In einem Interview mit der Zeitung «Vaterland» beschreibt der Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner von der Universität St. Gallen eine Wissenskrise.
Verschwörungstheorien, Wissenschaftsfeindlichkeit und das Ende der Vernunft – solche aktuellen Entwicklungen sind für ihn «keine Kleinigkeit» – und gefährlich für die Demokratie.
Was geschieht mit der Gesellschaft, wenn Meinungen wichtiger werden als Fakten und der Wissenschaft nicht mehr geglaubt wird?
Beschorner sagt dazu:
«Das sind in der Tat bedenkliche Entwicklungen. Es handelt sich nicht um nur um eine moralische Krise im engeren Sinne. Durch die Coronapandemie ist noch etwas
anderes sichtbarer geworden. Ich bezeichne das als epistemische Krise, also eine Wissenskrise der Gesellschaft.»
Und der Wirtschaftsethiker präzisiert:
«Wir können uns immer weniger auf gemeinsame Fakten einigen. Aus bestimmten Ecken werden wissenschaftliche Belege mehr und mehr hinterfragt, Fakten durch eigene Erzählungen ersetzt. Das ist nicht selten eher Glauben statt Wissen.»
Beispiele dafür sieht er in einer zunehmenden Skepsis gegenüber Expertinnen und Experten und einer latenten Wissenschaftsfeindlichkeit.
Thomas Beschorner erklärt dazu:
«Wenn seriöse wissenschaftliche Befunde nicht mehr in das eigene Welt- und Selbstbild passen, dann glauben es gewisse Menschen reflexartig einfach nicht. Man hinterfragt sich nicht selbst, sondern nimmt die Haltung an: Die anderen müssen falschliegen. Die lügen. Die sind gleichgeschaltet. Die sind von der Pharmaindustrie gesponsert. In der Diskussion zur Coronapandemie findet man so ziemlich alle denkbaren Verschwörungserzählungen, die man sich vorstellen kann – manche kann man sich nicht einmal vorstellen.»
Menschen greifen zu solchen Erzählungen, um kognitiv mit den Widersprüchen zwischen dem eigenen Bild und dem, was die seriöse Wissenschaft präsentiert, klarzukommen und in der eigenen Position verharren zu können. Das sei in gewisser Weise bequem, sagt Beschorner. Die eigene Haltung wird dadurch so starr, dass man gar nicht mehr anders kann:
«Ganz nach dem Motto: Ich bin okay, aber alle anderen nicht.»
Weshalb die Wissenskrise die Demokratie gefährdet
Thomas Beschorner bejaht die Frage, ob wir in einer gröberen gesellschaftlichen Krise stecken:
«Was wir beobachten, ist besorgniserregend. Historisch gesehen gehören ein gemeinsamer Wissensbestand – also dass wir uns auf bestimmte Fakten einigen können –, und unsere demokratischen Institutionen zusammen. Ohne eine gemeinsame Wissensbasis ist unsere Demokratie gefährdet. Historisch kann man das gut rekonstruieren: Die Zeit der Aufklärung, als demokratische Institutionen geschaffen wurden, ging mit der Schaffung einer ganzen Reihe anderer Institutionen einher – allen voran die moderne Wissenschaft und das moderne Bildungswesen.»
Die Politik sei auch heute noch von wissenschaftlich fundierten Informationen abhängig, damit sie vernünftige Entscheidungen treffen kann. Das heisse nicht, dass Politikerinnen und Politiker eins zu eins das machen müssen, was ihnen die Wissenschaft vorgibt.
Ganz im Gegenteil: «Die Wissenschaft sollte nicht vorgeben, was zu tun ist, sondern analysieren und aufzeigen, wie sich etwas verhält.»
Wenn nach Handlungsoptionen gefragt werde, könne die Wissenschaft dann ein Set von Optionen mit allen Vor- und Nachteilen präsentieren. Das sei die Grundlage für Demokratie. Die eigentlichen Entscheidungen, was umzusetzen sei, sollte dagegen in den Händen der Politik bleiben.
Wohin führt diese Wissenskrise? Thomas Beschorner sagt, er wolle gewiss nicht den Teufel an die Wand malen. Doch die aktuellen Entwicklungen seien keine Kleinigkeit. Sie könnten zu massiven politischen und gesellschaftlichen Problemen führen. Das betreffe das Politische, aber ebenso ganz konkrete Probleme in ganz alltäglichen Belangen.
Jeder kenne das inzwischen: Sowohl m Freundes- und Bekanntenkreis, als auch im Kontakt mit Unbekannten müsse man sich erst einmal «abchecken», welche Position das Gegenüber hat, beispielsweise beim Thema Impfen.
Dieses vorsichtige Abtasten sei im zwischenmenschlichen Bereich neu und habe in einer solchen Dimension seines Erachtens noch nie stattgefunden, stellt Beschorner fest.
Quelle:
Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner
Bedenkliche Tendenzen wegen Corona: «Wir sind in einer Wissenskrise» (Vaterland)
Ergänzungen zur «Wissenskrise»:
☛ Man kann diese Wissenskrise in ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Demokratie kaum überschätzen. Thomas Beschorner bringt das im Interview präzis auf den Punkt. Siehe dazu auch:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
☛ «Wenn seriöse wissenschaftliche Befunde nicht mehr in das eigene Welt- und Selbstbild passen, dann glauben es gewisse Menschen reflexartig einfach nicht.» Dieses Phänomen verstärkt sich bei ausgeprägter Polarisierung. Geht diese Entwicklung ins Extrem weiter, entsteht ein Tribalismus (Stammesdenken). Als wahr gilt dann nur, was zum Weltbild des eigenen Stammes passt, unabhängig der Faktenlage. Siehe dazu: