Zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Verschwörungstheorien hat der Weser-Kurier einen interessanten Gastkommentar veröffentlicht von Andreas Klee. Er ist Direktor des Zentrums für Arbeit und Politik an der Universität Bremen. Als Professor für Politikwissenschaft beschäftigt er sich mit politischer Beteiligung und Demokratiebildung.
Man dürfe Meinung nicht gegen wissenschaftliches Wissen ausspielen, schreibt Klee. Denn dieses naive Wahrheits- und Wissenschaftsverständnis sei der Wegbereiter von Verschwörungstheorien:
Zitat:
«Niemand sollte den Anspruch erheben, die Wahrheit zu kennen. Alle Aussagen über Wirklichkeit sind mühsame Annäherungen. Als vorläufige Erkenntnisse müssen sie erprobt und durch Argumente gestützt oder verworfen werden. Wahrheit ist ein fortlaufender, sozialer Prozess. Wer sich diesem diskursiven Entstehen von Wissen verschließt, handelt unredlich. Verschwörungstheorien tun dies. Sie verhindern die Weiterentwicklung von Wissen und unterbinden Diskussionen.»
Daraus erwachsen laut Klee verschiedenste Gefahren. Die dramatischste sei, dass extreme, demokratiefeindliche Positionen durch sie legitimiert werden.
Demokratie braucht Gegenpositionen
Aber in einer Demokratie sei es im Sinne der Meinungsfreiheit auch wünschenswert, Gegenpositionen einnehmen zu können:
«Nicht alle Erklärungen außerhalb des Mainstreams sind Ansammlungen von Unwahrheiten. Der Verschwörungsverdacht, als kritische Haltung gegenüber Autoritäten, kann konstruktives Potential entfalten. So zogen und ziehen zum Beispiel soziale Bewegungen bis hin zu „Fridays for Future“ aus diesem Misstrauen ihre Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung. Im Gegensatz zur Verschwörung ist hier allerdings die gestaltende Auseinandersetzung mit Demokratie und nicht deren Abschaffung das Ziel.»
In den letzten Wochen habe sich gezeigt, was geschieht, wenn wir die Räume des politischen Austausches vernachlässigen. In der Unsicherheit der Krise seien wissenschaftliche Wasserstandsmeldungen vorschnell zu Wahrheiten geworden. Aber je mehr über das Virus herausgefunden wurde, desto häufiger mussten „alte Wahrheiten“ durch „neue Wahrheiten“ ersetzt werden. Es wurden immer neue Fragen aufgeworfen, statt Antworten gegeben:
«Wenn in der Schlange vor der Bäckerei nicht mehr vorläufiges Argumentieren und Gegenargumentieren möglich ist, sondern nur noch ein Schlagabtausch über Fallzahlen, Inkubationszeiten und R-Werte, setzen wir unsere demokratische Kultur aufs Spiel.»
Die Öffentlichkeit müsse der Ort bleiben, um Erfahrungen, Sorgen und Hoffnungen zur Sprache zu bringen, schreibt Klee:
«Nur so können wir die konstruktiven Kräfte des Mitredens, Mitmachens und Einmischens bewahren.»
Meinung nicht gegen wissenschaftliches Wissen ausspielen
Ein naives Wahrheits- und Wissenschaftsverständnis, das Meinung gegen wissenschaftliches Wissen ausspielt, treibe Sinnsuchende direkt in die Arme von Verschwörungstheorien.
Quelle:
Wahrheit ist ein fortlaufender, sozialer Prozess (Weser-Kurier)
Ergänzendes zu Wahrheit und Misstrauen
Zum oben aufgeführten Stichwort «Misstrauen» könnte noch folgendes ergänzt werden: Wichtig ist die Unterscheidung zwischen einem gesunden Misstrauen, das wichtig ist für die Demokratie, und einem toxischen Misstrauen, das Verschwörungstheorien zugrunde liegt. Siehe dazu:
Über toxische Zweifel und toxisches Misstrauen
Zum Stichwort «Wahrheit»:
Verschwörungstheorien kürzen den mühsamen Annäherungsprozess an die Wahrheit ab, weil sie vorgeben, die Wahrheit zu kennen, schon bevor der Suchvorgang nach ihre begonnen hat. Mehr zu diesem Thema hier:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!