Der Determinismus geht von der Annahme aus, dass alle Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind. Zufall wird durch Determinismus ausgeschlossen.
Determinismus ist ein wichtiger Bestandteil vieler Verschwörungstheorien. Deren Anhängerinnen und Anhänger sind überzeugt davon, dass es hinter der sichtbaren Machtstruktur und ihren Akteuren unsichtbare, geheime und unbekannte Akteure mit versteckten Absichten gibt. Diese Verschwörer ziehen die Fäden und lenken die sichtbaren Akteure (Politiker, Experten) wie Marionetten.
Verschwörungsgläubige erkennen nicht an, dass es Aspekte des Zufalls und ungewollte Folgen von Handlungen in der Gesellschaft gibt. Alle Ereignisse und ihre Folgen sind gesteuert durch Absichten und Pläne dieser geheimen Mächte. Dieses deterministische Verständnis von Mensch und Gesellschaft bringt Verschwörungsgläubige dazu, ständig nach geheimen Plänen zu suchen. Und weil sie quasi mit einer übergrossen Lupe suchen, finden sie auch immer wieder Fragmente, die sich als Teil eines Plans interpretieren lassen.
Die Grundprämisse von Verschwörungstheorien ist laut dem Philosophen Slavoj Žižek, dass es «hinter dem öffentlichen Meister (der natürlich ein Hochstapler ist) einen verborgenen Meister gibt, der effektiv alles unter Kontrolle hält. […]die Effizienz der phantasmagorischen Logik der Verschwörung verlangt, dass der Feind eine unergründliche Entität bleibt, deren wahre Identität niemals vollständig offengelegt werden kann» (zitiert nach Fuchs 2022).
Determinismus schliesst Zufall aus
Christian Fuchs beschreibt den Determinismus im Kontext von Verschwörungstheorien so:
«Verschwörungstheorien schliessen die Existenz von Unbeabsichtigtheit und Zufall aus. Für sie ist jede Handlung durch einen bewussten, finsteren Plan motiviert. Sie gehen davon aus, dass bestimmte Gruppen immer und notwendigerweise lügen, ihre wahren Beweggründe verbergen und verschleiern, was wirklich vor sich geht. Anhänger/innen von Verschwörungstheorien misstrauen oft der Wissenschaft, Intellektuellen, Expert/inn/en und Politiker/inn/n und gehen davon aus, dass diese Institutionen und Gruppen immer lügen.»
Beispiele für deterministische Trugschlüsse in Verschwörungstheorien
Determinismus spielt in Verschwörungstheorien mit, wenn fraglos angenommen wird, dass reiche und mächtige Personen in allen ihren Handlungen und Zielen ausschliesslich nach Vermehrung ihres Reichtums und ihrer Macht streben. Sie sind dann festgelegt auf ausschliesslich diese Motivation.
Wer sehr reich ist, hat aber vielleicht auch einfach genug Geld, um sich daneben anderen Zielen und Werten zuzuwenden.
Christian Fuchs erläutert dieses Phänomen am Beispiel der Verschwörungstheorien rund um Bill Gates:
«Ein logischer Trugschluss bei dieser Verschwörungstheorie ist, dass alles, was Milliardäre tun, immer und notwendigerweise der Absicht folgt, immer mehr Profit zu machen und die Öffentlichkeit zu manipulieren. Bill Gates ist so wohlhabend, dass er es sich leisten kann, Forschung und wohltätige Zwecke zu unterstützen, ohne eine finanzielle Gegenleistung zu erwarten. Er hat kein Bedürfnis, noch reicher zu werden, als er bereits ist. Stiftungen ermöglichen es Milliardären, ihre Steuerzahlung zu reduzieren, was in einigen Fällen einer der Gründe ist, warum solche gemeinnützigen Organisationen gegründet werden. Stiftungen sind gemeinnützige Organisationen, die per gesetzlicher Definition nicht erwarten, Gewinn zu machen. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass Kapitalist/inn/en neben Profitinteressen keine humanitären Interessen haben können, die nicht auf dem Profitmotiv beruhen. Eines der Ziele der Gates Foundations ist es, die globale Gesundheit zu fördern….
Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich hierbei nicht um ein genuines Interesse der Gates ohne monetäres Interesse handelt….
Es gibt genügend Gründe, warum manche Milliardäre etwas Gutes tun wollen und sich deshalb in der Philanthropie engagieren. Milliardäre können sich Altruismus leisten.
Die Reduzierung von Steuerzahlungen und die Verbesserung des eigenen Rufes könnten zu den Beweggründen gehören, warum sich Milliardäre in der Philanthropie engagieren.»
Wie sich Determinismus bei Ken Jebsen zeigt
Der Verschwörungsideologe und Hassprediger Ken Jebsen zeigt in vielen seiner Auslassungen Determinismus in Reinkultur. So zum Beispiel in seinem Video «Gates kapert Deutschland». Dort behauptet er fälschlicherweise, dass die Gates-Stiftung die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu über 80% finanziert und sie damit steuert. Auch Medien und die Demokratien sind von Gates gekauft, damit er mit der Corona-Pandemie Geschäfte machen und die Weltbevölkerung kontrollieren kann. Bill und Melinda Gates haben sich «in die Weltdemokratien hineingehackt», behauptet Ken Jebsen.
Er jagt den Menschen mit Falschinformationen und Verschwörungstheorien Angst ein, um Aufmerksamkeit und Unterstützung zu bekommen. Dabei dient ihm das Feindbild Gates. Feindbilder sind durchdrungen von Determinismus: Der Feind ist festgelegt auf das Böse. Er kann keine anderen Motivationen habe. Ambivalenzen und Ambiguitäten sind ausgeschlossen. Siehe dazu:
Demokratie braucht Ambiguitätstoleranz – Verschwörungstheorien meiden sie
Christian Fuchs zeigt den Determinismus in Jebsens Video präzis auf:
«Jebsens Video basiert auf deterministischen Annahmen, nämlich dem Argument, dass, weil Bill Gates reich ist, alles, was er jemals tut, mit Notwendigkeit von dem geheimen Plan angetrieben wird, die Weltherrschaft zu erlangen und immer mehr Kapital und politische Macht zu akkumulieren. Dabei könne Gates Interesse, bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu helfen, nicht durch Humanismus ohne den Zweck der Akkumulation motiviert sein, sondern muss in der von Jebsen und anderen vertretenen Weltsicht auf dem Versuch beruhen, immer mehr Geld zu verdienen und die Bürger / innen und die Welt zu kontrollieren. Jebsen verwendet den logischen Fehlschluss der vorschnellen Verallgemeinerung, die davon ausgeht, dass Interessen und Handlungen in einem Kontext die Interessen und Handlungen in allen anderen Kontexten bestimmen. Diese Logik berücksichtigt nicht, dass Individuen wie Bill Gates und George Soros so reich sind, dass sie es nicht nötig haben, noch reicher zu werden, und es sich leisten können, etwas Gutes zu tun, z. B. Massnahmen zur Reduzierung des Kindersterbens zu unterstützen, die Gesundheit und Alphabetisierung von Kindern in Afrika zu verbessern und der Menschheit zu nützen, ohne sich der Logik der Kapital- und Machtakkumulation zu bedienen.
Vorschnelle, unqualifizierte Verallgemeinerungen können nicht erklären, dass es mehr als eine Logik gibt und dass die Dominanz einer Logik die relative Autonomie anderer Logiken in anderen Kontexten zulassen kann. Gates wurde durch Kapitalakkumulation in der Softwareindustrie reich, was ihm erlaubt, Geld in den Bereichen Forschung, Gesundheitswesen und Bildung auszugeben, ohne dass die Logik der monetären Rendite greift. In Gates’ Fall hat die Logik der Kapitalakkumulation ein quantitatives Niveau erreicht, auf dem sie sich in eine neue Qualität verwandelt hat, nämlich in Philanthropie, die Gates’ Ansehen verbessert, was eine instrumentelle Dimension ist, und humanitäre Ziele hat…
Der logische Fehlschluss ist hier die Annahme, dass, weil Bill Gates viel Geld in der Softwarebranche verdient hat, Geldverdienen und Macht die einzige Motivation bei allem ist, was er tut. Die Logik aus einem Kontext wird deterministisch auf alle anderen Kontexte übertragen.»
Verschwörungstheorien rund um George Soros
Neben Bill Gates sind die Verschwörungstheorien rund um den jüdischen US-Investor und Philanthropen George Soros ein weiteres Beispiel für Determinismus.
Der 1930 geborene Soros ist das Lieblings-Feindbild der Rechtextremen und Rechtspopulisten. Er unterstützt mit seinem Vermögen über seine Stiftungen, die Open Society Foundations, unter anderem Bürgerrechtsbewegungen, Bildungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) für Menschenrechte und weitere wohltätige Zwecke. Sein philanthropisches Engagement lässt sich aus seiner Biografie erklären.
Soros überlebte die massive Judenverfolgung während der Besetzung Ungarns durch NS-Deutschland und die Schlacht um Budapest. Sein Vater versteckte ihn und sich monatelang, wodurch er dem Abtransport der meisten ungarischen Juden in die Vernichtungslager und dem Holocaust entging.
Während seines Studiums an der London School of Economics and Political Science kam er unter anderen mit dem Philosophen Karl Popper in Kontakt. Dessen Konzept einer offenen Gesellschaft beeinflusste ihn stark, so dass er später mehrere seiner eigenen Gesellschaften danach benannte. Dabei geht es bei der «offenen Gesellschaft» aber nicht, wie manche Rechtspopulisten glauben, um die Abschaffung von Grenzen, sondern um ein demokratisches Gesellschaftskonzept (Zusammenfassung hier).
Als Feindbild aufgebaut und bewirtschaftet wurde und wird George Soros durch den ungarischen Premierminister Viktor Orban. Inzwischen wird das Feindbild Soros weltweit benutzt für alle möglichen konspiratorischen Themen. Unter anderem soll Soros die weltweiten Migrationsströme lenken («Der grosse Austausch»).
Auch am Beispiel von George Soros zeigt sich also ein Determinismus, der den Milliardär auf das absolut Böse festlegt. Er kann nicht anders, bei allem was er tut. Darüber hinaus spielen bei den Verschwörungstheorien rund um George Soros noch antisemitische Elemente mit. Siehe dazu: Antisemitismus und Verschwörungstheorien
Quellen:
Christian Fuchs, Verschwörungstheorien in der Pandemie, UVK Verlag München 2022 (Seiten 30, 43, 66, 72, 74)
Beitrag zu George Soros auf Wikipedia.
Ausserdem:
☛ Ein verwandtes Thema zum «Determinismus» ist das Thema «Kontingenzreduktion»
Kontingenzreduktion / Zufalls-Verleugnung.
Siehe dazu: Kontingenzbewältigung / Zufalls-Verleugnung
☛ Eng verbunden mit dem Determinismus ist das «Mechanistische Weltbild der Verschwörungstheoretiker». Sie halten Geschichte für planbar und damit für festlegbar.
Siehe dazu: Mechanistisches Weltbild der Verschwörungstheoretiker
☛ Der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey (1859 – 1952) beschreibt, dass die Geschichte von Ereignissen geprägt ist, die weder berechenbar noch planbar sind (= kein Determinismus) und die von den beteiligten Personen häufig auch gar nicht so gewollt waren. Gleichzeitig sind historische Prozesse jedoch auch nicht einfach das Resultat von Zufällen. Vielmehr entwickeln sie sich aus einer Mischung dieser Einflüsse: den vorgegebenen, berechenbaren Gesetzmässigkeiten, den Absichten und Plänen von Menschen, und den Widerfahrnissen des Zufalls. Sie werden jedoch auch mitgestaltet durch das, was Menschen gemeinsam tun, sei es bewusst oder unbewusst.
John Dewey schreibt in „Erfahrung und Natur“ (Suhrkamp 1995):
«Die Welt, in der wir leben, ist eine eindrucksvolle und unwiderstehliche Mischung aus Fülle, Vollständigkeit, Ordnung und Wiederholungen, die Voraussage und Kontrolle ermöglichen, und Einzigartigkeiten, Mehrdeutigkeiten, ungewissen Möglichkeiten und Prozessen, die zu Ergebnissen führen, die noch ungewiss sind.»
Das widerspricht der von Determinismus geprägten Weltsicht der Verschwörungsgläubigen fundamental.
☛ Philanthropische Aktivitäten von Milliardären jeder Art und somit auch jene der Gates-Stifung sollen selbstverständlich kritisch hinterfragt und diskutiert werden. Verschwörungstheorien sind dabei allerdings nur hinderlich. Vielmehr ist es auch in diesem Bereich wichtig, zwischen notwendigem gesundem Misstrauen und dem toxischen Misstrauen der Verschwörungsideologen zu unterscheiden. Siehe dazu: Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen