Dr. Jens Soentgen leitet das Wissenschaftszentrums Umwelt an der Universität Augsburg. Er studierte Chemie und promovierte in Philosophie. Der Forscher sieht angesichts der Verschwörungstheorien zum Corona-Virus massive Gefahren für Wissenschaft, Gesellschaft und Demokratie. Er warnt vor einem Rückfall in ein vormodernes Zeitalter und betont dabei gleichzeitig die Bedeutung von Kritik. Die «Augsburger Zeitung» veröffentlichte ein sehr informatives Interview mit Soentgen. Hier daraus die wichtigsten Kernaussagenzusammengefasst:
☛ Der Forscher sieht Ähnlichkeiten in der öffentlichen Debatte zum Klimawandel und der Corona-Pandemie. In beiden Bereichen ist die Wissenschaft ins Visier geraten und muss reagieren.
☛ Man muss unterscheiden zwischen Kritikern, die einzelne Maßnahmen gegen die Pandemie in den Fokus nehmen. Sie hinterfragen zum Beispiel deren Verhältnismäßigkeit. Das sind jedoch nicht schon Verschwörungstheoretiker. Daneben gibt es aber Extrempositionen, die wissenschaftliche Erkenntnisse pauschal in Frage stellen und Wissenschaftler verleumden.
Was muss die Wissenschaft besser machen?
☛ Es hilft nicht, wenn wir Menschen mit solchen Extrempositionen pauschal als vormoderne Aluhutträger abqualifizieren. Soentgen hält es für sinnvoller zu fragen, was die Wissenschaft besser machen muss.
☛ Unsinnig ist, wenn man der Wissenschaft pauschal unterstellt, hier würden sich Leute verschwören, um mit Hilfe korrupter Politiker, die die Bürgerrechte einschränken, eine Diktatur zu errichten. Mit solchen Leuten kann man nicht ins Gespräch kommen. Ihre Ansichten sind nicht diskussionswürdig.
☛ Wir leben jedoch in einer demokratischen Gesellschaft, in der die Bürger den Mund aufmachen dürfen und es auch müssen, auch dann, wenn sie nicht über Fachwissen verfügen. Dafür müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich rüsten. Soentgen ist sich nicht sicher, ob sie dafür schon gut aufgestellt sind.
☛ Was fehlt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, um sich mit dieser Kritik auseinanderzusetzen? Soentgen erklärt, dass Wissenschaft sehr stark in Spezialisierungen abgedriftet ist:
«Virologen kennen sich unwahrscheinlich gut aus in den Mechanismen der Genetik und in der Interaktion von Virus und Zelle und oft auch in der Epidemiologie. Aber wenige beschäftigen sich mit derselben Intensität mit der Frage, welche sozialen Nebenwirkungen die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus auch haben. Im Klimadiskurs können die Wissenschaftler wunderbar Modelle rechnen und wissen, wenn wir global CO2 senken, dann geht es auch mit der Temperatur herunter. Aber wer hat auch die allgemeine Sicht auf die weiteren sozialen und ökologischen Konsequenzen? Dieser Blick aufs Ganze wird in der Wissenschaft nicht mehr kultiviert. Dafür braucht es Institutionen und auch Persönlichkeiten, die über den Tellerrand blicken, die Weitblick und Urteilsvermögen haben. Nur wenn wir uns interdisziplinär aufstellen und wieder lernen, aufs Ganze zu schauen, können wir in einen Dialog mit den Kritikern kommen.»
Verschwörungstheorien funktionieren wie Kriminalromane
☛ Es gibt bestimmte Bauelemente in Verschwörungstheorien, man auch schön in Romanen wiederfindet, wie zum Beispiel im Thriller „Illuminati“ von Dan Brown. Die Verschwörungstheorie funktioniert eigentlich wie ein Kriminalroman:
«Man liest Indizien und ordnet sie dann in einen Zusammenhang ein, oft in eine Weltverschwörung. Und es ist immer fünf vor zwölf, man hat also nur noch ganz wenig Zeit, um den Leuten das Handwerk zu legen.»
Verschwörungstheoretikers gehen dabei von einer ganz kleinen Gruppe von Menschen aus, denen es um Geld und um Macht geht, und die eine unglaubliche Kontrolle haben, um die Geschicke zu lenken.
☛ Gegenwärtig ist festzustellen, dass Wissenschaftler als solch ein Zirkel angesehen werden. Begünstigt wird diese Sicht bestimmt durch die starke Ökonomisierung der Wissenschaften in den vergangenen 30 Jahren.
Verschwörungstheorien bieten eine Geschichte
Verschwörungstheorien sind auch ein Versuch, unserer durchtechnisierten, an Fakten und Zahlen orientierten Welt ein erzählendes Moment zu geben:
«Es gibt ja eine spürbare Entwurzelung dieser High-Tech-Wissenschaft, durch die den Menschen abhanden gekommen ist, worum es eigentlich geht. Und dann kommt jemand und erzählt einfach.»
Dafür sind wir als soziale Wesen empfänglich:
«Wenn wir in einen Raum kommen, in dem nur ein Stuhl steht, achten wir nicht darauf. Wenn aber in dem Raum jemand sitzt, ist unsere Aufmerksamkeit sofort von diesem einen Jemand gefesselt, weil es nämlich ein Subjekt ist. Wir suchen überall nach Menschen, nach dem Sozialen. In diesen abstrus klingenden Theorien wird es uns angeboten. Jeder von uns liest das ja auch gern, wie all die Bestseller beweisen.»
☛ In den verschwörungsgläubigen Geschichten wird alles aus Handlungen erklärt, nicht aus Korrelationen und Messungen: «Wenige Leute machen etwas, diese wenigen Leute haben noch weniger Motive, nämlich Macht und Geld. Schwierige Zusammenhänge werden durch eine Erzählung ersetzt, die sagt, wer schuld ist. Das versteht man sofort, vor allem aber nimmt es einen emotional mit, empört einen und man will dem etwas entgegensetzen.»
Dadurch wird man vom Ermahnten zum Mahner, Warner und ‚Aufklärer’ und übernimmt so eine neue soziale Rolle. Diese Emotionalisierung ist es, die mit einer Verschwörungserzählung transportiert wird. Das ist etwas anderes als bei einer wissenschaftlichen Theorie.
☛ Verschwörungstheorien sind ein Kommunikationsabbruch und haben deshalb Folgen für Demokratie und Gesellschaft. Leute, die an Verschwörungstheorien, erreichen wir nicht mehr. Deswegen muss man früher anfangen. Dabei kann die Wissenschaft eine wichtige Rolle übernehmen. Diese Kommunikation darf jedoch keinesfalls belehrend sein, sondern interaktiv. Aus der Kritik an Wissenschaft kann man ja auch lernen.
Wissenschaft braucht Kritik, aber nicht pauschale Verleumdung
☛ Wissenschaft lebt nämlich von Kritik. Kritik treibt zu neuen Erkenntnissen an. Kritik an der Wissenschaft ist also notwendig. Wird sie jedoch pauschal verleumdet, ist das eine Gefahr für die Wissenschaft und die Gesellschaft.
☛ Die Wissenschaftskommunikation braucht neue Initiativen und mehr Forscherinnen und Forscher, die Natur- und Geisteswissenschaften vereinen, die nicht nur immer weiter zerlegen, sondern auch verbinden können, die einen Überblick haben und diesen für andere schaffen können. Heute sind die Gräben zwischen Geisteswissenschaftlern und Naturwissenschaftlern teilweise so tief, dass keine Kommunikation mehr möglich ist.
Quelle:
Augsburger Forscher: Verschwörungstheorien sind wie Krimis (Augsburger Allgemeine)
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