Der Untergang der „Titanic“ am 10. April 1912 war ein prägendes Ereignis des vergangenen Jahrhunderts. Im Verlaufe der Zeit sind um diese Katstrophe eine Reihe von Verschwörungstheorien entstanden. Dazu beigetragen hat wohl auch der Verhältnismässigkeits-Fehlschluss (Proportionality Bias). Er besagt, dass «grosse Ereignisse» auch grosse Ursachen haben müssen.
Eine der wohl bekanntesten Verschwörungstheorien zu diesem Thema besagt, dass die Titanic gar nicht gesunken ist. Die Katastrophe soll nur ein riesiger Versicherungsbetrug gewesen sein.
Diese Verschwörungstheorie gründet im 1996 publizierten Buch „The Riddle Of The Titanic“ (deutscher Titel: „Die Titanic-Verschwörung“) von Robin Gardiner und Dan van der Vat. Als Urheber der Geschichte gilt Gardiner, ein von der Titanic faszinierter Brite. Der niederländische Schriftsteller Van der Vat half nach eigenem Bekunden lediglich dabei, die Theorie von Gardiner in Buchform zu bringen. Gardiner dagegen publizierte in den Folgejahren noch weitere Bücher zu seiner Theorie eines Austausches.
Was behauptet die Geschichte der Titanic-Verschwörung?
Glaubt man der Verschwörungstheorie, ist am 10. April 1912 nicht die RMC Titanic in See gestochen, sondern ihr fast identisches Schwesterschiff RMS Olympic.
Die Olympic galt als Unglücksschiff. Sie begab sich 1911 auf Jungfernfahrt, kollidierte jedoch im selben Jahr noch mit einem Kriegsschiff und wurde dabei stark beschädigt.
Die Versicherung wollte dafür nicht bezahlen, was für die Reederei White Star Line ein finanzielles Desaster war.
Im März 1912 soll es deshalb bei Arbeiten an beiden Schiffe in einer Werft in Belfast zu einem Tausch der Identitäten gekommen sein: Am Bug der Olympic prangte fortan der Schriftzug Titanic – so die Behauptung.
Und dann soll im April 1912 anstelle der Titanic die Olympic unter falschem Namen und notdürftig zusammengeflickt von Southampton in Richtung New York in See gestochen sein – mit der Absicht der Reederei, dass das Schiff die Fahrt nicht übersteht. Der Reederei wird dabei unterstellt, dass sie mit diesem Betrug die Versicherungssumme für die Titanic kassieren wollte. Der Tod von über tausend Menschen soll dabei allerdings nicht vorgesehen gewesen sein. Denn zur Rettung der Passagiere sollte sich das Schiff „Californian“ in der Nähe aufhalten, das zum selben Schifffahrtskonzern gehörte. Die Titanic kollidierte laut dieser Verschwörungstheorie jedoch zu früh mit einem Eisberg, die Californian war zu weit entfernt – und fast 1500 der rund 2200 Personen an Bord starben. Soweit die Verschwörungstheorie.
Widerlegung der Verschwörungstheorie
Die Autoren Bruce Beveridge und Steve Hall publizierten 2004 das Buch „Olympic and Titanic: The Truth Behind the Conspiracy“, in dem sie die Verschwörungstheorie von Gardiner widerlegten. Der Brite Mark Chirnside, der mehrere Bücher zur Olympic-Schiffsreihe und der Titanic veröffentlichte, publizierte 2006 ebenfalls eine Analyse. Er kam zum Schluss: „Die Theorie von Gardiner hält einer seriösen Prüfung nicht stand und ich glaube nicht, dass sie das Recht verdient, als ernsthafter Beitrag zum Verständnis der Titanic-Katastrophe angesehen zu werden.“
Günter Bäbler hat sich intensiv mit der These von Gardiner auseinandergesetzt. Er ist Präsident des Titanic-Verein Schweiz und Autor mehrerer Bücher zu dem Thema. Der Experte kommt zum Schluss:
„Die Idee hat ihren Reiz, das gebe ich zu. Wenn man zwei Minuten überlegt, kann das aber nicht stimmen.“
Dafür reiche nur schon der Blick auf das Versicherungszertifikat der Titanic:
Das Schiff war bei Baukosten von rund 7,5 Millionen US-Dollar für den „Totalverlust“ nur mit fünf Millionen US-Dollar versichert. „Die Titanic war unterversichert. Dieses Motiv fällt schon mal weg“, erklärt dazu Experte Bäbler.
Er stellt darüber hinaus die Machbarkeit der Tauschaktion zwischen den Schiffen infrage. Dazu gehöre mehr, als nur die Namensschilder der Schiffe zu tauschen: „Die Schiffe waren durchaus nach gleichen Plänen gebaut, hatten aber ihre Unterschiede. Man hätte also unheimlich viele Bauteile an Bord anpassen müssen, damit die Olympic aussieht wie die Titanic.“
Das wäre viel Arbeit gewesen, die viele Werftarbeiter in kurzer Zeit hätten erledigen müssen – eine physische Leistung, die Bäbler für abwegig hält. Zudem tragen alle Bauteile, die seitdem auf dem Meeresgrund geborgen wurden, die Baubezeichnung „401“, die Markierung der Titanic – und nicht die Nummer „400“ der Olympic. Die ganze Austauschaktion hätte also «viele Arbeiter erfordert, denen man hätte sagen müssen, ihr dürft bis zu eurem Lebensende nichts sagen», sagt Bäbler. Er weist zudem darauf hin, dass auch die Crew hätte eingeweiht werden müssen.
Dass dann über 80 Jahre lang von dieser grossangelegten Täuschungsaktion nichts bekannt wurde, bis diese findigen Autoren Gardiner & van der Vat auf den Plan kamen, übersteigt für Bäbler die Vorstellungskraft.
Darüber hinaus löste Autor Dan van der Vat die Verschwörungstheorie seines Co-Autors auf. Auf seiner Website schrieb der 2019 verstorbene Schriftsteller und Journalist: „Die Verleger waren desillusioniert, als die Theorie nicht standhielt, aber dank der großartigen Unterstützung wurde es in mehreren Ländern (Japan, Deutschland, Italien) sowie in Großbritannien ein Bestseller. Die ganze Angelegenheit hat großen Spaß gemacht und wurde ausnahmsweise einmal anständig belohnt.“
Das Schiff Olympic hielt übrigens bis 1935 durch, ehe es abgewrackt wurde.
Quelle:
Ist die Titanic nie gesunken? (RP-online)
Ergänzung:
Günter Bäbler spricht den Umstand an, dass eine grossangelegte Verschwörung auch sehr viele Mitwisser haben muss, und daher grosse Gefahr läuft, in überschaubarer Zeit aufzufliegen. Das ist ein wichtiges Argument gegen komplexe Verschwörungstheorien und schon der italienische Staatsmann Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) hat in seinem Werk darauf hingewiesen. Siehe dazu:
Machiavelli über Verschwörungen und ihre Grenzen
Die Titanic-Verschwörung unterstellt zudem eine beinahe teuflische Boshaftigkeit. Dazu wäre noch „Hanlon’s Rasiermesser zu bedenken. Es besagt:
«Geh nicht von Böswilligkeit aus, wenn Dummheit, Schlamperei, Inkompetenz, Fehleinschätzung oder Irrtum zur Erklärung ausreichen.»
Siehe dazu den Artikel in der Enzklopädie: