Verschwörungsideologien mögen von aussen betrachtet skurril bis verrückt wirken. Doch reicht es nicht, derartige Auffassungen nur mit Fakten zu konfrontieren und sie damit zu widerlegen.
Hannah Arendt bemerkte zu diesem Punkt am Beispiel der «Protokolle der Weisen von Zion»:
„Wenn mit anderen Worten eine so offensichtliche Fälschung wie die Protokolle der Weisen von Zion von so vielen geglaubt wird, dass sie die Bibel einer Massenbewegung werden kann, so handelt es sich darum zu erklären, wie dies möglich ist, aber nicht darum, zum hundertsten Male zu beweisen, was ohnehin alle Welt weiss, nämlich, dass man es mit einer Fälschung zu tun hat.“
(aus: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, S. 24)
Wichtig ist deshalb zu beachten, dass Verschwörungsideologien jeweils einem bestimmten Bedürfnis entgegenkommen und demnach einen Nutzen bringen.
Der Politikwissenschaftler und Soziologe Armin Pfahl-Traughber beschreibt vier Funktionen von Verschwörungsideologien., die nachfolgend zusammengefasst werden:
-
Die Identitätsfunktion von Verschwörungsideologien
Die Vorstellung einer Verschwörung vermittelt Zugehörigkeitsgefühle. Das geschieht aber nicht durch die Benennung von positiven Identitätsmerkmalen. Es geht zum Beispiel nicht um positive Eigenschaften oder Haltungen, die man mit anderen teilt und sich so zugehörig fühlt. Es geschieht über die Abgrenzung von den als «böse Mächte» geltenden feindlichen Gruppen und ihren angeblichen Werten. Diese Wirkung entsteht aus einem dualistischen Weltbild. Es geht von einem Kampf zwischen den «Guten» und den «Bösen» aus. Zu den letzteren werden die angeblich konspirativ wirkenden Mächte gerechnet, die von den Anhängern der Verschwörungsideologien als Feindbilder verteufelt und verdammt werden. Mit Hilfe der Verschwörungsideologie kann man sich den «guten Mächten» zurechnen. Damit geht eine formale Identitätszuordnung zu einer Gruppe einher und eine inhaltliche Identitätszuordnung zu den «Guten».
-
Die Erkenntnisfunktion der Verschwörungsideologien
Durch ihre Erkenntnisfunktion vermitteln Verschwörungsideologien den Eindruck von Verständnis für komplexe historisch-politische Entwicklungen, die ansonsten nur schwer erklärbar sind.
Pfahl-Traughber schreibt dazu:
«Statt sich über die unterschiedlichen Ursachen eines besonderen Ereignisses wie ein Kriegsausbruch, eine Revolution oder eine Wirtschaftskrise komplexe Gedanken zu machen, ist es weitaus leichter, die Gründe für solche Entwicklungen in konspirativen Handlungsweisen zu sehen.»
Pfahl-Traughber illustriert das mit einem Zitat des früheren NSDAP-Ideologen Alfred Rosenberg zu den fiktionalen antisemitischen «Protokollen der Weisen von Zion»:
«Das Erscheinen der sogenannten ‘Protokolle der Weisen von Zion’ hat Millionen von Europäern die Schleier von den Augen gerissen. […] Millionen fanden in ihnen plötzlich die Deutung vieler sonst unerklärlicher Erscheinungen der Gegenwart, die in ihren wichtigsten Anzeichen plötzlich nicht mehr als Zufälligkeiten wirkten, sondern als Folgen einer früher geheimen, nunmehr aufgedeckten Zusammenarbeit der Führer scheinbar sich erbittert bekämpfender Klassen, Parteien, Völker» (Rosenberg, Die Protokolle, S. 5, S. 7).
-
Manipulationsfunktion gegenüber der Öffentlichkeit
Verschwörungsideologien können ein zentrales Feindbild liefern, worauf sich alle als negativ geltenden Vorkommnisse im Sinne einer Schuldzuweisung übertragen lassen. Machthaber können dadurch von eigenem Versagen ablenken. Alle Probleme können einem Sündenbock in die Schuhe geschoben werden.
Armin Pfahl-Traughber illustriert diese Manipulationsfunktion mit einem Zitat von Adolf Hitler aus «Mein Kampf»:
«Es gehört zur Genialität eines grossen Führers, selbst auseinanderliegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die Erkenntnis verschiedener Feinde bei schlichten und unsicheren Charakteren nur zu leicht zum Anfang des Zweifels am eigenen Recht führt. […] Dabei muss eine Vielzahl von innerlich verschiedenen Gegnern immer zusammengefasst werden, so dass in der Einsicht der Masse der eigenen Anhänger der Kampf nur gegen einen Feind allein geführt wird» (Hitler, Mein Kampf, S. 129).
-
Die Legitimationsfunktion der Verschwörungsideologien
Verschwörungsideologien dienen auch zur Rechtfertigung von Herrschafts-, Unterdrückungs- oder Vernichtungsmassnahmen. Behauptungen von einer Verschwörung «böser Mächte» liefern dabei die ideologische Begründung zum politischen Vorgehen gegen deren Repräsentanten oder Sympathisanten.
Armin Pfahl-Traughber illustriert dies mit einem Zitat aus der Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 30. Januar 1939:
«Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und ausserhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa» (Hitler, Reichstagsrede, S. 1058).
Hitler unterstellt mit der Formulierung «internationales Finanzjudentum» eine «jüdische Verschwörung». Er verbindet gleichzeitig mit dieser Aussage den Beginn eines Krieges mit der Ankündigung der für diesen Fall vorgesehenen «Vernichtung».
Die beiden ersten der aufgeführten Hauptfunktionen von Verschwörungstheorien lassen sich stärker bei den einfachen Anhängern von Verschwörungsideologien feststellen, die letzten beiden dagegen eher bei den wichtigsten Protagonisten.
Quelle:
Funktionen von Verschwörungsideologien, von Armin Pfahl-Traughber, in: Handbuch der Verschwörungstheorien, Helmut Reinalter (Hg.), Salier Verlag Leipzig 2018
Anmerkungen:
☛ Da Verschwörungsideologien für Individuen und Gruppen Funktionen erfüllen, können sie nicht so einfach aufgegeben werden. Es zeigt sich vielmehr, dass Verschwörungsgläubige Individuen und Gruppen Gegenstrategien entwickeln, wenn sie mit Kritik konfrontiert werden. Beispielsweise werden kritische Argumente, auch wenn sie fundiert sind, als Teil der Verschwörung gesehen und damit abgewehrt. Durch solche Immunisierungsstrategien (Immunisierung gegen Kritik) wird die Kritik ins eigene Weltbild eingebunden. Dieses Vorgehen ermöglicht es, auch bei sehr plausiblen Gegenargumenten an der eigenen Position festzuhalten.
☛ Armin Pfahl-Traughber illustriert die Funktionen der Verschwörungsideologien mit historischen Beispielen. Es fällt nicht schwer, aktuelle Beispiele zu finden:
Zur Manipulationsfunktion der Verschwörungstheorien liefert Ungarns Premier Viktor Orban ein gutes Beispiel. Er hat über Jahre den jüdischen Investor und Demokratieförderer George Soros zum Feindbild aufgebaut. Ihm schiebt er als Sündenbock einen ganzen Strauss von Problemen in die Schuhe. Siehe dazu:
Orban Viktor – Verschwörungstheorien als Regierungspolitik.
Die Legitimationsfunktion von Verschwörungsideologien zeigte sich in der näheren Vergangenheit in einer ganzen Reihe von Attentaten (z. B. Halle, Hanau, Christchurch, Utoya). Wer sich hochgradig durch «böse Mächte» bedroht fühlt, kann daraus die Legitimation für Gewalt ziehen und sich die eigene Gewaltanwendung als «Selbstverteidigung» zurechtbiegen.
Siehe dazu:
Die Terrortat von Hanau und die Welt der Verschwörungstheorien