Die österreichische Zeitung «Der Standard» hat ein Interview geführt mit der Psychoanalytikerin Jeanne Wolff-Bernstein aus Wien. Das zentrale Thema des Gesprächs waren die seelischen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Dabei gibt es auch um den Zusammenhang zwischen «Nichtwissen» und Verschwörungstheorien.
«Nichtwissen» ist schwer auszuhalten
Jeanne Wolff-Bernstein sagt dazu:
«Wir halten es wahnsinnig schwer aus, etwas nicht zu wissen. Deshalb ist der Mensch so anfällig für Illusionen, Verschwörungstheorien und einseitige Prophezeiungen. Herbert Kickl ist ein gutes Beispiel, er bezeichnet das Virus als Hokuspokus und hält die Impfung für entbehrlich: Er setzt dort an, wo es Zweifel gibt. Wenn wir uns ungeschützt fühlen, lassen wir uns leicht dazu verführen, alles in eine schwarz-weiß denkende Welt einzuordnen. Ein „Nichtwissen“ als nicht schamhaft zu erleben, sondern als Bereicherung, braucht viel Reife, innere Sicherheit und erfordert wenig inneren Machtanspruch. Die Bereitschaft, etwas zu lernen, wird aber allgemein weniger gefördert. Die Technologie arbeitet immer wieder darauf hin, unsere narzisstischen Wünsche so schnell wie möglich zu befriedigen. Die junge Generation weiß nicht mehr, wie es ist, länger über etwas nachzudenken, weil sie sofort zum iPhone greift und nachsieht. Aus diesem starken Wunsch nach vollkommener Sicherheit heraus können viele Menschen auch schwer akzeptieren, dass ein Wissenschafter seine Meinung ändern kann, darf und soll.»
Jeanne Wolff-Bernstein sagt in dem Gespräch auch, dass in Ländern wie beispielsweise in Skandinavien Fakten und Wissenschaft generell mehr Glaube geschenkt wird und Maßnahmen gegen Corona aus Solidarität heraus eher eingehalten werden als in Österreich.
Die Tendenz zum Misstrauen, wenn etwas nicht perfekt funktioniert, und dann ganz das Vertrauen zu verlieren, sei in Österreich viel größer als etwa in liberaleren Ländern wie Skandinavien oder Neuseeland. Es fehle auch an Solidarität unter den Bürgern:
«Wer sich allein und zurückgelassen fühlte, schloss sich selten als Gruppe zusammen. Jeder ging seinen eigenen Weg und zog sich in seine Ecke zurück. In den USA ist man in Krisen wie etwa Naturkatastrophen, aber auch in der Pandemie, viel schneller dran, sich zu verbünden, weil es weniger soziale Sicherheit gibt und man sich kaum auf den Staat verlassen kann.»
Quelle:
Psychoanalytikerin: „Die Tendenz zum Misstrauen ist groß“ (Der Standard)
Ausserdem:
☛ Dem «Nichtwissen» zu begegnen ist auch die Aufgabe der Wissenschaftskommunikation. Dabei kommt es vor allem auch darauf an, verständlich zu machen, wie Wissenschaft funktioniert und wie nicht.
☛ «Nichtwissen» ist aber auch ein Faktor bei der Entstehung von Misstrauen, das die Psychoanalytikerin im Interview anspricht. Hier ist es wichtig zu unterscheiden zwischen einem gesunden Misstrauen und einem pauschalen, toxischen Misstrauen, wie es oft sehr deutlich im Kontext von Verschwörungstheorien zu beobachten ist. Sie dazu:
Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen
☛ Das Schwarz-Weiss-Denken als Reaktion auf «Nichtwissen» zeigt sich im Rahmen von Verschwörungstheorien häufig als Feindbild-Konstruktion.
☛ Die angesprochene Wissenschaftsskepsis kann sich im Umfeld von Verschwörungstheorien zu Wissenschaftsverweigerung oder Wissenschaftsleugnung steigern. Siehe dazu hier:
Wissenschaftsverweigerung / Wissenschaftsleugnung