Im Verlauf des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat die russische Propaganda mit ihren Multiplikatoren im Westen die Erzählung von der Einkreisung Russlands durch den Westen gestreut. Die Rede von der Einkreisung ist dabei Teil einer Legitimationsstrategie. Mit ihr soll der brutale Angriffskrieg Russlands gerechtfertigt und als verständliche Selbstverteidigung dargestellt werden.
So einfach ist das jedoch nicht. Denn die Rede von der Einkreisung ist nicht überzeugend. Vielmehr dürfte es sich um eine Verschwörungstheorie handeln, die in Russland eine lange Tradition hat. Das geht unter anderem aus einem Forschungsbericht hervor, den Olga Alexandrova schon im Jahr 1995 vorgelegt hat.
Olga Alexandrova schreibt:
«Der Glaube an Verschwörung, an Sabotage, an Subversion als die Ursache allen Unheils hat in Rußland eine lange Tradition. Verschwörungstheorien hatten dort immer Konjunktur, in Zeiten des Umbruchs, der Verunsicherung erleben sie eine Hochkonjunktur. Auch das Bild vom Westen als dem eigentlichen Drahtzieher der Verschwörungen wurde seit der Oktoberrevolution zuerst in Sowjetrußland und dann in der Sowjetunion stets gepflegt und zu Zwecken der Machtkonsolidierung instrumentalisiert.»
Den Verzicht auf dieses Feindbild hält Alexandrova für eine der größten Errungenschaften der Perestroika, der Glasnost und des „neuen politischen Denkens“.
Seit Ende der 1980er Jahre, den letzten Jahren der Regierung Gorbatschow, sei die Kultivierung der These von der westlichen Verschwörung beinahe ausschließlich zur Domäne der kommunistischen und großrussisch-nationalistischen Opposition geworden.
Die Bereitschaft, auf unangenehme Tatsachen mit Verschwörungstheorien zu reagieren, zeigte sich erstmals wieder deutlich im Sommer 1994. Die russische Führung selbst – wenigstens einige ihrer Vertreter – war nun bereit, sich der Verschwörungstheorien zu bedienen, um ihre Macht zu konsolidieren.
Angst vor Einkreisung und/oder Trend zur Selbstisolierung
Die innenpolitischen Veränderungen in Russland und die wachende Bedeutung der Sicherheitsdienste sind begleitet von einer sich ändernden Haltung der russischen Führung gegenüber der Außenwelt, in erster Linie gegenüber dem Westen. Diese neue Haltung sei vor allem von zunehmenden antiwestlichen Ressentiments gekennzeichnet und könne zu einer neuen Selbstisolierung Rußlands führen, schreibt Olga Alexandrova im Jahr 1995, und führt weiter aus:
«Zu den obsessiven Ideen sowohl im vorrevolutionären Rußland als auch in der Sowjetzeit gehörten die Befürchtungen einer „Einkreisung“ Rußlands bzw. der Sowjetunion durch feindliche ausländische Mächte (Stalins Parole von der „imperialistischen Umgebung“). Das „neue politische Denken“ Gorbatschows mit seiner Betonung der globalen Interdependenz anstelle der Konfrontation versuchte, diese Obsession zu überwinden und die Sowjetunion aus der selbstauferlegten Isolation herauszuführen.»
Olga Alexandrova führt dann weiter aus, dass die Außenpolitik der russischen Führung nach dem Zerfall der Sowjetunion auf eine enge Zusammenarbeit und Partnerschaft mit dem Westen ausgerichtet war. Isolationistische Ansätze – dem Westen gegenüber – zählten hauptsächlich zum ideologischen Instrumentarium der „unversöhnlichen“ Opposition. Ab Mitte 1993, vor allem unter dem Eindruck des Erfolges der kommunistischen und nationalistischen Opposition bei den Parlamentswahlen vom Dezember 1993, wurde die russische Außenpolitik gegenüber dem „nahen Ausland“ jedoch immer machtbewußter und gegenüber dem Westen immer weniger konziliant.
Analysen des russischen Auslandsaufklärungsdienstes (SVR) gingen davon aus, daß die klare Zielsetzung der westlichen Politik darin bestehe, zu verhindern, daß sich Rußland als Weltmacht konsolidiert. Im September 1993 wandte sich Präsident Jelzin mit einem Brief an einige NATO-Staaten gegen die NATO-Osterweiterung und warnte vor einer möglichen Isolierung Rußlands. Seitdem ziehe sich die These vom westlichen Kurs auf die Isolierung Rußlands wie ein roter Faden durch die Aussagen vieler russischer Politiker und außenpolitischer Berater, konstatiert Olga Alexandrova. Sie schreibt aber auch am Schluss ihres Forschungsberichts, es sei «nicht zu übersehen, daß nicht die „böswillige“ Politik des Westens Rußland in die Isolation treibt, sondern russisches Insistieren auf russischem „Anderssein“, auf russischer Ausschließlichkeit. Russisches Mißtrauen gegenüber dem Westen und nicht zuletzt die neuerwachte imperiale Attitüde zerstören mehr an positiven Ansätzen als es jede westliche Isolierungsstrategie vermöchte – wenn es sie denn gäbe.»
Quelle:
Alexandrova, O. (1995). Einkreisungsphobien, Verschwörungstheorien: Wiederkehr eines alten Syndroms in Rußland? (Aktuelle Analysen / BIOst, 17/1995). Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien. (ssoar.info)
Ergänzung:
☛ Die Angst vor Einkreisung durch den Westen hat in Russland eine lange Tradition. Wie weit sie real war, bzw. ist, steht auf einem anderen Blatt. Wer die Grenzen Russland anschaut, erkennt klar, dass eine Einkreisung Russlands durch den Westen nicht möglich ist. Und was die Nato-Osterweiterung betrifft, unterschlägt die russische Propaganda konsequent, dass die osteuropäischen Staaten freiwillig und souverän entschieden haben, der Nato beizutreten. Nicht zuletzt aus Furcht vor revisionistischen Angriffen von Seiten Russlands. Dass diese Furcht nicht unbegründet war/ist, zeigen die militärischen Interventionen und Angriffe Russlands in Moldawien, Georgien und in der Ukraine. Kein Land wurde von der Nato gelockt oder gezwungen beizutreten. Die Beitrittsgesuche von Georgien und der Ukraine im Jahr 2008 auf Eis gelegt. Europa und die Nato waren nach dem Zusammenbruch des Ostblocks vor allem an Stabilität in diesem Raum interessiert.
Wenn die russische Führung einen westlichen Plan zur Einkreisung Russlands unterstellt, reitet sie eine Verschwörungstheorie. Und sie versteht offenbar nicht, dass sie mit Drohungen, Einschüchterungsversuchen, Erpressung und Angriffen auf Nachbarländer auch noch Länder wie Schweden und Finnland dazu bringt, der Nato beizutreten. Aber dann wieder herumheulen, die Opferrolle zelebrieren und sich über «Einkreisung» beklagen….
☛ Im Stalinismus der Jahre 1927 bis 1953 in der Sowjetunion spielten Verschwörungstheorien eine besondere Rolle. Sie dienten als Propagandamittel und wurden zur Legitimierung von Unterdrückung und Verfolgung vermeintlicher Feindgruppen verwendet. Stalin (1878 – 1953) schaffte sich damit Sündenböcke, um von staatlichen Misserfolgen und Problemen der Bevölkerung im Alltag abzulenken. Die Aufarbeitung dieser brutalen Zeit wird vom Regime im Kreml aktiv behindert und der Diktator teilweise rehabilitiert.
☛ Siehe auch:
Die «Entnazifizierung der Ukraine» als russische Verschwörungstheorie
Goldene Milliarde – antiwestliche Verschwörungstheorie in Russland
Putin regiert Russland schon lange mit Verschwörungstheorien
Putin’s Bild der Ukraine ist geprägt von Verschwörungstheorien
LGBT-Verschwörungstheorien in Russland
Sowjetunion: Verschwörungstheorien zu ihrem Zusammenbruch