptanz gegenüber den Juden findet sich im Leben und Werk des Dichters Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781). Er befasste sich mit dem Judentum als Religion in seinem Drama «Nathan der Weise» und in seiner religionsphilosophischen Schrift über die «Erziehung des Menschengeschlechts». In seiner frühen Komödie «Der Jude» bemühte er sich darum, volkstümliche Meinungen über Juden als Vorurteile zu entlarven.
Lessing hatte auch persönlich gute Beziehungen zu Jüdinnen und Juden. Hervorzuheben ist dabei seine Freundschaft mit dem jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelsson (1729 – 1786). Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung erkannte allerdings nur Montesquieu (1689–1755) das Judentum in seiner Eigenart an.
Antisemitismus im Zeitalter des Nationalismus
Mit zunehmender Assimilation der Juden im Laufe des 19. Jahrhunderts gewann ein moderner Antisemitismus an Gewicht. Das Verhältnis zu den Juden wurde in wachsendem Maße als Rassenfrage aufgefasst. Den Juden wurde die Schuld für die Schattenseiten der Modernisierung und des Kapitalismus in die Schuhe geschoben. Dazu kam noch der Vorwurf, dass sie die europäischen Völker kulturell überfremden würden.
Im 19. Jahrhundert stellten in verschiedenen Ländern die Gegner von Demokratisierung, Säkularisierung und Modernisierung die Behauptung auf, dass hinter dem aufkommenden Liberalismus und Sozialismus die Juden steckten. Das passende Buch dazu erschien 1903 in Russland: die „Protokolle der Weisen von Zion“. Diese rein fiktionale Schrift sollte eine internationale Verschwörung von Demokraten, Sozialisten und Juden dokumentarisch beweisen. Möglicherweise entstand diese Fälschung unter Mitwirkung des Geheimdiensts des Zaren.
Seit den 1870er Jahren entwickelte sich in vielen europäischen Ländern also eine neue Form der Judenfeindschaft, für die sich rasch der Begriff Antisemitismus durchsetzte. Die Entwicklung des Antisemitismus zur modernen Weltanschauung basierte auf dem Fundament des religiösen Antijudaismus und auf den antijüdischen Vorstellungen aus dem Kampf gegen die Judenemanzipation seit 1780. Dabei war der Antisemitismus eng mit dem Aufkommen des Nationalismus verbunden, blieb jedoch nicht auf diesen beschränkt. Er erwies sich als geeignetes Mittel zur politischen Agitation und wurde beinahe vom gesamten politischen Spektrum genutzt, zum Beispiel auch von Frühsozialisten, Katholiken, sowie von christlich-sozialen, konservativen bis hin zu extrem nationalistischen Strömungen.
Die Begründer dieses neuen Antisemitismus-Begriffs im 19. Jahrhundert – etwa Wilhelm Marr (1819 – 1904) oder Otto Glagau (1834 – 1892) – organisierten sich in Vereinen und beanspruchten für sich eine wissenschaftliche Grundhaltung: Sie bestimmten Juden nicht mehr religiöse als Juden, sondern als Angehörige einer auch sprachlich charakterisierbaren «Rasse». Dadurch wollten sie verdeutlichen, dass es nun nicht mehr um einen durch Gesinnungswandel (z. B. Bekehrung) veränderbaren religiösen Glauben oder um individuelle Charaktereigenschaften ging. Stattdessen richtete sich ihre Abneigung auf vermeintlich objektive, schädliche biologische Tatsachen, die nur durch Entfernung von Juden aus den jeweiligen Volkskörpern behoben werden könnten.
Das Anschwellen des europäischen Nationalismus vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg trug dann noch wesentlich zur Verschärfung des Antisemitismus bei. Dazu ein Zitat aus dem Buch «Judenhass heute» (1935) von Richard Coudenhove-Kalergi:
«Durch den Weltkrieg wurde der Nationalismus zur herrschenden Geistesrichtung in Europa. Jahre hindurch haben politische und geistige Führer der europäischen Nationen die Überlegenheit der eigenen Nation verkündet. Der Glaube an eine nationale Weltmission beherrscht heute die Deutschen und Franzosen, Briten und Amerikaner, Russen, Japaner und Italiener. Die kleineren Völker Europas begnügen sich mit dem Glauben an ihre Überlegenheit über ihre Nachbarnationen.
Überall wird dieser nationale Größenwahn gestützt durch halbwissenschaftliche Literatur, durch Geschichtsfälschung, durch biologische und philosophische Theorien. Weil diese Theorien der nationalen Eitelkeit schmeicheln, werden sie vom Gros der Halbgebildeten, unter denen sich viele der sogenannten Gebildeten befinden, kritiklos geglaubt und vertreten.
Wer diesen Theorien entgegentritt, wird als nationaler Gegner oder als nationaler Verräter bekämpft. Denn die Eitelkeit der Nationen ist stärker als ihre Wahrhaftigkeit.
Es ist klar, dass diese Geistesrichtung dazu beitrug, den Antisemitismus zu stärken. Der Hass und die Verachtung gegen das Fremde richtete sich auch gegen die Juden.
Während sich nach Abschluss des Weltkrieges die nationalistische Kriegspsychose in anderen Staaten gegen die Angehörigen der nationalen Minderheiten auswirkte, richtete sie sich in Ungarn und Deutschland, in denen nicht genügend nationale Minderheiten übrig geblieben waren, hauptsächlich gegen die Juden. Hier ergab sich eine Gelegenheit, für die erlittenen Ungerechtigkeiten Rache zu nehmen, ohne damit einen Nachbarstaat herauszufordern. So teilten die Juden das Schicksal der nationalen Minderheiten: nur waren ihre Leiden härter und bitterer.
Schlimmer als der Hass, dem die Juden ausgesetzt sind, ist die Verachtung.
Die meisten Menschen verachten gerne. Je tiefer sie auf andere herabblicken können, desto höher fühlen sie sich selbst. Diese Verachtung gegen andere stärkt das eigene Selbstbewusstsein.
Aus diesem Grunde pflegt der Adel auf das Bürgertum herabzublicken, das Bürgertum auf das Proletariat. Dieser Wille, zu verachten, ist tief in der Menschenseele verankert. Das Kastensystem ist auf dieser Verachtung aufgebaut. In Ländern, in denen mehrere Rassen zusammenleben, lebt sich dieser Verachtungswille in der Rassen-Verachtung aus. Selbst im insularen Japan hat dieser Wille zur Verachtung eine Pariakaste geschaffen, die Eta. In Europa lebt sich dieser Wille, durch Verachtung anderer das eigene Selbstbewusstsein zu befriedigen und zu steigern, im Antisemitismus aus.
Der Antisemitismus schmeichelt den Nicht Juden, indem er ihnen das Bewusstsein schenkt, einer Adelsrasse anzugehören, einer privilegierten Kaste. Die Juden geben den Hintergrund ab, von dem das Bild des Ariers sich abheben soll. Die Nicht-Juden erhalten so die Möglichkeit, selbst wenn sie auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stehen, auf eine Menschengruppe herabblicken zu können. Für viele Menschen ist dies ein großer Trost: ein doppelter Trost in Zeiten wirtschaftlicher Not. Denn der Blick nach unten weckt, stets die Illusion, oben zu sein. Das bloße Dasein einer verachteten Kaste gibt allen, die ihr nicht angehören, das Recht, sich ihr gegenüber als Aristokratie zu fühlen. So wird der Antisemitismus zum Adelsstolz der Bürgerlichen. Darum ist er unter Kleinbürgern viel intensiver als im Hochadel, dessen Klassenstolz auf andere Weise Befriedigung findet……
Judentum als Negation des Nationalen
Der antisemitische Nationalismus bekämpft die Juden nicht nur als Nation, sondern zugleich als I n t e r n a t i o n, als Negation der nationalen Idee. Dadurch wird der Judenhass der Deutschen um eine Dimension größer als ihr Franzosenhass.
Die internationalen Beziehungen und Verbindungen der Juden lassen sie als Gefahr erscheinen für den Nationalismus an sich, als Vertreter des verhassten Internationalismus, als Verbündete der sozialistischen, kapitalistischen und bolschewistischen Internationale.
Der Kampf gegen das Judentum wird als Kampf empfunden zwischen der nationalen und der internationalen Weltanschauung, als ein Kampf für die Zukunft der eigenen Nation.
Nicht einmal der Zionismus reinigt die Juden von diesem Verdacht: viele Antisemiten sehen in Zion nicht eine nationale Heimstätte der Juden, sondern eine entstehende Zitadelle des Internationalismus.
Den Juden wird auch ihre pazifistische Einstellung vorgeworfen. Diese Einstellung ist ein natürliches Ergebnis ihrer Entwicklung und ihrer Lage. Sie sind seit fast zweitausend Jahren entwaffnet. Seither sind sie nicht mehr Subjekte der Kriege, sondern nur Objekte. Sie können nicht durch den Krieg siegen, sondern nur durch den Krieg leiden. Kriege wurden nicht für ihre, sondern für fremde Ideale geführt. Sie aber mussten seit Generationen die Kriege anderer mit ihrem Geld und oft auch mit ihrem Blut bezahlen. Das letzte tragische Beispiel war der russisch-polnische Krieg, der die furchtbaren Judenmorde in der Ukraine zur Folge hatte.
Niemand kann sich unter diesen Umständen wundern, dass die meisten Juden heute wenig Kriegsbegeisterung aufbringen und lieber für den Frieden eintreten als für den Krieg. Denn es ist selbstverständlich, dass Völker, die seit zwei Jahrtausenden vom Kriegsdienst ausgeschlossen sind, weniger kriegerisch gesinnt sind als Völker, denen seit der Urzeit ununterbrochen kriegerische Ideale gepredigt werden.
Dennoch wäre es ein Unrecht, den Juden aus diesem Grunde Feigheit vorzuwerfen. Das Judentum darf diesen Vorwurf verachten. Es hat durch Jahrhunderte auf Scheiterhaufen und in Folterkammern bewiesen, dass es dort, wo es sich um seine eigenen Ideale handelt, keinem Volk der Erde an Heldenmut nachsteht. Es hat um seines Glaubens willen einen zweitausendjährigen Weltkrieg gegen ganz Europa geführt. Dadurch hat es ein Recht, sich als Heldenvolk ersten Ranges zu fühlen. Wer gerecht ist, muss dies anerkennen. Denn Krieg und Kampf sind zweierlei. Und Kriege sind nicht die einzigen Prüfsteine des Heldentums. Den meisten Menschen wird es leichter scheinen, in den Krieg zu ziehen, als angesichts des Scheiterhaufens ihre Überzeugung nicht preiszugeben.
Auch die Neigung der meisten Juden zu einer internationaleren Einstellung ist unbestreitbar. Ihre Verwandten sind über die ganze Welt zerstreut, sie kennen als Handelsvolk fremde Länder und fremde Völker und verfügen meist über einen internationaleren Horizont als die Nicht-Juden der gleichen Bildungsstufe. So bilden sie ein natürliches Band zwischen den Völkern und sind als Vermittler der nationalen Kulturen besonders geeignet. Aber gerade dieser Kosmopolitismus wird ihnen von den Nationalisten vorgeworfen.
Noch vor kurzem war es eine Auszeichnung, Kosmopolit genannt zu werden. Heute ist an dessen Stelle das Wort Internationalist getreten. Es ist keine Auszeichnung mehr, sondern eine Herabsetzung. In einer Zeit des allgemeinen Nationalismus ist der Internationalismus ebenso verächtlich wie es die Toleranz im Zeitalter der Glaubenskriege war.
Heute wird Europa von der nationalistischen Ideologie beherrscht, wie vorher vom religiösen Fanatismus. Diese nationalistische Epoche ist noch sehr jung. Sie entstand in der französischen Revolution und in den napoleonischen Kriegen. Sie fand ihren Höhepunkt im Weltkrieg. Sie steht heute im Kampf mit sozialen Ideologien. Niemand kann wissen, wann und durch welche Ideen sie abgelöst wird.
Aber so lange sie herrscht, wertet sie Kosmopolitismus und Pazifismus als Ketzereien. Der Antisemitismus, der früher als Ablehnung der jüdischen Religion aufgetreten war, erscheint in seinem neuen Gewand als Ablehnung der jüdischen Nation oder des jüdischen Internationalismus. Die Biologie wird herangezogen, in diesem Prozess das Erbe der Theologie zu übernehmen: und immer finden sich Gelehrte dazu bereit, durch wissenschaftliche Formeln politischen Wünschen entgegenzukommen. Wer dies bezweifelt, braucht nur die Kriegsliteratur nachzublättern: er wird dort die Namen der hervorragendsten Gelehrten Europas finden, die mit dem ganzen Rüstzeug ihrer Wissenschaft die biologische und kulturelle Minderwertigkeit der Europäer jenseits der Schützengräben zu erweisen suchten. Und die Völker haben denen geglaubt — wie sie heute noch den antisemitischen Thesen glauben.»
(Quelle: http://www.antisemitismus.net/klassiker/1935/1935-1-05.htm)
Die äussere Seite des modernen Antisemitismus betrifft seine Politisierung und Organisationsbildung. Die innere Seite betrifft den mit der Wortschöpfung signalisierten inhaltlichen Wandel. Die religiöse Unterfütterung durch den christlichen Antijudaismus wirkte zwar weiter und kirchliche Milieus waren häufig Treibhäuser der Judenfeindschaft, doch nahm diese nun eine nationalistisch-xenophobe Form an, die dann rassentheoretisch begründet und zu einer «Weltfrage» zugespitzt werden konnte. Die «Judenfrage» wurde nun nicht mehr nur als eine Rassen- und Religionsfrage angesehen, sondern als eine Frage internationalen, nationalen, sozialpolitischen und sittlich-religiösen Charakters. Das Schlagwort von der «Judenfrage» machte Karriere und suggerierte damit die Existenz eines dringlichen gesellschaftlichen Problems. Das eigentliche Problem, die als krisenhaft erlebte Modernisierung, wurde dadurch auf die Juden projiziert, weil ihr sozialer Aufstieg sie zum Symbol der Moderne machte. Mit der Forderung nach Rücknahme der Juden-Emanzipation versuchte der Antisemitismus die allgemeine Krise zu überwinden.
Weimarer Republik
Die «Protokolle der Weisen von Zion» wirkten auch über den Ersten Weltkrieg hinaus. Ihre Wirkung erzielten sie weniger mit ihrem Haupttext, sondern in den Vorworten und Kommentaren, in denen stets Verbindungen zu aktuellen und regionalen Ereignissen hergestellt wurden. So wurde in vielen Ausgaben der «Protokolle», die nach 1918 erschienen, der Erste Weltkrieg als Resultat eines jüdischen Komplotts dargestellt.
In Deutschland, wo die «Protokolle» erstmals im Jahr 1920 in Übersetzung erschienen, hatten sie gemeinsam mit anderen Schriften zur angeblichen jüdischen Weltverschwörung grossen Einfluss auf zahlreiche Menschen. In speziellem Masse gilt das für Adolf Hitler und andere führende Nationalsozialisten.
Mit der Dolchstoßlegende hatte die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) eine Verschwörungstheorie in die Welt gesetzt, die die Schuld an der von ihr verantworteten militärischen Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg vor allem auf die Sozialdemokratie, andere demokratische Politiker und das „bolschewistische Judentum“ abwälzen sollte. Die «Dolchstosslegende» besagte, das deutsche Heer sei im Weltkrieg „im Felde unbesiegt“ geblieben und habe erst durch oppositionelle „vaterlandslose“ Zivilisten aus der Heimat einen „Dolchstoß von hinten“ bekommen. Antisemiten verknüpften „innere“ und „äußere Reichsfeinde“ darüber hinaus zusätzlich mit dem Trugbild vom „internationalen Judentum“.
Massgeblich beteiligt an der Verbreitung der Dolchstosslegende war General Erich Ludendorff (1865 – 1937). Er hatte grossen Einfluss auf die Kriegsführung im Ersten Weltkrieg und die Politik in der Weimarer Republik. Mit der Dolchstosslegende konnte er sich vom Eingeständnis seines Scheiterns als Militärführers entlasten. Auch die massive Kränkung durch seine Entlassung am 26. Oktober 1918 liess sich dadurch wohl abmildern. Ludendorff zeigt eindrücklich, wie Verschwörungstheorien dazu genutzt werden können, um die Schuld für Niederlagen und Scheitern auf andere abzuschieben, damit man vor sich und gleichgesinnten weiterhin makellos dasteht. Die Verschwörungstheorie vom angeblichen Wahlbetrug, die von Ex-Präsident Donald Trump bewirtschaftet wird, ist davon eine aktuelle Variante.
In der Weimarer Republik betätigte sich Ludendorff in der völkischen Bewegung, beteiligte sich 1920 am Kapp-Putsch und 1923 am Hitler-Putsch, war kurzzeitig Reichstagsabgeordneter der Deutschvölkischen Freiheitspartei und Mitbegründer des Tannenbergbunds. Bei den Reichstagswahlen am 29. März 1925 liess Ludendorff sich als Kandidat der Völkischen für die Wahl zum Reichspräsidenten nominieren, erreichte aber nur 1,1 % der Stimmen.
Er zog sich nach diesem blamablen Resultat aus der Parteipolitik zurück. Das Scheitern seiner geplanten Karriere als Reichspräsident jedoch erklärte er wiederum verschwörungstheoretisch mit dem „Wirken überstaatlicher Mächte“. Damit meinte er den Jesuitenorden, die „Rom-Kirche“, die Freimaurerei, die kommunistische Internationale, das Umfeld um den tibetischen Dalai Lama (als dessen Beauftragten er 1937 Josef Stalin verdächtigte) und insbesondere das Weltjudentum. Alle diese Mächte hätten sich zusammengetan – so wähnte Ludendorff – um Deutschland zu demütigen und zu knechten. Sie strebten als letztendliches Ziel die Weltherrschaft an. Zu diesem Zweck hätten sie unter anderem bereits im Jahr 1914 das Attentat von Sarajevo inszeniert, dann die russische Revolution, den Kriegseintritt der USA, die Novemberrevolution und den Versailler Vertrag. Damit zeigt Ludendorff sehr deutlich einen Grundsatz, der sich oft in Verschwörungstheorien finden lässt: Alles ist mit allem verbunden. Es sind aber Verbindungen, die vom Verschwörungsgläubigen entsprechend seinem Weltbild konstruiert werden. Wenn man eine geschichtliche Figur sucht, an der sich Struktur und Funktion von Verschwörungstheorien illustrieren lassen, dann ist Erich Ludendorff ein guter Kandidat.
«Drittes Reich»
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurde die antisemitische Verschwörungstheorie zur offiziellen Staatsideologie erhoben; die NS-Propaganda verbreitete sie fortwährend und legitimierte so die antisemitischen Massnahmen des Regimes. Ohne den Mythos der jüdischen Weltverschwörung wäre der Genozid an den europäischen Juden nicht möglich gewesen.
Auch im «Dritten Reich» spielten die «Protokolle der Weisen von Zion» eine wichtige Rolle. Die NSDAP stützte sich in ihrer Propaganda stark auf die «Protokolle» und verbreitete deren „aufsehenerregende Enthüllungen“ schon ab dem Jahr 1921 in auflagenstarken Flugblättern. In seiner Schrift «Mein Kampf» bezog sich Hitler an einer Stelle auf die «Protokolle». Die Tatsache, dass sie in der angeblich jüdisch dominierten Frankfurter Zeitung für gefälscht erklärt wurden, galt ihm als Beweis für ihre Echtheit. So einfach geht Beweisführung à la Hitler. In seinen späteren Reden kam er aber nur selten explizit auf die «Protokolle» zu sprechen.
Im Jahr 1934 verfügte Erziehungsminister Bernhard Rust, dass Rosenbergs Schrift «Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik» von 1923 im Schulunterricht zur «Judenfrage» thematisiert werden solle. Bis in das Jahr 1939 wurden die «Protokolle» im nationalsozialistischen Deutschland in grossen Auflagenzahlen immer wieder gedruckt. Als Erklärung dafür, dass während der Kriegszeit keine weiteren Auflagen mehr folgten, hält Michael Hagemeister die Sorge der Nationalsozialisten für plausibel, dass ein Vergleich zwischen ihren eigenen Herrschaftsmethoden und den Herrschaftsmethoden der angeblichen Weltverschwörer in den «Protokollen» allzu deutliche Parallelen ergeben könnte. Das wäre dann ein gutes Beispiel für die Projektion eigenen Verhaltens auf andere.
Die antisemitischen Verschwörungstheorien im Nationalsozialismus kommen in verschiedenen Varianten vor. In den Anfängen stand die Vorstellung einer «jüdischen Weltverschwörung» im Vordergrund, wie sie in den «Protokollen» an die Wand gemalt wird. In Hitlers frühen Reden stand die Polemik gegen die «Novemberverbrecher» im Vordergrund. Damit waren Juden und Linke gemeint, denen er die Schuld an der Niederlage und an der anschliessenden Revolution gab, sowie am «Schandfrieden» von Versailles, den er auf das verderbliche Wirken des internationalen jüdischen Finanzkapitals zurückführte, das Deutschland ausplündern wolle.
Schon bald integrierte Hitler aber auch die antisemitische Verschwörungstheorie des «jüdischen Bolschewismus» in seinen antisemitischen Hasskomplex. Entstanden ist diese hasserfüllte Verschwörungstheorie mit der Oktoberrevolution in Russland im Jahr 1917. Die Tatsache, dass führende Bolschewiki wie Leo Trotzki, Grigori Sinowjew und Karl Radek jüdischer Herkunft waren, nutzten ihre Gegner in Russland, um eine Wesensgemeinschaft zwischen Judentum und Bolschewismus zu behaupten und die Bevölkerung dadurch gegen die Revolutionäre zu mobilisieren. Allerdings traf das Schlagwort vom «jüdischen Bolschewismus» die Tatsachen nicht wirklich, denn die jüdischen Mitglieder der bolschewistischen Führung verstanden sich zumeist gar nicht mehr als Juden.
Die nachhaltigste und auf längere Sicht verheerendste Wirkung entfaltete die Verschwörungstheorie um den «jüdischen Bolschewismus» jedoch in Deutschland. Ab dem Jahreswechsel 1918/19 wurden Stadt und Land mit Broschüren und Flugblättern geradezu überschwemmt, in denen die Juden als die eigentlichen Drahtzieher der Revolution hingestellt wurden. Der Romanist Victor Klemperer klagt in seinem Tagebuch über «die grässliche Judenhetze, die in ganz Deutschland schamlos u[nd] bedrohlichst betrieben wird».
Er notierte im September 1919 in sein Tagebuch: «Es ist furchtbar. Der Jude ist an allem schuld, am Krieg, an der Revolution, am Bolschewismus, am Kapitalismus.»
In der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs spielte die Rede vom «jüdischen Bolschewismus» eine geringere Rolle. Die Hauptstossrichtung der antijüdischen Kampagne zeigte sich im Kampfbegriff «Plutokratie». Er unterstellte die Herrschaft des grossen Geldes in den demokratischen Staaten des Westens. Diese Vorstellung hatte Hitler mit seinen Hasstiraden gegen das internationale «jüdische Finanzkapital» bereits früh beschworen.
Das Feindbild des «jüdischen Bolschewismus» wurde erst mit dem Beginn des Unternehmens «Barbarossa» reaktiviert, dem Krieg gegen die Sowjetunion.
In diesem Russlandfeldzug ab Juni 1941 verbanden sich für Hitler zwei seiner Hauptziele: Die Vernichtung des «jüdischen Bolschewismus» und die Eroberung von «Lebensraum im Osten». Da er glaubte, dass sich die Sowjetunion in der Hand von Juden befinde, und deshalb in ihrer «rassischen Substanz» entscheidend geschwächt sei, schien ihm die gewaltsame Expansion nach Osten ein relativ risikoloses Unterfangen. Er sollte sich täuschen.
Später verknüpften sich die beiden ideologischen Stränge des Diktators – der «jüdische Bolschewismus» und die «jüdische Plutokratie» zu einer einzigen Hassformel: Die «jüdisch-kapitalistisch-bolschewistische Weltverschwörung». Dass der Kampfbegriff der «Plutokratie» an Bedeutung gewann, dürfte mit dem Eintritt der USA in den Krieg zusammenhängen.
Hitler verwendete diese Formel von der «jüdisch-kapitalistisch-bolschewistische Weltverschwörung» zum ersten Mal in seinem Neujahrsaufruf vom 1. Januar 1942.
Den eigenartigen Widerspruch, dass die Juden sowohl den Kapitalismus als auch den ihm entgegengesetzten Bolschewismus/Kommunismus steuern sollen, sah Hitler offenbar nicht.
Insgesamt vermischen sich im Nationalsozialismus drei hauptsächliche antisemitische Verschwörungstheorien:
☛ Juden als bestimmende politische und ökonomische Macht («Jüdische Weltherrschaft».
☛ Juden als Herren und Nutzniesser des internationalen Finanzsystems («Plutokratie», Kapitalismus.)
☛ Juden als Begründer und Anführer kommunistischer Lehre und Herrschaft (Bolschewismus).
Die Vernichtung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden im Holocaust basiert auf diesen antisemitischen Einstellungen und Verschwörungstheorien der Nationalsozialisten und wäre ohne sie nicht möglich gewesen.
Antisemitismus nach 1945
Der Antisemitismus verlor ab 1945 mit dem Ende des NS-Staates weitgehend seine Funktion und Bedeutung als politische Ideologie. Er besteht seither jedoch in vielfältiger Form bei Bevölkerungsteilen jeder sozialen Schicht, religiösen und politischen Orientierung fort.
Für zahlreiche überlebende Jüdinnen und Juden war mit dem Kriegsende allerdings keineswegs auch das Ende von Gewalt und Verfolgung gekommen. In Polen zum Beispiel waren aus der Sowjetunion, den Vernichtungslagern und dem Untergrund zurückkehrende Juden gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Etwa 2000 von ihnen kamen bei Pogromen und anderen Mordaktionen ums Leben (bspw. 1946 in Kielce).
Werner Bergmann (2020) schreibt:
«Die Erfahrung, dass Juden gleichsam ‘vogelfrei’ und auf die niedrigste gesellschaftliche Stufe herabgedrückt worden waren, hatte das Verhältnis zu ihnen brutalisiert, und viele sahen die tot geglaubten Überlebenden ungern zurückkehren, sei es, dass man Schuld wegen unterlassener Hilfe empfand, Rache oder Bestrafung fürchtete oder sich Besitz von Juden angeeignet hatte.»
In Deutschland war aufgrund der Erfahrungen des Holocaust ab 1945 expliziter oder traditioneller Antisemitismus nicht mehr gesellschaftlich akzeptiert. Er äusserte sich überwiegend versteckt. Allerdings gab es Holocaust-Leugner. Sie stritten oder streiten noch heute wider alle Fakten den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden ab oder verharmlosen ihn weitgehend. Holocaust-Leugnung ist seit dem Jahr 1945 ein fester Bestandteil rechtsextremer Ideologien und eine antisemitische Verschwörungstheorie. Eine besonders perfide Variante davon behauptet, die Juden hätten den Holocaust selbst erfunden. Das «Internationale Judentum» sei der wahre Drahtzieher hinter Adolf Hitler gewesen. Mit dieser ungeheuerlichen Verschwörungstheorie schiebt man den Juden die Schuld zu für den Zweiten Weltkrieg, den Faschismus und den Holocaust. Alle Varianten der Holocaust-Leugnung («Auschwitz-Lüge») dienen der Entlastung der Deutschen von Schuld und Verantwortung, was diesen Genozid betrifft.
In den totalitären kommunistischen Staaten etablierte sich im Kalten Krieg, aber auch schon in der Zwischenkriegszeit, eigene, paranoid angehauchte, verschwörungstheoretische Varianten des Antisemitismus.
Im Stalinismus kam es zu vielen Verhaftungen und Hinrichtungen, weil Stalin und einige Gefolgsleute sich gegen Ende des Jahres 1952 vor einer angeblichen «Ärzteverschwörung» fürchteten. Dabei handelte es sich um ein eingebildetes Komplott von Medizinern insbesondere jüdischer Herkunft. Diese hätten angeblich geplant, Stalin und weitere Führer der Sowjetunion auszuschalten.
Als der Staat Israel nach seiner Gründung im Jahr 1948 nicht den von Stalin erhofften prosowjetischen Kurs einschlug, eröffnete Stalin in der UdSSR und in den osteuropäischen Satellitenstaaten eine Antizionismus-Kampagne. Damit sollte der nationale Antisemitismus überdeckt werden. Im Verlauf von Schauprozessen in den frühen 1950er Jahren gegen hochrangige Kommunisten jüdischer Herkunft wurden diese als Agenten einer zionistisch-trotzkistisch-titoistischen Verschwörung angeklagt. In Parteiapparaten suchte man nach «jüdischen Nationalisten», in denen man Verräter vermutete.
Mit dem Ende der Nachwehen des Zweiten Weltkriegs und des Stalinismus und der Gründung des Staates Israel trat der Antisemitismus bis ins Jahr 1967 politisch und öffentlich mehr in den Hintergrund. Durch historische Forschung, Bücher wie das «Tagebuch der Anne Frank» und die Eichmann- und Auschwitz-Prozesse (1961 bzw. 1963-1968) traten Juden als Opfer des Holocaust ins öffentliche Bewusstsein, wodurch Verständnis und ein Gefühl der Mitschuld mehr Raum bekamen.
Der Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 veränderte die Ausgangslage und insbesondere das Bild Israels grundlegend. Israel wurde nun von vielen primär als Militär- und Besatzungsmacht betrachtet. Die kommunistischen Länder, die Staaten der Dritten Welt und die radikale Linke im Westen reagierten auf diese Entwicklung mit einer heftigen Wendung zum Antizionismus, der von antisemitischen Tönen nicht frei war. Damit ging weltweit ein Riss durch die Linke, weil die Gemässigten für Israel Partei ergriffen. Nun wurde der Nahostkonflikt auf der politischen Linken und Rechten instrumentalisiert, was bis in die Gegenwart anhält. Die antisemitischen Einstellungen in der westeuropäischen Bevölkerung gingen in dieser Zeit aber eher zurück.
Gegen Ende der 70er Jahre kamen einerseits militante neonazistische Organisationen auf, andererseits wühlte die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehsendung «Holocaust» anfangs 1979 in der Bundesrepublik viele Menschen auf und führte zu intensiven Diskussionen.
Heutige Formen von antisemitischen Verschwörungstheorien
Auch in der Gegenwart gibt es unterschiedliche Varianten von Antisemitismus und antisemitischen Verschwörungstheorien. Hierzu einige Beispiele:
☛ Nach wie vor bedeutsam ist der israelbezogene Antisemitismus. Hier liegt die Herausforderung darin, zwischen berechtigter Kritik an der israelischen Politik, die natürlich möglich sein muss, und einem Antisemitismus, der sich als Kritik tarnt, zu unterscheiden.
Zu möglichen Unterscheidungskriterien schreibt Micha Brumlik (2020):
«Kritik an der Politik israelischer Regierungen gilt gemäss einer auch von der EU akzeptierten Definition dann als ‘israelbezogener Antisemitismus’, wenn sie drei Kriterien erfüllt:
- wenn sie den Staat Israel und seine Politik dämonisiert d. h. diese Politik etwa mit der Politik des Nationalsozialismus oder kolonialen Gräueln gleichsetzt,
- wenn sie das Existenzrecht des Staates Israel anzweifelt sowie
- an die Politik dieses Staates höhere moralische oder völkerrechtliche Anforderungen stellt als an die anderer Staaten.»
Micha Brumlik weist zudem darauf hin, dass ein differenziertes Vorgehen nötig ist:
«Erstens ist zu verdeutlichen, dass der jüdische Staat Israel und die Jüdinnen und Juden in aller Welt zwar durchaus Gemeinsamkeiten und Bindungen ausweisen, aber dennoch nicht miteinander identisch sind.
Zweitens müssen wir darauf verweisen, dass auch Kultur und Gesellschaft Israels alles andere als homogen sind.
Drittens ist zu betonen, dass der scheinbar so ausweglose israelisch-palästinensische Konflikt durch die politische Unfähigkeit der jeweils auf beiden Seiten Regierenden in diese Lage manövriert worden ist.
Unter diesen Bedingungen besteht eine gute Chance, einer antisemitischen Deutung des Nahostkonflikts entgegenzuwirken.»
So kann auch vermieden werden, dass alle Jüdinnen und Juden der Welt für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden. Das wäre nämlich genauso absurd wie die alte Geschichte, dass alle Jüdinnen und Juden als «Christusmörder» gelten (abgesehen davon, dass es historisch betrachtet sowieso die Römer waren).
☛ Problematisch sind auch ein verbreiteter Antisemitismus und antisemitische Verschwörungstheorien im Islam. Dabei ist aber wiederum differenzierend festzuhalten, dass nicht alle Muslime antisemitisch sind. Insbesondere in islamistischen Kreisen wird aber ein antisemitisches Feindbild aufgeladen. Das bringt erhebliche Gefahren mit sich in islamisch geprägten Ländern wie auch im Westen. Auffallend ist dabei, dass der islamische Antisemitismus oft Verschwörungstheorien verwendet, die aus dem christlich-europäischen Raum importiert sind. Die «Protokolle der Weisen von Zion» spielen dabei eine grosse Rolle. Die sunnitisch-islamistische palästinensische Terrororganisation Hamas zitiert in ihrer Charta beispielsweise zustimmend aus den «Protokollen». In Baschar al-Assads Syrien sowie in Ägypten sendeten die staatlich kontrollierten TV-Stationen unbeanstandet politische Soaps über die «Protokolle der Weisen von Zion» und über jüdische Ritualmorde, eine Legende, deren Wurzeln ebenfalls im Christentum liegt. Nicht zu übersehen sind auch die massenhaften judenfeindlichen Karikaturen in der arabischen Presse, die denjenigen im nationalsozialistischen Hetzblatt «Stürmer» in keiner Hinsicht nachstehen. Der palästinensische Psychologe Ahmad Mansour sagt in einem Interview in der «Süddeutschen», dass Antisemitismus und Verschwörungstheorien in manchen muslimischen Familien zur Erziehung gehören. Mansour ist ein Pionier in der Arbeit mit muslimischen Jugendlichen gegen Radikalisierung und Antisemitismus im Projekt «Heroes» und bei «Mind Prevention». Auch Schulbücher sind im arabischen Raum oft hochgradig mit antisemitischen Stereotypen durchsetzt.
Antisemitische Verschwörungstheorien aus dem arabischen Raum aktualisieren sich immer wieder auch an neu auftretenden Ereignissen. So berichteten beispielsweise arabische Newsseiten nach dem Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001, der israelische Geheimdienst habe jüdische Mitarbeiter des WTC gewarnt und diese seien an jenem Tag nicht zur Arbeit erschienen. Damit konnte 9/11 in zentrale antijüdische Verschwörungstheorien eingebaut werden.
Auch kriminalistisch gut geklärte Attentate wie jenes auf die Zeitschrift Charlie Hebdo lassen sich mit einer kleinen Verschwörungstheorie leicht in eigene Weltbilder einbauen. Das Attentat wurde als «False-Flag-Operation» bezeichnet, womit die islamistischen Täter entlastet sind. Der eigentliche Drahtzieher sei der israelische Geheimdienst Mossad. Womit auch hier wieder die Juden schuld sind.
Islamistische Kreise fallen auch immer wieder mit Holocaust-Leugnung auf. Ein weithin bekanntes Beispiel dürfte der islamisch-fundamentalistische iranischer Politiker Mahmud Ahmadineschād. Der Ex-Präsident der Islamischen Republik Iran bekam für seine Äusserungen bezüglich des Holocausts und seine Bedrohungen des Staates Israel immer wieder Beifall und Zustimmung von Rechtsextremisten. Islamisten und Rechtextremisten haben aber nicht nur an diesem Punkt viel mehr gemeinsam, als beiden bewusst ist. Das beschreibt Julia Ebner eindrücklich in ihrem Buch «Radikalisierungsmaschinen».
☛ Ein wichtiges Thema im Umgang mit Antisemitismus und antisemitischen Verschwörungstheorien im Westen ist die Verwendung von antisemitischen «Codes». Da explizit antisemitische Rede ausserhalb von geschlossenen Facebook-Gruppen nicht gut ankommt, verwenden Antisemitinnen und Antisemiten oft andeutende Deckwörter, die eine gedankliche Verbindung zu antisemitischen Stereotypen schaffen, ohne sie direkt auszusprechen. Wenn zum Beispiel der rasche Aufstieg Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten damit erklärt wird, dass er eine „Marionette der Rothschilds“ sei, dann liegt auf der Hand, dass die jüdische Bankiersfamilie hier als Platzhalter für „die Juden“ fungiert. «Rothschild» ist in vielen antisemitischen Verschwörungstheorien ein Code für die angebliche jüdische Finanzelite. Michael Butter weist in seinem Beitrag über «Antisemitische Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart» aber zurecht darauf hin, dass es bei manchen Bergriffen auch kontraproduktiv ist, sie vorschnell als Codes für antisemitische Stereotype zu interpretieren:
«Wer alles als Chiffre oder Code liest, verkennt die Stoßrichtung vieler Verschwörungstheorien und akzeptiert die Logik des verschwörungstheoretischen Denkens selbst, das von der Annahme ausgeht, dass nichts so ist, wie es scheint. Das Problem bei der Analyse zeitgenössischer Verschwörungstheorien ist daher zu entscheiden, was als antisemitische Chiffre zu verstehen ist und was nicht.»
Es gebe Beispiele, die Recht eindeutig sind, schreibt Butter: «..wer „Rothschild“ sagt, meint die Juden.»
So klar ist das aber bei weitem nicht immer, erklärt Butter:
«Der Ausdruck „internationale Banken“ kann als Hinweis auf die jüdische Identität der angeblichen Verschwörer gelesen werden; er muss aber nicht so verstanden werden, da es sich um die einzige derartige Formulierung in der gesamten Rede handelt. Die „Wahrheit“ liegt hier letztendlich im Auge des Betrachters.»
Nicht jede Person, die das Wort «internationale Finanzelite» verwendet, setzt damit einen Code ein und ist ein verkappter Antisemit.
Ob ein Begriff oder eine Formulierung als Code für antisemitische Stereotypen interpretiert werden kann, hängt oft stark vom Kontext an, indem die Äusserung steht.
Eindeutigere antisemitische Codes sieht Butter in den Äusserungen der QAnon-Verschwörungstheorie. Hier zeigt sich ein ganzes Geflecht von Codes:
«Ganz anders verhält es sich mit der QAnon-Verschwörungstheorie, die am Anfang vor allem auf Plattformen wie 4chan und 8chan verbreite wurde und deren Anhänger ihre kruden Ideen mittlerweile vor allem über Telegram und Parler verbreiten. Unter anderem inszenieren sie Trump als einen Helden, der mit einigen Getreuen dem moralisch degenerierten „Tiefen Staat“ das Handwerk legen könne. Die Verkommenheit des „Tiefen Staat“ zeige sich darin, dass die liberalen Eliten an seiner Spitze Pädophile seien, die Kinder missbrauchen, ermorden und ihr Blut trinken würden. Diese Verschwörungstheorie ist deshalb eindeutig antisemitisch, weil Q in seinen Nachrichten immer wieder Juden – George Soros oder die Rothschilds – als Verschwörer identifiziert und weil die Anschuldigung, die Verschwörer würden aus dem Blut der Kinder den mysteriösen Stoff Adrenochrom gewinnen, Motive aus den antijüdischen Ritualmordlegenden des Mittelalters aufgreift.»
Fazit
Das grosse und vielschichtige Thema «Antisemitismus & Verschwörungstheorien» lässt sich im Rahmen eines solchen Beitrag nicht annähernd vollständig darlegen. Es sollte aber klar geworden sein, dass zwischen diesen beiden Begriffen enge Verbindungen bestehen.
Auch zeigt der Blick in die Geschichte, dass antisemitische Verschwörungstheorien sehr wandlungsfähig sind und sich den Umständen und der jeweiligen Zeit anpassen.
Antisemitismus und antisemitische Verschwörungstheorien sind Phänomene, die in den Antisemitinnen und Antisemiten produziert werden, sich aus bestimmten sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen speisen und oft auch zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden. Sie sind dann Teil einer demagogischen Machstrategie.
Siehe auch:
Welche politischen Interessen stehen hinter Verschwörungstheorien?
Jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung
Quellen:
Geschichte des Antisemitismus, Werner Bergmann, Beck Wissen 2020
Antisemitismus, Micha Brumlik. Reclam 2020
Antisemitismus, Werner Bergmann, in Handbuch der Verschwörungstheorien, von Helmut Reinalter (Hg.), Salier Verlag 2018
Verschwörungstheorien – Warum sind sie so verbreitet und was kann man dagegen tun?
(Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg)
Antisemitische Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart, von Michael Butter
(Bundeszentrale für politische Bildung)
Antisemitismus unter Muslimen: „Der Hass ist völlig außer Kontrolle“, von Ahmad Mansour
(Süddeutsche Zeitung)
Artikel zum Thema «Antisemitismus» auf Wikipedia.
Artikel zum Thema «Geschichte des Antisemitismus seit 1945» auf Wikipedia.
Artikel zum Thema «Geschichte des Antisemitismus bis 1945 auf Wikipedia.
Artikel zum Thema «Dolchstosslegende» auf Wikipedia.
Artikel zum Thema «Erich Ludendorff» auf Wikipedia.
Artikel zum Thema «Protokolle der Weisen von Zion» auf Wikipedia.