Die Verschwörungstheorie der «Brunnenvergiftung» hat seit dem Mittelalter zu vielen Pogromen an Juden geführt.
Unter einer Brunnenvergiftung versteht man die absichtliche Verunreinigung des lebensnotwendigen Grund- und Trinkwassers mit gesundheitsgefährdenden Schad- und Giftstoffen aller Art. Dies galt bereits in der Antike, als trinkbares Wasser in Städten und Dörfern meist nur durch Brunnen zugänglich war, als schweres, die Allgemeinheit betreffendes Verbrechen.
Das Delikt war besonders gefürchtet und mit strengsten Strafen belegt (Verbrennen, Rädern, Ertränken, Abhäuten bei lebendigem Leib). Es mag zwar in gewissen Situationen tatsächlich vorgekommen sein – etwa während einer Belagerung. Hauptsächlich wurde es jedoch nach Seuchenausbrüchen fälschlicherweise als deren Ursache angesehen. Dann führte es oft zu Pogromen, besonders unter Juden, aber auch unter Roma, Aussätzigen oder anderen Randgruppen.
Seit dem Mittelalter ist der falsche Vorwurf der Brunnenvergiftung eines der beliebtesten antisemitischen Stereotype. Er diente hauptsächlich zu Zeiten der Großen Pest von 1347 bis 1350 der Legitimation von Judenverfolgungen. Fasst man das Stereotyp genauer, ist es nicht einfach antisemitisch, sondern antijudaistisch. Der Hass richtet sich nicht gegen Juden als „Rasse“ (wie später bei den Nazis), sondern als Glaubensgemeinschaft. Der Antijudaismus war vor allem im Mittelalter verbreitet. Der Vorwurf der «Brunnenvergiftung» ist der klassische Fall einer antijudaistischen Verschwörungstheorie.
«Brunnenvergiftung» im Mittelalter
Aus der reichhaltigen Geschichte der «Brunnenvergiftung» im Mittelalter hier ein paar ausgewählte Stationen:
In Lausanne und Chillon am Genfersee wurden vom 15. September bis 18. Oktober 1348 die ersten Juden verhaftet und gefoltert. Ein jüdischer Arzt «gestand» unter der Folter eine grossangelegte Verschwörung aller Juden zur Vernichtung der Christenheit: ein spanischer Jude und ein französischer Rabbiner hätten ein geheimes Gift zusammengemischt und an Judengemeinden aller Länder versandt, um damit die dortigen Brunnen zu vergiften.
Weiterhin sagte er aus, dass man solche angeblichen Gifte jederzeit bei Hausdurchsuchungen anderer jüdischer Ärzte hätte finden können.
Die Lausanner übermittelten das unter Folter erpresste Geständnis als Sensation nach Freiburg im Breisgau und Strassburg. Ihr Vorgehen gegen die örtlichen Juden wurde in Zofingen im Aargau exakt nachgeahmt und von da aus als Muster von anderen Orten übernommen:
- Hausdurchsuchungen, „Gift“-Funde,
- Festnahmen, Folter
- Geständnisse, weitere Festnahmen
- Verbrennung aller Juden des Ortes
- Berichte darüber an Nachbarstädte.
Auf diese Weise breitete sich der Vorwurf der Brunnenvergiftung parallel zur Pest schnell in ganz Europa aus. Häufig wurden Stadträte auch von sich aus gegen Juden tätig und fanden in den Berichten aus anderen Städten dann nur noch die Bestätigung ihrer Verdächtigungen.
So wurden im November des Jahres 1348 die Juden in Bern und Stuttgart verbrannt, ohne direkte Nachrichtenverbindung zwischen diesen Städten.
Es folgten Pogrome, oft ohne Rechtsverfahren im Allgäu, in Augsburg, Nördlingen, Lindau, Esslingen am Neckar und Horb am Neckar.
In manchen Städten wie Solothurn wurden getaufte Juden vorerst verschont, dann jedoch ebenfalls hingerichtet, wenn die Pest nach der Verbrennung der nichtgetauften Juden nicht zurückging.
In der Stadt Basel glaubte man den Gerüchten aus Bern und Zofingen zuerst nicht. Einige Ritter, die Gewalttaten gegen Juden begangen hatten, schickten die Basler in die Verbannung.
Zwangstaufe von Kindern – Geständnisse durch Folter
Die Zünfte protestierten gegen diese Entscheidung und verlangten stattdessen die Entfernung aller Juden aus der Stadt. Diesem Druck gab der Rat nach und verbannte im Januar 1349 alle 600 Juden der Stadt in ein eigens errichtetes Holzgebäude auf einer Sandbank im Rhein. Zudem wurden 130 jüdische Kinder aus ihren Familien gerissen und zwangsgetauft. Später wurden auch getaufte Juden hingerichtet, nachdem sie durch Folter zu Geständnissen gezwungen worden waren, sie hätten neben dem Brunnenwasser auch Butter und Wein vergiftet.
Der Straßburger Rat verlangt von Zofingen zunächst eine Probe des Giftes, worauf Zofingen ablehnte und die Erprobung vor Ort zu demonstrieren anbot. Die Straßburger zwangen daraufhin eine Gruppe ihrer jüdischen Bürger, als Vorkoster Wasser aus angeblich vergifteten Brunnen zu trinken. Als nach drei Wochen niemand daran starb, stellten sie die Versuche ein. Doch weil sie die übrigen Brunnen bewachen ließen, nahmen die Orte der Umgebung an, die Schuld der Juden sei bewiesen. Nur der Rat zu Köln hielt sich zurück und schrieb den Strassburgern, sie sollten Ausschreitungen gegen Juden möglichst verhindern, solange sie von deren Unschuld überzeugt seien. Aufstände gegen Juden könnten leicht in Aufstände gegen die Obrigkeit umschlagen, befürchtete der Kölner Rat.
Die Judenverfolgung während der Pestjahre des 14. Jahrhunderts war die erste von weltlichen Obrigkeiten eingeleitete und getragene Pogromwelle des Mittelalters.
Anders als bei den Ritualmord– und Hostienfrevel-Legenden ging sie nicht vom kirchlichen Klerus aus.
Papst Clemens VI. erließ eine Bulle, die sich entschieden, jedoch weitgehend wirkungslos gegen die Fabel der jüdischen Giftverschwörung wandte. Clemens VI. wies in dieser Rechtsakte darauf hinwies, dass Juden ebenso Opfer der Pest seien wie Christen.
„Brunnenvergiftung“ als Vorwand für Bereicherung
Doch die Brunnenvergiftung war in zahlreichen Ortschaften ein beliebter Vorwand, um die in das Geld- und Pfandgeschäft abgedrängten jüdischen Gläubiger loszuwerden.
So spontan, wie man sich das von Pogromen oft vorstellt, sind die Ereignisse allerdings nicht immer abgelaufen. Ein Beispiel dafür sind die Morde an der Nürnberger Gemeinde, bei der vermutlich 562 Menschen starben. Sie erfolgten am 6. Dezember 1349. Der Nürnberger Rat unter Führung des Patriziers Ulrich Stromer (gest. 1385) hatte schon zwei Monate vor dem Pogrom bei Kaiser Karl IV. (reg. 1346-1378) dessen Erlaubnis als Schutzherr der jüdischen Gemeinde eingeholt.
In der berühmten Markturkunde wurde festgelegt, die unmittelbar am Rathaus gelegene jüdische Siedlung abzureißen, um an deren Stelle den bis heute existierenden Hauptmarkt zu errichten. An Stelle der Synagoge wurde die heutige katholische Pfarrkirche „Unserer lieben Frau“ erbaut. Wie in Würzburg und danach bei den Vertreibungen der Juden aus München, Landshut, Bamberg und Passau wurde in Nürnberg sofort eine Kirche an die Stelle der zerstörten Synagoge gesetzt. So wurde dieser Boden für die Kirche zurückgewonnen und zugleich eine Rückkehr der Juden an diesen Platz endgültig unterbunden.
Auch die Verteilung des jüdischen Besitzes und Aussenstände wurden in Nürnberg schon im Vorfeld geregelt. Ulrich Stromer bekam „um seiner Treue und Dienste willen“ als Anführer des Rates ein jüdisches Haus als Geschenk. Der jüdische Besitz sowie die Forderungen der Juden fielen an die Stadt. Nürnberger Bürgern wurden die Schulden bei den jüdischen Gläubigern erlassen. Der Bamberger Bischof und der Burggraf erhielten Hausschenkungen und höhere Geldsummen. Soweit es dazu Überlieferungen gibt, verfuhren auch andere Städte ähnlich.
In den der Pestpandemie folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten sind Juden noch häufig bei Seuchen der Brunnenvergiftung bezichtigt worden.
Die Verschwörungstheorie der Brunnenvergiftung verlor in der christlichen Bevölkerungsmehrheit erst ihre Glaubwürdigkeit, als weitere Seuchen auch Städte heimsuchten, aus denen alle Juden längst vertrieben und ermordet worden waren.
Quellen:
Wikipedia Kapitel Brunnenvergiftung
Judenverfolgungen (Spätmittelalter): Der Vorwurf der Brunnenvergiftung
(Historisches Lexikon Bayerns)
Brunnenvergiftung (Mittelalter Lexikon)
Fazit zur Verschwörungstheorie um die «Brunnenvergiftung»:
– Es ist eindrücklich, wie eine Verschwörungstheorie auf vollkommen faktenfreier Basis sich über Jahrhunderte halten konnte.
– Die schrecklichen Pogrome, die daraus folgten, sollten auch für die heutige Zeit als Warnung dienen. Wir funktionieren als Menschen nicht so fundamental anders als die Menschen jener Zeit. Immer wieder zeigt sich, dass die Zivilisationsdecke nicht so dick und tragfähig ist, wie das nötig und zu wünschen wäre.
– Bemerkenswert ist aber auch, dass es im Laufe der Geschichte immer wieder Menschen und Institutionen gab, die diesen Wahn in Frage stellten und sich nicht täuschen liessen – obwohl die Zeiten während der Pestepidemien hart und die Kenntnisse sehr begrenzt waren. Solche Menschen sollten wir uns als Vorbild nehmen.
Eine weitere klassische antijudaistischen Verschwörungstheorie ist die Ritualmordlegende.
Zur Geschichte des Antisemitismus siehe auch: