Kurz vor der Präsidentenwahl in Brasilien sind alle Hemmungen gefallen. Amtsinhabers Jair Bolsonaro und sein Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva feuerten mit den skurrilsten Anschuldigungen gegen den jeweils anderen.
Das Wahlkampf-Team des rechten Amtsinhabers Jair Bolsonaro verglich dessen linken Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva mit dem Teufel und rückte ihn in die Nähe eines mächtigen Verbrechersyndikats. Lulas Wahlkämpfer schlugen zurück und stellten den Staatschef als Kannibalen und Pädophilen dar.
Lula hatte den ersten Durchgang der Präsidentenwahl in dem größten Land in Lateinamerika am 2. Oktober mit überraschend knappem Vorsprung vor Bolsonaro für sich entschieden.
Für die Stichwahl ist das Rennen völlig offen und beide Kandidaten kämpfen derzeit mit fast allen Mitteln um jede Stimme.
Der Wahlkampf spaltet Brasilien
Bolsonaro hat schon während seiner Amtszeit stark auf Lügen und Verschwörungstheorien gesetzt. Lulas Wahlkampf-Team reagierte auf Bolsonaros Taktik inzwischen mit einer ähnlichen Strategie. Das sagt Professor Carlos Melo von der Insper-Hochschule in São Paulo. „Es ist nur natürlich, dass in solch einem Krieg am Ende alle mitmachen.“ Die Stimmung in Brasilien sei aufgeheizt, die Bevölkerung gespalten. Die Risse trennen Familien, Freundesgruppen und Nachbarschaften.
Fake News aus sozialen Medien dominieren den Wahlkampf
In Brasilien sind soziale Medien im Wahlkampf sehr wichtig, weil viele Menschen ihre Informationen über Politik ausschließlich dort beziehen. Problematisch ist dabei vor allem, dass es In den sozialen Netzwerken nicht um politische Ziele oder Regierungspläne der Kandidaten geht, sondern um Moral, Glaube und Sex. Das liegt auch an den Algorithmen der sozialen Plattformen. Siehe dazu: Algorithmen fördern Polarisierung und damit Verschwörungstheorien
Die Leiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien, Anja Czymmeck, sagt:
„Die Reichweite von Fake News ist größer ist als die von realen Informationen und Lügen scheinen mehr Interaktionen zu generieren als Fakten.“
Die Themen Sex, Gewalt und Gender zählen zu den Klassikern im Waffenarsenal von Bolonaros Internet-Trollen. Durch die immer bizarreren Vorwürfe in den sozialen Medien sah sich Lula sogar dazu genötigt, öffentlich klarzustellen, er sei keinen Pakt mit dem Teufel eingegangen.
Bolsonaro hingegen schwadronierte in einem Interview von der angeblichen Anziehung zwischen ihm und venezolanischen Teenagern, die er für Prostituierte hielt. Das brachte ihm einen Sturm der Entrüstung ein. Die Lula-Kampagne verbreitete das Video eifrig im Internet. Bolsonaro musste schlussendlich beteuern, dass er kein Pädophiler sei.
Ex-Präsident Lula hingegen präsentiert sich als Retter der Demokratie und überlässt den schmutzigen Teil der Wahlkampagne seinem Mann fürs Grobe, dem Abgeordneten Andre Janones. Der hat auf Instagram zwei Millionen Follower und streut mit seinem Team immer wieder zum Teil Jahre alte Videos, die Bolsonaro in ein schlechtes Licht rücken.
Ein Video soll Bolsonaro bei den Freimaurern zeigen, in einem Ausschnitt aus einem Interview mit der „New York Times“ er, dass er beinahe einen Indigenen gegessen hätte.
Bolsonaros Info-Krieg in den sozialen Netzwerken wird von seinem Sohn Carlos orchestriert. Er stützt sich auf die Anhänger des Präsidenten und auf Bots. Wissenschaftler stellten fest, dass die Hälfte der Retweets zur Unterstützung Bolsonaros am ersten offiziellen Wahlkampftag im August von automatisierter Software stammten. Bei Lula lag der Anteil etwa bei 25 Prozent.
Besorgniserregende Beeinflussung durch soziale Medien
Fachleute halten das Mass an Beeinflussung durch soziale Medien in Brasilien für besorgniserregend.
„Damit soll die öffentliche Meinung getäuscht werden, um bestimmte Personen zu diskreditieren oder gut da stehen zu lassen“, erklärt Karina Santos vom Institut für Technik und Gesellschaft in Rio de Janeiros. Das könne sich direkt auf die Wahlentscheidung auswirken, was besorgniserregend sei. Fachleute befürchten, Bolsonaro könnte seine digitale Armee auch einsetzen, um das Resultat bei einer knappen Niederlage in Frage zu stellen.
Das oberstes Wahlgericht in Brasilien will endlich gegen die Schlammschlacht einschreiten, ist aber spät dran. Den wildesten Auswüchsen im Internet soll ein Riegel vorgeschoben werden. Das Oberste Wahlgericht kann sozialen Netzwerken und Wahlkampfteams vorschreiben, „Fake News“ innerhalb von zwei Stunden zu entfernen. Anhänger von Bolsonaro halten das für einen Angriff auf die Meinungsfreiheit und protestierten zuletzt mit zugeklebten Mündern gegen die angebliche Zensur. Aber selbst wenn einige Falschinformationen wirklich gelöscht werden, scheint Flut aus Hass, Verleumdung und Verschwörungstheorien im Netz nicht abzuebben.
Quelle:
Satan, Pädophilie und Kannibalismus: Brasiliens schmutziger Wahlkampf (vol.at)
Anmerkung zum Wahlkampf in Brasilien (und anderswo):
Die politische Entwicklung in Brasilien ist neben den USA ein weiteres Beispiel für den zerstörerischen Einfluss von Fake News und Verschwörungstheorien auf demokratische Gesellschaften. Sie fördern Polarisierung und Tribalismus (Stammesdenken).
Siehe dazu: Soziale Medien als Verstärker von Falschinformation
Demokratische Gesellschaften müssen sich dringend Gedanken machen, wie sich diese zerstörerische Wirkung sozialer Medien auf die politische Kultur eindämmen lässt. Das geht Politikerinnen und Politiker an, aber auch jeden Bürger und jede Bürgerin. Einen entscheidenden Punkt erwähnt im Beitrag Anja Czymmeck:
„Die Reichweite von Fake News ist größer ist als die von realen Informationen und Lügen scheinen mehr Interaktionen zu generieren als Fakten.“
Dafür braucht es Lösungen, nicht nur für Brasilien.