Der «Proportionality Bias» beschreibt die Annahme, dass «grosse Ereignisse» auch grosse Ursachen haben müssen. Es handelt sich um eine systematische Verzerrung (bias = Verzerrung, Fehlannahme, Fehlschluss, Vorurteil), die bei der Entstehung von Verschwörungstheorien oft eine wichtige Rolle spielt.
Mit anderen Worten: Menschen wünschen sich für Ereignisse Erklärungen, die proportional sind zu den Effekten, die sie bei diesem Ereignis beobachten. Wenn also beispielsweise eine Pandemie das Wirtschaftsleben auf dem ganzen Planeten weitgehend einschränkt, dann ist die Erklärung, dass ein unsichtbares Virus von einer Fledermausart auf den Menschen übergegangen ist, jedenfalls für Verschwörungsgläubige nicht gleichermassen befriedigend wie die Erklärung, dass hinter diesem Ereignis eine grosse Verschwörung steckt, die unter Leitung von Bill Gates alle Regierungen, die Wissenschaft, die Pharmaindustrie und die WHO umfasst.
Katharina Nocun und Pia Lamberty schreiben dazu in ihrem lesenswerten Buch «Fake Facts»:
«Studien zeigen, dass wir dazu neigen, anzunehmen, dass ‘grosse Dinge’ stets auch ’grosse Ursachen’ haben müssen. Das bedeutet: Wenn uns als mögliche Erklärung für ein dramatisches Ereignis zwei Alternativen präsentiert werden, von denen eine trivial und die andere spektakulär ist, bevorzugen wir Letztere. Dieser psychologische Mechanismus des sogenannten Proportionality Bias erklärt, warum sich besonders viele Verschwörungserzählungen um vermeintlich alltägliche Todesursachen von Prominenten ranken. Dass eine bedeutende Figur der Weltgeschichte bei einem Unfall zu Tode gekommen ist, passt für viele Menschen einfach nicht zusammen, da sie intuitiv eine der Wichtigkeit der Person angemessene grosse Ursache erwarten.»
Eine Studie zum Proportionality Bias
Eine Studie zum Proportionality Bias beschreiben Christian Alt und Christian Schiffer in ihrem ebenfalls lesenswerten Buch «Angela Merkel ist Hitlers Tochter – im Land der Verschwörungstheorien»:
«Die Psychologin Anna Ebel-Lam hat sich das Proportionality Bias experimentell vorgeknöpft. Sie hat sich dazu zwei Geschichten ausgedacht: In der ersten Version gibt es eine Explosion im Frachtraum eines Flugzeugs. Der Pilot tut sein Menschenmöglichstes, um die Maschine noch zu landen, stürzt aber ab. Alle Passagiere sterben. Diese Version wurde einer Versuchsgruppe vorgelegt. Die andere las dieselbe Geschichte, nur war das Ende anders. Statt Tod und Verderben gab’s hier ein Happy End. Der Pilot konnte das Flugzeug gerade noch hochreissen und notlanden.
Nach der Geschichte sollten die Probanden aus einer Liste die möglichen Gründe für die Explosion auswählen. Und genau hier schlägt das Proportionality Bias zu. Denn die Gruppe, die die Geschichte gelesen hat, die mit dem Tod aller Passagiere endete, wählte viel häufiger ‘Terrorismus’ als Grund für die Explosion. Die andere Gruppe tat das Unglück häufiger als technischen Fehler ab. ‘Schlimme Dinge brauchen auch immer einen schlimmen Grund’, flüstert uns die nagende Stimme ins Ohr. Auch wenn es in der Realität gar nicht so sein muss.»
Beispiele für den Proportionality Bias
Attentate auf John F. Kennedy und Ronald Reagan
Christian Alt und Christian Schiffer weisen auf den Unterschied zwischen dem Attentat auf John F. Kennedy und dem Attentat auf Ronald Reagan hin.
Kennedy starb beim Attentat 1963, was weltweit grosse Bestürzung auslöste. Hier wird die Möglichkeit, dass ein durchgeknallter Einzeltäter geschossen hat, seit Jahrzehnten bestritten. Im Verlaufe der Zeit entsteht ein Universum an Verschwörungstheorien rund um die Tat.
Beim Attentat auf Reagan 1981 schiesst der Täter 6 Mal auf den Präsidenten. Eine der Kugeln verletzt Reagan schwer. Der Präsident überlebt. John Hinckley, ein psychisch kranker, gescheiterter Musiker, sagt später, dass er mit seinem Attentat die Schauspielerin Jodie Foster beeindrucken wollte.
Alt & Schiffer schreiben:
«Um das Reagan-Attentat ranken sich bis heute kaum Verschwörungstheorien. Oliver Stone hat keinen Film über Hinckley gedreht. Für alle scheint klar: Hinckley war krank, alleine und einsam. Die Erklärung war proportional zum Verbrechen.»
Tod von Jörg Haider
Um den Tod des österreichischen Politikers Jörg Haider im Jahr 2008 ranken sich viele Verschwörungsgerüchte. Vor allem für Mitglieder der FPÖ, die sowieso überdurchschnittlich zu Verschwörungstheorien neigen, scheint die banale Unfallursache kaum akzeptabel: Jörg Haider fuhr nach dem Besuch mehrerer Veranstaltungen und Gaststätten mit 1,8 Promille Alkohol im Blut nach Hause. Um 1 Uhr 15 geriet Haider nach einem Überholvorgang mit seinem Wagen bei Nebel in einer 70-km/h-Zone bei Tempo 142 km/h von der Strasse ab.
Haider erlitt beim Aufprall an einer Garteneinfassung lebensgefährliche Verletzungen und verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Jörg Haider, für seine Anhängerinnen und Anhänger ein strahlender Held, stirbt nach einer «Blaufahrt»? Das kann offenbar nicht sein. Deshalb wuchern um diesen Unfall vielfältige Verschwörungstheorien. Wikipedia fasst zusammen:
«Um Haiders Tod entwickelte sich eine Reihe von Verschwörungstheorien, die Sprengfallen, Raketenangriffe oder eine Inszenierung des Unfalls im Auftrag „der Ostküste“, der Deutschen Bank, der Deutschen Bahn und der Gewerkschaft hinter Haiders Tod vermuten. Ein verschwörungstheoretisches Buch zu Haiders Tod wurde von Gerhard Wisnewski im Kopp-Verlag veröffentlicht. Karlheinz Klement bekundete seine Ansicht, wonach Haider vom Mossad ermordet worden sei. Ottomeyer bezeichnet die Verschwörungstheorien um Haiders Tod als „Reduktion einer kognitiven Dissonanz […] die Verschwörungstheorie biegt Fakten zurecht, damit der Glaube – in den ich sehr viel investiert habe – erhalten bleiben kann und auch mein Selbstwertgefühl in keine Krise kommt“.»
Tod von Lady Di
Auch beim Unfalltod von Lady Di 1997 macht es der Proportionality Bias schwer, triviale Ursachen zu akzeptieren. Der Wagen fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit. Der Fahrer hatte vor der Fahrt das Antidepressivum Prozac und ein Mittel zur Behandlung von Alkoholismus (Tiapridal) zu sich genommen und 1,8 Promille Alkohol im Blut. Reicht das nicht, um einen grässlichen Unfall zu bauen? – Bei einer Berühmtheit wie Lady Di offenbar nicht. Deshalb gibt es um diesen Unfalltod bis heute Spekulationen und Verschwörungstheorien. Unter anderem wird der britische Geheimdienst MI6 verdächtigt. Belastbare Belege dafür gibt es nicht, es bleibt bei Spekulationen.
Flugzeugabsturz von Smolensk
Beim Flugzeugabsturz von Smolensk (2010) kommt ein grosser Teil der politischen und militärischen Elite Polens ums Leben. Als Ursache gelten hauptsächlich Pilotenfehler und darüber hinaus eine Verkettung von weiteren Pannen, Schlampereien und unglücklichen Umständen. Auch hier neigen Menschen wegen dem Proportionality Bias dazu, nach dramatischeren Ursachen zu suchen.
In der Folge dieses traumatischen Unglücks entstanden in Polen weitreichende Verschwörungstheorien mit einschneidenden politischen Folgen. Mehr dazu:
Smolensk – Verschwörungstheorie zum Flugzeugabsturz
Video:
Proportionality Bias: Wieso unser Hirn Verschwörungstheorien mag (Der Standard, 5,12 Minuten)