Verschwörungsgläubige verweisen gerne auf Galileo Galilei (1564 – 1641), um sich gegen kritische Einwände abzuschotten. Schon bei Galileo Galilei hätten die damaligen Autoritäten eine fortschrittliche und wahre Ansicht unterdrückt. Mehr oder weniger deutlich verweisen sie dann auf den Schluss, ihnen gehe es mit ihrer Ansicht heute genauso. In hundert Jahren würden dann alle erkennen, dass sie eben doch Recht gehabt hätten.
Es handelt sich dabei um den Versuch, Einwände, die Verschwörungstheorie sei eine unbelegte, unglaubwürdige Minderheitsmeinung, zu entkräften durch den Galilei-Vergleich.
Selbstverständlich sind Argumente nicht einfach darum schon falsch, weil sie von einer Mehrheit als falsch abgelehnt werden. Auch eine Mehrheit kann sich irren.
Wer das Galileo-Argument nutzt, kehrt die Sache aber unzulässig um und behauptet: Weil gewisse wahre Meinungen einmal als falsch abgelehnt wurden, muss auch meine spezifische, heute als falsch geltende Meinung wahr sein. Das geht so aber nicht.
Nachfolgend drei Erklärungen, weshalb das Galilei-Vergleich nicht stichhaltig ist:
☛ Der Psychologe Christoph Bördlein schreibt in seinem Buch «Das sockenfressende Monster in der Waschmaschine – Eine Einführung ins skeptische Denken»:
«Es ist zwar richtig, ‘dass die Gegner Galileis sich übrigens auch am Mainstream orientiert haben’. Da aber auf einen Galilei ca. 100 000 Spinner, deren Theorien sich nie bestätigen, kommen, ist a priori die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der nicht dem wissenschaftlichen Mainstream angehört, trotzdem recht hat, sehr gering. – Allerdings ist sie gegeben.
Es ist zwar schade, aber die Chancen auf eine sensationelle Entdeckung von einem Aussenseiter stehen denkbar schlecht. In Abwesenheit anderer Informationen sollte uns die Tatsache, dass der Vertreter einer ungewöhnlichen Behauptung mit den meisten seiner Fachkollegen nicht übereinstimmt, skeptisch machen. Natürlich gibt es auch Theorien, die die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler für richtig hält, die sich dann aber irgendwann einmal doch als falsch herausstellen Jedoch gilt: Je weiter eine Wissenschaft entwickelt ist, desto unwahrscheinlicher wird dieser Fall.»
☛ der Kommunikationswissenschaftler Marko Ković schreibt in seinem Blog:
«Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker — also Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben — verweisen gerne auf den Umstand, dass es in der Geschichte immer wieder Situationen gab, in denen die dominante Mehrheit der Gesellschaft die Meinung von Minderheiten unterdrückte: Neue Ideen und Erkenntnisse wurden über die Jahrhunderte immer wieder pauschal abgeschmettert und verboten, weil sie den Eliten und den Profiteuren des Status Quo ein Dorn im Auge waren. Das beste Beispiel ist Galileo Galilei, mutiger Vordenker, der es wagte, sich gegen die dominante Meinung zu stemmen — und dafür einen hohen Preis zahlen musste. Genauso verhalte es sich heute mit Verschwörungstheorien, die eben doch wahr sein könnten. Eppur si muove!
Dieses Motiv von David gegen Goliath hat eine starke persuasive Kraft. Es könnte ja doch was dran sein! In Tat und Wahrheit ist dieser Galileo Gambit aber nur ein rhetorischer Bluff, auf den vor allem die VerschwörungstheoretikerInnen selber reinfallen. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, kann noch und nöcher darauf pochen, dass ihre Thesen am Schluss vielleicht doch wahr sein könnten und sie darum mutige Vordenkerinnen und Vordenker wie damals Galileo sind. Doch die Rollen sind in Wahrheit vertauscht: VerschwörungstheoretikerInnen halten wie damals die katholische Kirche an irrationalen Überzeugungen fest und lehnen Evidenz und Argumente, die ihre Weltsicht gefährden, kategorisch ab.
Galileo wird nicht gefeiert, weil er zufällig etwas geglaubt hatte, was sich als wahr herausstellte — sondern, weil er von Anfang an die besseren Argumente hatte.»
Es komme immer wieder vor, dass eine gängige Position widerlegt wird, sagt Ković im „Tages-Anzeiger“:
«Bei Corona gibt es dafür ein gutes Beispiel: Am Anfang glaubten nur wenige Forscherinnen und Forscher, dass Aerosole, also kleinste Tröpfchen, bei der Übertragung eine Rolle spielen. Und je mehr man forschte, desto mehr Beweise fand man dafür – inzwischen wurde die Minderheits- zur Mehrheitsmeinung.» Für einen Paradigmenwechsel brauche es jedoch gute Belege. «Es reicht nicht, zu rufen: Ich bin der neue Galileo Galilei!»
☛ Die Journalistin und Digitalexpertin Ingrid Brodnig schreibt auf Twitter:
«Oft vergleichen sich Verschwörungsgläubige mit Galileo Galilei, der vor anderen erkannte, dass die Erde um die Sonne kreist. Nur ist dieser Vergleich schon eine Anmassung. Wenn mir andere widersprechen, muss das nicht heissen, dass ich ein Visionär wie Galileo Galilei bin. Es kann auch einfach sein, dass ich falsch liege.»
Fazit:
Das Galilei-Argument läuft ins Leere. Verschwörungsgläubigen kann es aber enorm bei der Selbstaufwertung helfen. Man kann sich mit dem Galileo-Argument im Rucksack gleichzeitig:
☛ als unterdrücktes Opfer der Mehrheit fühlen (der «Mainstreammedien», der «Schlafschafe») und
☛ als Held, als unerschrockener David, der gegen Goliath kämpft.
Das ist doch eigentlich schon ganz schön viel Gewinn aus einem schiefen Vergleich.
Quellen der Zitate:
Das sockenfressende Monster in der Waschmaschine – Eine Einführung ins skeptisch Denken, von Christoph Bördlein, Alibri Verlag 2002, S. 47
Was, wenn sie doch recht haben? Egal. Verschwörungstheorien könnten wahr sein. Aber darum geht es nicht. (Blog Marko Kovic)
Debatte über «False Balance»:
Mit Corona-Skeptikern reden – aber wie? (Tages-Anzeiger, Abo)
Beitrag von Ingrid Brodnig auf Twitter: https://twitter.com/brodnig/status/1355480950189252608/photo/1