Verschwörungstheorien haben in Russland eine lange Tradition. Insbesondere die Verschwörungstheorie von der «westlichen Einkreisung Russlands» ist fest verankert. In jüngerer Zeit hat das Kreml-Regime Hand in Hand mit der russisch-orthodoxen Kirche seine konspiratologische Propaganda diversifiziert und eine absurde LGBT-Verschwörungstheorie hinzugefügt.
In seinem Buch «Der Weg in die Unfreiheit» (2018) hat der renommierte US-amerikanische Historiker Timothy Snyder nachgezeichnet, wie systematisch und zentral für die russische Propaganda die Behauptung ist, der Russland-Ukraine-Krieg sei ein Krieg gegen «sexuelle Dekadenz», sprich Homosexualität. Nachdem es in den Jahren 2011 und 2012 Massenproteste gegen das Putin-Regime aufgekommen sind, nimmt die Behauptung immer grösseren Raum ein, es gehe bei der Widerstandsbewegung gar nicht um Politik, sondern um eine internationale Verschwörung, welche Russland mit homosexueller Propaganda überschwemmen, die Geburtenrate vermindern und die Nation schwächen wolle. Auch die Maidan-Proteste in Kiew zwischen November 2013 und Februar 2014 werden in diesem Propaganda-Zerrbild als «perverse» Homosexuellen-Verschwörung dargestellt.
Russland befindet sich aus westlicher Sicht in einem fanatischen Abwehrkampf gegen jede Art von Liberalität und Toleranz. In dieser Hinsicht hat sich auch der milliardenschwere Oligarch und Medien-Mogul Konstantin Malofejew geäussert. Krieg finde nicht nur auf dem Schlachtfeld statt, er sei hybrid. Ganz im Einklang mit der russisch-orthodoxen Kirche warnt er: „Der Krieg findet in den Smartphones unserer Kinder, in Zeichentrickfilmen und im Kino statt. Unser Gegner betrachtet die Sodomie-Propaganda wirklich als den Kern seines Einflusses. Bereits 2011 hat Hillary Clinton als US-Außenministerin eine Resolution herausgegeben, dass die Förderung sogenannter ‚LGBT-Werte‘ eine Priorität der Außenpolitik der Vereinigten Staaten ist. Und Schwulenparaden sind zu einem Zeichen der Loyalität eines bestimmten Landes gegenüber den Vereinigten Staaten geworden.“
Siehe dazu auch:
LGBT-Verschwörungstheorien in Russland
Angesichts von Stellungnahmen im Stil von Malofejew, der immer nervöseren russischen Behörden und massiver medialer Bevormundung flüchten sich offenbar nicht wenige Russen in Verschwörungstheorien.
Die Vorstellung, der Westen plane die Zerstörung Russlands mit Hilfe von ‚LGBT-Werten‘ und Schwulenparaden ist zwar komplett absurd, verfängt aber offenbar bei einem Teil der Bevölkerung. Die russische «Prawda» lässt dazu eine Psychologin zu Wort kommen:
„Wenn eine Person daran gewöhnt ist, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge herzustellen, entwickelt sie eine bestimmte Sichtweise, basierend auf ihrem objektiven Wissen.“
Im Idealfall könne sich ein Mensch „aufgrund nicht emotionaler, sondern sachlicher Informationen ein objektives Bild“ von der Realität machen. Wenn jedoch ein Mensch solche Fähigkeiten nicht habe, dann sei das menschliche Gehirn so konstruiert, dass es nach dem einfachsten und einzigen Ausweg suche, einer einfachen, aber für ihn konsequenten Theorie: „Zum Beispiel über eine Verschwörung, über Feinde.“
Quelle:
„Weinen kommt zu spät“: So düster sehen Russen ihre Zukunft
(Bayerischer Rundfunk)
Anmerkungen:
☛ Der «einfachste Ausweg» mittels der Produktion von Feindbildern ist ein verbreitetes Element in Verschwörungstheorien.
Siehe dazu:
Feindbilder & Verschwörungstheorien
☛ Auf Seiten der russisch-orthodoxen Kirche ist Patriarch Kyrill von Moskau der grosse Verbreiter von LGBT-Verschwörungstheorien. Er erklärte bereits 2013 die Legalisierung von Homo-Ehen zu einem Anzeichen für den bevorstehenden Weltuntergang. Sektenführer wie Kyrill haben immer eine Ausrede parat, wenn ihre Prophezeiungen nicht eintreffen. Der Kirchenfürst ist eng mit Diktator Wladimir Putin verbandelt.
Weltuntergangsphantasien sind nicht selten Bestandteil von Verschwörungstheorien. Siehe dazu:
Apokalypse-Erzählungen in Verschwörungstheorien
☛ Verschwörungstheorien in Bezug auf Homosexualität dienten auch zur Suche nach Sündenböcken seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis hin zum Putinismus. Siehe dazu: