Ritualmordlegenden waren und sind ein wichtiger Bestandteil einflussreicher Verschwörungstheorien.
Sie unterstellen, dass gesellschaftlich diskriminierten Minderheiten – meist Juden – Ritualmorde an Angehörigen einer Mehrheitsgruppe begehen.
Und sie sind ein Mittel zur Verleumdung der behaupteten Täter. Sie dienen der Rechtfertigung der Unterdrückung und Verfolgung von diffamierten Minderheiten. Ritualmordlegenden haben im Verlauf der Geschichte diese Unterdrückung und Verfolgung nicht selten verstärkt bis hin zu Pogromen, Lynchmorden und Justizmorden.
Die Kolporteure von Ritualmordlegenden greifen häufig unaufgeklärte Entführungs-, Unglücks- oder Tötungsfälle auf. Dabei geht es oft um verschwundene oder getötete Kinder. Für solche tragischen und aufwühlenden Situationen bieten die Ritualmordlegenden Sündenböcke an.
Ritualmordlegenden sind nicht nur als im Aberglauben verwurzelte Volkssagen anzutreffen. Sie werden auch von religiösen, staatlichen, regionalen oder lokalen Interessengruppen gezielt zur Propaganda konstruiert und genutzt.
Die Ritualmordlegende ist eine der ältesten antijüdischen Verschwörungstheorien. In ihren Ursprüngen ist sie nicht antisemitisch, sondern antijudaistisch. Der Hass richtet sich nicht gegen Juden als „Rasse“ (wie später bei den Nazis), sondern als Glaubensgemeinschaft. Der Antijudaismus war vor allem im Mittelalter verbreitet.
Stationen aus der Geschichte der Ritualmordlegenden
Aus der reichhaltigen Geschichte der Ritualmordlegenden hier ein paar ausgewählte Stationen:
Antike:
Die Israeliten kannten in alter Zeit noch Kulte, die ein Opfer des ersten Kindes erforderten. Dieses untersagt die jüdische Tora streng und wiederholt und bedroht es mit Todesstrafe. Die biblischen Propheten verurteilten Menschenopfer als Götzendienst und stellten sie so unter ein Tabu. Eventuell bereits in der Väterzeit 1200 v. Chr., spätestens bis 800 v. Chr. ersetzten Tieropfer jedes Menschenopfer im Judentum. Auch diese reglementiert die Tora streng und untersagt Juden unter anderem den Blutgenuss, da im Blut das Leben sei und dieses ausschließlich dem Schöpfergott JHWH gehöre. Damit wurde eine entscheidende Begründung für Opfer – das Hingeben und Einverleiben fremder Lebenskraft – entkräftet.
Auch im antiken Griechenland wurden Menschenopfer bis etwa 480 v. Chr. abgewertet und verboten. Doch gleichzeitig wurden manche Andersgläubige und Fremde mit Vorwürfen geheimer Menschenopfer-Riten dämonisiert.
Während der römischen Republik wurden Ritualmorde manchmal politischen Gegnern unterstellt.
Im Verlaufe der Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich nahmen regionale und staatliche Christenverfolgungen zu. Die Gegner der Christen sagten ihnen neben sexuellen Orgien, Inzest und Schadenzauber auch nach, Neugeborene und Kleinkinder zu entführen, um sie heimlich rituell zu töten und zu verspeisen.
Daraus lässt sich gut zeigen, dass die Ritualmordlegenden nicht an bestimmte Religionen oder Kulturen gebunden waren. Sie betrafen die jeweils marginalisierten Minderheiten.
Die Kirchenväter übernahmen in den ersten acht Jahrhunderten das biblische Verbot der Menschenopfer und begründeten es mit dem Neuen Testament: Der Kreuzestod Jesu Christi habe Gottes Versöhnung mit der Welt gebracht (Joh 3,16 EU). Durch das stellvertretende Selbstopfer des Sohnes Gottes seien alle weiteren Opfer überflüssig geworden (Heb 9,12 EU; 10,10 EU). Die Kirchenväter unterstellten Juden deshalb zunächst keine kultischen Menschenopfer.
Doch mit der These von der jüdischen Kollektivschuld am Tod Jesu, der Ersetzung des erwählten Gottesvolks Israel durch die Kirche und weiterwirkenden Selbstverfluchung der Juden (Mt 27,25 EU) schufen sie die theologische Grundlage, auf die spätere Ritualmordlegenden sich stützten. Im Anschluss an die Konstantinische Wende beanspruchte die Kirche, die bis 391 zur Staatsreligion des Römischen Reiches aufstieg, auch politisch die Alleingeltung ihres Glaubens. Rasch stellte beinahe nur noch die jüdische Minderheit ihren Absolutheitsanspruch in Frage. Sie lehnte den Glauben an die Messiaswürde und an die Göttlichkeit Jesu und die Heilswirkung seines Todes ab. Sie widerstand allen Bekehrungsversuchen. Juden galten deshalb neben „Ketzern“ als Hauptfeinde des Christentums und wurden systematisch diskriminiert.
Hochmittelalter:
Als antijüdische Ursprungslegende kann der Fall William von Norwichs (1132 – 1144) aufgefasst werden.
Mit den nacherzählten Ereignissen rund um seinen Tod fing die Ausgestaltung der Ritualmordlegende im mittelalterlichen Europa an.
Im englischen Norwich tauchte 1144 erstmals der Vorwurf auf, Juden hätten zum Pessachfest ein vermisstes christliches Kind, den Kürschnerlehrling William, entführt und gemartert wie Christus am Kreuz. Das Gerücht löste eine Anklage gegen örtliche Juden aus, die jedoch wieder fallen gelassen wurde, weil die vorgebrachten Indizien nicht brauchbar waren. Sowohl Bischof Everard von Norwich als auch der englische König Stephan und auch der in Norwich ansässige Sheriff von East Anglia waren zudem von der Schuld der Juden nicht überzeugt und wiesen die Anschuldigungen zurück. Trotzdem kam es nach der Abweisung der Anklage zu einem Pogrom.
Der Benediktinermönch Thomas von Monmouth schuf um 1150 eine Legende um den Tod von William, die die Anklage nachträglich begründen und wundergläubige Pilger anwerben sollte, um Einkünfte an den Ort der Verehrung zu bringen.
Die Legende um William von Norwich ritualisierte einen gewöhnlichen Mordvorwurf mit Motiven, die in zahlreichen Ritualmordanklagen der folgenden Jahrhunderte immer wieder auftraten:
- Bezug auf den jährlichen Ostertermin,
- Motiv des „unschuldigen Kindes“,
- Entführung oder „Kauf“ des Opfers,
- Nachahmung der Kreuzigung Jesu,
- Schuldbeweis durch Wunder, die von der Leiche des vermeintlichen Opfers ausgehen.
Vorstellungen von Wunderheilungen durch die Körper der vermeintlichen Opfer tauchen zum Beispiel im «Adrenochrom-Mythos» wieder auf, der gegenwärtig in Gruppen der QAnon-Verschwörungstheorie kursiert und durch Promis wie Xavier Naidoo verbreitet wird. Siehe dazu:
Sänger Xavier Naidoo streut krude Verschwörungstheorie um Kindermorde wegen «Adrenochrom»
Im Mittelalter gab es zahlreiche Prozesse aufgrund vergleichbarer Anklagen. Die Angeklagten wurden oft gefoltert und endeten häufig auf dem Scheiterhaufen oder wurden gehängt. Im Jahr 1247 gaben in der französischen Gemeinde Valréas die Angeklagten nach grausamer Folter alles zu, was die Ankläger hören wollten: Juden würden weltweit am Karfreitag zur Beschimpfung und Entmachtung Jesu ein Christenkind kreuzigen, sein Blut auffangen und dieses am Karsamstag, ihrem heiligen Sabbat, trinken, um damit wie früher durch Opfer im Tempel entsühnt und gerettet zu werden.
Es gab im Mittelalter aber auch Schutzbemühungen zugunsten der bedrohten Juden. Im Jahr 1235 kamen in Fulda am Heiligabend fünf Kinder bei einem Hausbrand ums Leben. Die örtlichen Juden wurden beschuldigt, sie hätten zwei der Opfer ermordet und ihr Blut in Säcke abgefüllt, um es als Heilmittel zu verwenden. Zufällig anwesende Kreuzfahrer verbrannten am 28. Dezember 34 Mitglieder der Judengemeinde.
Um ähnliche Pogrome zu verhindern, liess Kaiser Friedrich II. (1194 – 1250) diesen Fall durch eine grosse Theologenkommission untersuchen, der jüdische Konvertiten aus ganz Europa angehörten. Das Resultat lautete:
„Weder das Alte noch das Neue Testament sagen aus, dass die Juden nach Menschenblut begierig wären. Im Gegenteil: Sie hüten sich vor der Befleckung durch jegliches Blut. Dies ergibt sich aus den Gesetzen des Moses, die hebräisch Berechet (Tora) heißen, in Übereinstimmung mit den Vorschriften, die hebräisch Talmillot (Talmud) heißen. Es spricht auch eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass diejenigen, denen sogar das Blut erlaubter Tiere verboten ist, keinen Durst nach Menschenblut haben können. Gegen diesen Vorwurf spricht: 1) der Horror dieser Sache; 2) dass es die Natur verbietet; 3) die menschliche Verbindung, die Juden auch den Christen entgegenbringen; 4) dass sie nicht willentlich ihr Leben und Eigentum gefährden würden.
Aus diesen Gründen haben wir im Konsens mit den regierenden Fürsten entschieden, die Juden des Reiches von dem schweren Verbrechen, dessen man sie angeklagt hat, freizusprechen und die übriggebliebenen Juden von allen Verdächtigungen frei zu erklären.“
Mit dieser rationalen Begründung verbot Friedrich II. weitere Ritualmordanklagen. Doch diese erfolgten weiterhin, verbreiteten sich europaweit und endeten beinahe alle mit Massenhinrichtungen oder Massakern.
Frühe Neuzeit:
Im 15. Jahrhundert kam es auch zu Ritualmordvorwürfen gegen weibliche und männliche „Hexen“. Ihnen wurden Praktiken vorgeworfen, welche die kirchliche Inquisition ab dem 13. Jahrhundert Katharern und Waldensern unterstellt und mit Folterverhören „bestätigt“ hatte: nächtliche orgiastische Zusammenkünfte mit Teufelsanbetungen oder Huldigungsritualen an böse Geister sowie Kinderopfer. Nun wurde die Existenz einer bedrohlichen Sekte angenommen, die Praktiken wie „Schwarze Magie“ heimlich verabrede und zur Zerstörung des Christentums ausübe. Motive wie der „Hexensabbat“ (vom Schabbat), die „Synagoge“ (für den Hexentanz) und Ritualmord stammten dabei aus älteren antijudaistischen Vorstellungen.
In diesem Zeitraum sind des Weiteren 30 Ritualmordanklagen gegen Juden im deutschen Sprachraum dokumentiert, vier in Spanien und Italien, zwei in Polen und eine in Ungarn. Sie endeten beinahe alle mit Pogromen und Hinrichtungen der Angeklagten.
Neuzeit:
Seitdem die meisten deutschsprachigen Städte die Juden bis etwa 1700 vertrieben hatten, kam es dort nur noch selten zu neuen Ritualmordanklagen; dafür umso mehr in Osteuropa, wohin zahlreiche vertriebene Juden geflohen waren.
In Mitteleuropa überdauerten Ritualmordlegenden gegen Juden die Aufklärung und Französische Revolution jedoch vor allem in ländlichen Gebieten. Sie lebten dort mündlich fort, wurden jedoch auch durch schriftliche und bildliche Überlieferung, vor allem Heiligenverehrung, gestützt und wachgehalten.
Vielerorts bedrohte bereits das bloße Gerücht eines Ritualmords die ortsansässigen Juden.
Das durch den Islam geprägte Osmanische Reich pflegte religiöse Toleranz gegen die Minderheiten der Christen und Juden. Während des 15. Jahrhunderts nahm es die aus Spanien vertriebenen Juden auf. Seitdem kam es auch hier zu Blutanklagen gegen Juden. Sie gingen alle von orthodoxen Christen – Griechen und Armeniern – aus, welche die Juden als wirtschaftlich privilegierte Konkurrenten sahen. Solche Anklagen waren bis 1800 jedoch sehr selten und wurden allesamt mit Dekreten von der Regierung zurückgewiesen.
Seit dem Zeitalter der Aufklärung waren Ritualmordlegenden unter Gebildeten unglaubwürdig geworden. Doch ab 1800 versuchten frühe Antisemiten, sie wiederzubeleben. Sie sollten nicht mehr religiös, sondern (pseudo)wissenschaftlich untermauert werden.
Ab etwa 1870 zeigte sich bei deutschen Nationalisten verstärkt die Tendenz, pseudowissenschaftliche anstelle von religiösen Erklärungen für „jüdische Ritualmorde“ zu konstruieren. Nun leiteten rassistische Antisemiten den angeblichen jüdischen „Blutdurst“ aus Rasse-Eigenschaften ab und stützten sich bei ihren Ausführungen auf vorherige kirchliche Erklärungen.
Weimarer Republik und NS-Zeit:
In der Weimarer Republik verbreiteten hauptsächlich Nationalsozialisten und andere völkische Bewegungen, Vereine und Zeitungen Ritualmordlegenden.
Das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“, herausgegeben von Julius Streicher, nutzte solche Gerüchte seit 1923 kontinuierlich für seine Karikaturen, um Juden als besonders abstoßende, heimtückische „Blutsauger“ darzustellen.
Der „Stürmer“ bediente laufend Verschwörungsfantasien, ähnlich wie die populären «Protokolle der Weisen von Zion», und voyeuristische Bedürfnisse durch eine stark sexuell konnotierte Berichterstattung über vermeintliche jüdische Sexualverbrechen, Zwangsprostitution und Handel mit heranwachsenden Kindern (diese antisemitisch konnotierten Themen tauchen in neueren Verschwörungstheorien in aktualisierter Form wieder auf, zum Beispiel in der Pizzagate-Verschwörungstheorie).
Am 17. März 1929 wurde bei Manau der Junge Karl Kessler tot aufgefunden. Daraufhin schrieb der Zahnarzt Otto Hellmuth als „Sonderberichterstatter“ einen Leitartikel im folgenden „Stürmer“ und behauptete darin:
„Die Sektion der Leiche ergab, daß der Körper völlig ausgeblutet war. … Damit ist der Beweis einwandfrei geliefert, daß es sich hier nur um einen jüdischen Blutmord handeln kann.“
Der Untersuchungsrichter widersprach öffentlich jedem Detail des frei erfundenen Hetzartikels. Doch Otto Hellmuth und der Stürmer-Redakteur Karl Holz hielten im ganzen Landkreis gut besuchte Vorträge mit dem Titel „Blutmord in Manau“ um das Osterfest (31. März 1929) herum und verteilten dabei eine Hetzschrift mit dem Titel „Jüdische Moral und Blutmysterien“. Darin wurde die Behauptung von 50 angeblich nachgewiesenen jüdischen Ritualmorden aufgestellt. Daraufhin wurden viele Juden der Umgebung festgenommen und mussten ein Alibi nachweisen. Am Fundort der Leiche wurde eine Gedenktafel aufgestellt. Später folgte ein Gedenkstein mit der Aufschrift „Karl Kessler – Opfer eines Ritualmordes“.
An dieser Stelle hielten örtliche NS-Aktivisten nun jährlich Gedenkfeiern ab. Otto Hellmuth stieg zum Gauleiter von Mainfranken auf und betrieb 1934 und 1937 die „Aufklärung“ des Falls, um seine Verdienste für das Gau aus der Zeit vor der Machtergreifung zu unterstreichen. Nach einer großen „Gedenkfeier“ am 19. März 1937 nahm die Gestapo neun Juden in Würzburg und Erlangen fest. Die Verhafteten waren durch gestreute Gerüchte mit dem Tod des Jungen in Verbindung gebracht worden. Obwohl alle Beschuldigten ein hieb- und stichfestes Alibi hatten, wurden sie bis November 1937 inhaftiert.
Am 1. Mai 1934 publizierte der „Stürmer“ ein Flugblatt mit dem Titel „Jüdischer Mordplan gegen nichtjüdische Menschheit aufgedeckt“. Das Titelbild dieses Pamphlets stellte einen angeblichen jüdischen Ritualmord dar. Im Text wurden die Juden beschuldigt, sie planten aufgrund angeblicher Ritualmordneigungen Morde an führenden NS-Vertretern, darunter Adolf Hitler. Die Reichsvertretung der deutschen Juden protestierte mit einem Telegramm an die Reichskanzlei und an den Reichsbischof der DEK gegen die Veröffentlichung dieses Flugblatts: Sie bedrohe Juden an Leib und Leben, schände ihren Glauben und gefährde Deutschlands Ruf im Ausland. Eine Antwort blieben die Angeschriebenen schuldig. Mit dieser Ritualmordkampagne wurden die Nürnberger Gesetze vom September 1935 angebahnt, insbesondere das Verbot von Ehen sowie sexuellen Kontakten zwischen Juden und Nichtjuden („Rassenschande“).
Der Breslauer Volkskundlers Will-Erich Peuckert zeigte ein seltenes Beispiel für wissenschaftliche Zivilcourage während der NS-Herrschaft. In Artikeln zu den Stichworten „Freimaurer“, „Jude“ und „Ritualmord“ im Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens widerlegte er kenntnisreich die antisemitische Ritualmordlegende und die Verschwörungsthese einer Beziehung zwischen Juden und Freimaurern. Durch eine Denunziation des NS-Volkskundlers Walther Steller kam es 1935 zu einem Gestapoverhör Peuckerts und zum Entzug seiner akademischen Lehrbefugnis wegen „politischer Unzuverlässigkeit“.
Während des Krieges betonten NS-Pamphlete immer wieder den Zusammenhang zwischen Ritualmorden und dem Judentum.
Die Ritualmordlegende war aufgrund ihrer historischen Konstanz, Volkstümlichkeit und Verankerung im kollektiven Unbewussten hervorragend zur Rechtfertigung des Holocausts geeignet.
Hellmut Schramm veröffentlichte 1943 eine 475 Seiten starke „historische Untersuchung“, die sich als Summe aller vorangegangenen Hetzschriften präsentierte: Der jüdische Ritualmord. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler befahl nach der Lektüre dem Chef des Reichssicherheitshauptamts, Ernst Kaltenbrunner, in den von Deutschland besetzten Gebieten Nachforschungen über Ritualmorde anzustellen. Er beabsichtigte, diese als Radiopropaganda zu benutzen. Zugleich bestellte er eine Auflage des Buchs und liess es an seine mit Massenerschießungen beauftragten Untergebenen verschicken:
„Ich übersende Ihnen mehrere 100 Stück, damit Sie diese an Ihre Einsatzkommandos, vor allem aber an die Männer, die mit der Judenfrage zu tun haben, verteilen können.“
Nach 1945:
Mit dem Ende des Nationalsozialismus löste sich die Ritualmordlegende keineswegs in Nichts auf. Zusammenhängend mit Fluchtbewegungen überlebender Juden kam es 1946 in Osteuropa zu neuen Pogromen. Beim Pogrom von Kielce (Polen) am 4. Juli 1946 attackierte ein lokaler polnischer Mob unter den Augen von Polizei und Armee jüdische Holocaust-Überlebende und Heimkehrer aus der Sowjetunion. 42 Juden wurden dabei ermordet und etwa 80 weitere verletzt. Das Pogrom von Kielce wurde ebenso durch Ritualmordvorwürfe ausgelöst wie Angriffe auf Juden in Kunmadaras, Miskolc und Özd in Ungarn im Mai und Juli 1946.
Rechtsextremisten verbreiten bis in die Gegenwart antisemitische Ritualmordlegenden im Internet und legen dazu auch alte Hetzschriften neu auf.
Quelle/Weitere Informationen: Wikipedia
Fazit für die Gegenwart:
– Die Ritualmordlegende tritt immer wieder in aktualisierten Gewändern auf. Beispiele dafür sind die Pizzagate-Verschwörungstheorie und die Adrenochrom-Geschichte im Umfeld der QAnon-Verschwörungstheorie, wie sie zum Beispiel von Xavier Naidoo verbreitet wird. Dabei bleiben die antisemitischen Wurzeln unerwähnt oder kommen in unterschiedlichem Ausmass zum Ausdruck. Historisch betrachtet sind sie aber im Hintergrund stets vorhanden.
– Fakten spielen in der Geschichte der Ritualmordlegende bis heute kaum eine Rolle. Angetrieben wird sie durch Hass und Ressentiments. Die Frage, was wahr ist, hat hinter dem zurückzutreten, was der Ideologie dient. Das lässt sich gut zeigen an der propagandistischen Ausschlachtung des angeblichen Ritualmordes an Karl Kessler durch die Nationalsozialisten.
Auf heute bezogen ist sehr besorgniserregend, dass Fakten für viele Menschen an Bedeutung zu verlieren scheinen. Und Politiker wie Donald Trump und Boris Johnson haben offenbar nicht trotz, sondern wegen ihrer faktenfreien Politik Erfolg. Aber wenn Fakten keine Bedeutung mehr haben, lassen sich Mächtige nicht mehr zur Rechenschaft ziehen. Es gewinnt dann derjenige, der die stärkere Propaganda einsetzt und lauter auftritt.
Siehe dazu:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
Ein empfehlenswertes Buch zum Thema:
Die Geschichte der Ritualmordlegende zeigt auch, wie wichtig Fakten als Basis rechtsstaatlicher Verfahren sind. Die Wahrheitsgewinnung durch Fakten verhindert, dass das Recht des Stärkeren sich ungehindert durchsetzen kann und entscheidet.
– Wer Ritualmordlegenden und ihre aktuellen Varianten heute verbreitet, stellt den Rechtsstaat radikal in Frage.
Natürlich gab es in der Geschichte der Ritualmordlegenden kaum je einen Rechtsstaat. Allerdings gab es immer wieder mutige Menschen, die mit Argumenten gegen diese Verschwörungstheorie antraten. Darin zeigt sich auch ein Ringen um erste Ansätze zu rechtsstaatlichen Verfahren.
Wer aber heute Ritualmordlegenden verbreitet greift den Rechtsstaat frontal an. Denn wer konkrete Hinweise hat auf ein Tötungsdelikt oder auf Kindsmissbrauch, ist moralisch, gesellschaftlich und rechtlich verpflichtet, damit zur Polizei zu gehen. Aufgabe der Staatsanwaltschaft und der Gerichte ist es, die Fakten zu klären und falls Verbrechen vorliegen ein Urteil zu fällen. Wer behauptet, die Wahrheit über Ritualmorde zu wissen, aber keine Justizbehörden einschalten, negiert den Rechtsstaat.
Kindsmissbrauch wird nicht aufgeklärt durch wirres, faktenfreies Verschwörungsdenken, sondern durch rechtsstaatliche Ermittlungen. Durch sorgfältiges sammeln und bewerten von Fakten.
Verschwörungsgläubige würden dazu aber wohl dazu sagen, dass die Gerichte mit den Missbrauchern unter einer Decke stecken. Genau dadurch zeigt sich die Verschwörungstheorie – zum Beispiel diejenige vom „Deep State“ („Tiefer Staat“).
Undenkbar, dass alle Mitarbeitenden in der Justiz bei Kindsmissbrauch und Kindermord nicht ermitteln würden. Viele von ihren sind selber Väter oder Mütter von Kindern. Das zeigt, wie absurd diese Verschwörungslegenden sind.
Zur Geschichte des Antisemitismus siehe auch:
Antisemitismus und Verschwörungstheorien
Ausserdem:
Ermittler decken Kindesmissbrauch auf – nicht Verschwörungstheoretiker