Kindesmissbrauch ist eine traurige Realität. Deshalb ist es unabdingbar, dieses Verbrechen konsequent zu bekämpfen.
Allerdings eignen sich Erzählungen über Verbrechen an Kindern auch sehr gut, um Wut und Empörung hervorzurufen. Damit sind sie ein wirksames Werkzeug für Demagogie und politische Agitation. Die Unterschiede zwischen echter Verbrechensbekämpfung und demagogischer Instrumentalisierung des Kindesmissbrauchs sind am besten an konkreten Beispielen zu erkennen.
Von echter Verbrechensbekämpfung hat gerade die Polizei-Ermittlungsgruppe berichtet, die sich mit Kindesmissbrauch in Bergisch Gladbach befasst. Sie hat in den vergangenen beiden Jahren 65 Kinder aus Missbrauchs-Lebenssituationen befreit und 439 Tatverdächtige identifiziert. Der Kölner Polizeipräsident Uwe Jacob stellte dazu in einem Resümee fest: „Jede Stunde, die wir hier verwandt haben, war den Einsatz wert.“
Dem Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach liegt ein großes Geflecht von Verdächtigen zugrunde, die sich im Netz über Kindesmissbrauch austauschten.
Der Fall kam ins Rollen, als Ermittler im Herbst 2019 bei einem Vater in Bergisch Gladbach zu einer Durchsuchung anrückten. Er hatte seine kleine Tochter über viele Monate hinweg schwer sexuell gequält und vergewaltigt und Aufnahmen davon in Internetchats mit anderen Tätern geteilt. Durch die Auswertung elektronischer Datenträger und vieler Chat-Verläufe kamen Polizei und Staatsanwaltschaft schnell immer weiteren Tatverdächtigen auf die Spur.
Polizeipräsident Jacob zeigte sich erfreut über die im Fall Berg bisher gesprochenen 13 Gerichtsurteile mit insgesamt mehr als 80 Jahren Freiheitsstrafe. Die Fälle Lügde, Münster und eben Bergisch Gladbach hätten einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass sexueller Missbrauch nicht irgendwo auf der Welt stattfinde, sondern fortwährend „mitten unter uns.“
So sieht reale, konkrete Verbrechensbekämpfung aus: Ausdauerndes Sammeln von Beweisen, die schliesslich zu Verurteilungen vor Gericht führen.
Und so sieht realer Kindesmissbrauch aus: Er findet sehr oft im näheren Umfeld des Kindes statt – zum Beispiel in der Familie oder im Sportverein.
Verschwörungsgläubige «kämpfen» gegen phantasierten Kindesmissbrauch
Verschwörungstheorien rund um das Thema «Kindesmissbrauch» haben eine lange Geschichte. Bekannt sind die antisemitischen Ritualmordlegenden. Sie tritt immer wieder in aktualisiertem Gewand auf. Beispiele dafür sind die Pizzagate-Verschwörungstheorie und die Adrenochrom-Geschichte im Umfeld der QAnon-Verschwörungstheorie, wie sie zum Beispiel vom Sänger Xavier Naidoo und vom Kochbuchautor und Hassprediger Attila Hildmann verbreitet werden. Hildmann behauptete beispielsweise, dass «100.000 US-Soldaten in den Bunkern unter Europa [kämpfen] um die Kinder aus den Händen der Pädophielen zu befreien. Diese Aktion läuft weltweit und wir dankenswerter Weise von Donald Trump, Putin und Xi gesteuert.» (vollständiges Zitat hier).
Hildmann macht selbstverständlich keinerlei Angaben, wo diese Kämpfe stattfinden sollen, denn dann könnte man sie überprüfen. Er kolportiert hier einfach eine QAnon-Verschwörungstheorie, wonach liberale Eliten Kinder foltern, um aus dem Kinderblut das angebliche Verjüngungsmittel Adrenochrom zu gewinnen. Diese Substanz liesse sich auch einfach herstellen und kaufen, aber mit solchen Details befasst sich QAnon nicht.
Auffallend ist auch, dass in den QAnon-Legenden der Kindesmissbrauch nicht im nahen Umfeld stattfindet, sondern politischen Gegnern unterstellt wird. So war es auch bei der Pizzagate-Verschwörungstheorie als Vorläuferin des QAnon-Kultes. Mit ihr wurde der Gegnerin von Donald Trump, Hillary Clinton, unterstellt, sie betreibe in einer Pizzeria einen Kinderpornoring. Eindrücklich ist dabei auch, dass die QAnon-Gläubigen nicht merken, wie sie politisch instrumentalisiert werden.
Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker decken keinen Kindesmissbrauch auf – sie erfinden ihn.
Das zeigte sich auch im Kontext der Satanismus-Verschwörungstheorien, die durch eine Reportage von SRF in der Schweiz aufgedeckt wurden. Hier schwadronieren Lehrpersonen, eine Psychotherapeutin und ein Psychiater faktenfrei über angebliche satanistische Rituale mit Kindern. So behauptete beispielsweise ein Lehrer, dass unter der Burgruine in Dornach (SO) satanistische Rituale stattfinden. Auf die Idee, diesen Verdacht der Polizei zu melden, kommt er offenbar nicht. Möglicherweise geht er davon aus, dass auch die Polizei mit den Satanisten unter einer Decke steckt. An dem Punkt zeigt sich wieder einmal, dass Verschwörungstheorien manchmal den Rechtsstaat unterminieren können.
Quellen:
Missbrauchskomplex: Ermittler befreien 65 Kinder (n-tv)
Wie in Köln der Kampf gegen Pädokriminelle weitergeht (FAZ)
WEGEN SATANISMUS-DOKU: Verschwörungstheoretiker-Lehrer unterrichten nicht mehr (20min)
Ausserdem:
☛ In den USA haben sich mehr als 100 Kinderschutzorganisationen gegen die Vereinnahmung ihres Kampfes gegen Kindesmissbrauch durch die QAnon-Sekte gewehrt. Siehe dazu:
Kinderschutzorganisationen wehren sich gegen QAnon-Verschwörungsideologie
☛ Wer wilde Thesen aufstellt, sollte auch Belege liefern:
Reportage zu Satanismus-Verschwörungstheorien in der Schweiz