In der Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien ist auch ihr Verhältnis zur Wissenschaft ein wichtiges Thema. In dieser Hinsicht gibt es grosse Unterschiede, aber oft läuft es auf eine ausgeprägte Wissenschaftsverweigerung oder gar Wissenschaftsverleugnung hinaus.
Das ist aber nicht immer so. Manchmal sind einfach die Vorstellungen von Wissenschaft nicht adäquat. So tauchen immer wieder Vorstellungen auf, wonach Wissenschaft so ähnlich funktionieren soll wie Demokratie. Das lässt sich zum Beispiel gut beobachten bei der Leugnung der Klimaerwärmung und bei Corona-Verschwörungstheorien. Da kommt es dann beispielsweise zu Forderungen, wonach die etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich mit den Leitfiguren der «Querdenker»-Szene wie Bhakdi, Wodarg und Schiffmann in einer Podiumsdiskussion streiten sollen. Das wäre allerdings ein direkter Weg in die False Balance-Problematik.
Hier gibt es einen Text dazu, weshalb das auch darüber hinaus keine gute Idee ist:
Warum keine Podiumsdiskussionen mit Bhakdi, Wodarg & Co.?
Wissenschaft funktioniert nicht über Podiumsdiskussionen, bei denen das Publikum zuschaut und dann entscheidet, welche Meinung es glauben will. Sie funktioniert auch nicht im Sinne von Abstimmungen und daraus folgenden Mehrheiten.
Starke Evidenz schlägt schwache Evidenz
In der Wissenschaft hat nicht jede Stimme gleich viel Gewicht wie es in der Demokratie sein soll. Entscheidend ist vielmehr der Grundsatz: starke Evidenz, schlägt schwäche Evidenz. Je überzeugender die Belege und Beweise ( = Evidenz), desto mehr Gewicht bekommt eine Aussage.
Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim sagt dazu im Interview mit der «Zeit»:
«Wissenschaft ist keine Demokratie. Das einzige, was zählt, ist die Stärke der Evidenz……..Es ist frustrierend, wie Wissenschaft zurzeit manchmal zur Kontroverse gemacht wird, das entspricht nicht der Realität.»
Der Philosoph Thomas Zoglauer schreibt dazu:
«Manche Streitfragen werden in der Wissenschaft tatsächlich durch Konsens entschieden, allerdings nicht durch einen unqualifizierten Konsens, als Ergebnis einer Abstimmung oder als blosse Mehrheitsmeinung, sondern nach sorgfältigem Abwägen von Argumenten und der Würdigung empirischer Daten…..
Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen methodisch begründet werden und können nicht einfach durch Abstimmungen und Mehrheitsbeschluss für wahr erklärt werden. Die Entscheidung, ob eine Hypothese zutrifft oder nicht, ist nicht immer eine einfache Ja-Nein-Entscheidung, sie ist aufgrund der prinzipiellen Falsifizierbarkeit von Hypothesen auch nie endgültig und unrevidierbar. Ob z. B. die Darwinsche Evolutionstheorie oder die Intelligent-Design-Theorie Naturphänomene besser erklären kann, ist keine Frage religiösen Glaubens, sondern sollte das Ergebnis reiflicher Überlegung und Würdigung empirischer Daten sein. Die Vorstellung, Wissenschaft könne genauso funktionieren wie ein demokratisches Gemeinwesen, verkennt daher das Wesen von Wissenschaft.»
Doch wie steht es mit der Beziehung zwischen Wissenschaft und Demokratie?
Wissenschaft und Demokratie ergänzen sich
Wissenschaft und Demokratie beeinflussen sich gegenseitig. Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich, schreibt dazu:
«Daraus folgt jedoch keineswegs, dass Wissenschaft und Demokratie sich indifferent zueinander verhalten. Der Aufstieg beider seit dem 18. Jahrhundert weist Interdependenzen auf, die im 20. Jahrhundert, im „Zeitalter der Extreme“, ihren bisherigen Höhepunkt gefunden haben. Angesichts von Faschismus und Stalinismus ging es um die Verteidigung der Autonomie der Wissenschaften gegen ideologische Vereinnahmung. Nur in einer Demokratie, so das Argument, könne die Wissenschaft ihrer Aufgabe, der allgemeinen Erkenntnis, der Gesellschaft und am besten der ganzen Menschheit zu dienen, nachkommen. Umgekehrt sind die Wissenschaften für die Demokratie unverzichtbar, weil sie in eigenständiges, kritisches Denken einüben, das vor Mystifizierungen und Simplifizierungen schützt und verantwortungsvolle Staatsbürger hervorbringt.»
Quellen:
Mai Thi Nguyen-Kim: „Wissenschaft ist keine Demokratie“ (Zeit online, Abo)
Michael Hagner: Wie sich Wissenschaft und Demokratie ergänzen (Forschung und Lehre)
Thomas Zoglauer, Wahrheitsrelativismus, Wissenschaftsskeptizismus und die politischen Folgen, in: Peter Klimczak / Thomas Zoglauer (Hrsg.), Wahrheit und Fake im postfaktisch-digitalen Zeitalter, Springer Vieweg Verlag 2021
Ausserdem:
Demokratie braucht kompetente Wissenschaftskommunikation. Siehe dazu auch:
Mai Thi Nguyen-Kim zum Thema Wissenschaftskommunikation
Lehren für die Wissenschaftskommunikation zum Umgang mit Verschwörungstheorien